Brief 87. Rica an * * * *.

Man sagt, daß der Mensch ein geselliges Tier sei. Von dem Gesichtspunkt aus betrachtet ist ein Franzose mehr Mensch als irgend ein anderer: er ist der Mensch par excellence, denn er scheint einzig für die Geselligkeit geschaffen.

Aber ich habe unter den Franzosen Leute bemerkt, die nicht nur gesellig sind, sondern die allgemeine Geselligkeit selbst. Sie vervielfältigen sich nach allen Ecken und Enden, sie bevölkern im gleichen Augenblick die vier Viertel einer Stadt. Hundert Menschen dieser Art machen mehr Wirtschaft als zweitausend Durchschnittsbürger. Sie könnten für die Augen der Fremden ganz allein die Lücken verdecken, die Hunger und Pestilenz gerissen haben. Man fragt in der Philosophie, ob ein Körper gleichzeitig an mehreren Orten sein kann: sie sind ein Beweis für das, was die Philosophen in Frage ziehen.

Sie scheinen immer geschäftig, weil sie das hochwichtige Geschäft haben, jeden, der ihnen zu Gesicht kommt, zu fragen, woher er kommt und wohin er geht.

Man würde vergeblich ihnen die Einbildung auszutreiben versuchen, daß es zum guten Ton gehört, jedem einzelnen der Gesellschaft alltäglich einen Besuch zu machen, ungerechnet die Besuche im großen an den Orten, wo man sich trifft. Aber da diese letzteren viel zu einfach sind, so rechnen sie in ihrem Zeremonial nicht.

Sie nutzen die Türen mit den Schlägen der Türklopfer mehr ab, als es Wind und Wetter tun. Wollte man die Liste aller Portiers nachsehen, würde man seinen Spaß daran haben, wie ihr Name in der Orthographie dieser braven Schweizer mißhandelt wird. Ihr Leben geht auf in Beteiligung an Begräbnissen, Trauerbesuchen und Hochzeitsgratulationen. Hat der König einem seiner Untertanen eine Auszeichnung zuteil werden lassen, so kostet’s sie einen Wagen, um zu dem Beglückten zu fahren und ihm ihre Freude auszudrücken. Dann kehren sie so recht ermüdet nach Haus zurück, um sich auszuruhen und am andern Morgen ihre mühsamen Funktionen wieder aufzunehmen.

Einer von ihnen starb neulich an gänzlicher Erschöpfung und man setzte ihm folgende Grabschrift: »Hier ruht, der niemals ruhte. Er ist hinter 135 Begräbnissen hergewandelt. Er hat freudig Anteil genommen an der Geburt von 2680 Kindern. Die Pensionen, wegen deren er seine Freunde, und immer in verschiedenen Ausdrücken, beglückwünscht hat, belaufen sich auf 2 600 000 Livres. Der Weg, den er auf dem Pflaster von Paris zurückgelegt hat, beträgt 9600 Stadien, der auf dem Lande 36. Seine Unterhaltung war sehr unterhaltend: er hatte einen Vorrat von 365 Geschichten. Außerdem besaß er seit seiner frühesten Jugend 118 geistreiche Aussprüche, die den alten Schriftstellern entnommen waren, und die er bei besonders glänzenden Anlässen anwandte. Er starb endlich im 60. Jahre seines Lebens. Ich verstumme, o Wanderer, denn wie wollte ich damit fertig werden. Dir alles zu sagen, was er getan und was er gesehen hat?«

Brief 82. Rica an Ibben, Smyrna.

Obgleich die Franzosen viel sprechen, gibt es doch unter ihnen eine Art von schweigsamen Derwischen, die man Karthäuser nennt. Man sagt, daß sie sich beim Eintritt ins Kloster die Zunge abschneiden, und man möchte sehr wünschen, daß die anderen Derwische sich ebenso alles abschneiden möchten, was sie in ihrem Amte nicht weiter verwenden können und sollen.

Übrigens, was mir dabei einfällt: es gibt noch viel schweigsamere Leute als die Karthäuser, die ein ganz außergewöhnliches Talent besitzen. Das sind die Leute, die es verstehen zu reden, ohne etwas zu sagen, und die eine Unterhaltung zwei geschlagene Stunden beleben, ohne daß es möglich wäre, sie zu verstehen, sich ihre Gedanken zu eigenem Gebrauch anzueignen, noch ein Wort zu behalten von dem, was sie gesagt haben.

Diese Sorte Männer wird von den Frauen angebetet, aber doch noch nicht so sehr wie andere, die von der Natur die liebenswürdige Gabe empfangen haben, im rechten Augenblicke zu lächeln – das heißt also alle Augenblicke, und die die Anmut einer heiteren Zustimmung über alles breiten, was die Damen sagen.

Aber auf dem Gipfel der Geistreichigkeit sind sie erst, wenn sie bei allem etwas zu finden wissen und es verstehen, tausend kleine geistreiche Züge auch in den gewöhnlichsten Dingen zu entdecken.

Ich kenne noch andere, die sich auf die Kunst verstehen, leblose Dinge an der Unterhaltung teilnehmen zu lassen, also z. B. ihren gestickten Rock, ihre blonde Perücke, ihre Tabaksdose, ihren Spazierstock, ihre Handschuhe mitreden zu lassen. Es ist empfehlenswert, sich bereits von der Straße aus durch das Gerassel seines Wagens und des heftig aufgeschlagenen Türklopfers bemerklich zu machen: diese Einleitung bereitet auf den Rest der Rede würdig vor, und wenn der Eingang schön ist, macht er alle Dummheiten erträglich, die dann kommen, aber die dann glücklicherweise zu spät kommen.

Ich versichere Dir, daß diese Talentchen, von denen man bei uns nicht viel Aufhebens machen würde, hier denen, die so glücklich sind, sie zu besitzen, sehr zustatten kommen, und daß ein Mensch von gesundem Menschenverstand neben diesen Leuten kaum eine glänzende Rolle spielt.

Brief 36. Usbek an Rhedi, Venedig.

Der Kaffee ist sehr beliebt in Paris. Es gibt eine große Zahl öffentlicher Lokale, wo man ihn ausschänkt. In einigen dieser Häuser tauscht man die Tagesneuigkeiten aus, in andern spielt man Schach. Eins gibt es, wo man den Kaffee so zubereitet, daß er denen, die ihn trinken, Geist verleiht. Wenigstens gibt es keinen, der nicht beim Verlassen des Lokals viermal so viel zu haben meint, als er beim Betreten desselben besaß.

Aber was mich an diesen Schöngeistern stört, ist, daß sie sich ihrem Vaterlande nicht nützlicher machen und ihren Witz an kindische Dinge verschwenden. So fand ich beispielsweise, als ich nach Paris kam, sie über den kleinlichsten Gegenstand, den man sich denken kann, in erhitztem Streite. Es handelte sich um den Ruf und das Ansehen eines alten griechischen Dichters namens Homer, dessen Geburtsort man seit 2000 Jahren ebensowenig kennt wie sein Todesjahr. Beide Parteien geben zu, daß er ein ausgezeichneter Dichter sei, es handelte sich nur noch um das Mehr oder Weniger, das man ihm zuerkennen müßte. Ein jeder wollte ihn einschätzen, aber unter diesen Verteilern des Nachruhmes wogen die einen besser als die andern – das war der Streit. Er war ziemlich lebhaft, und die herzlich gemeinten Grobheiten und Spöttereien flogen derartig herüber und hinüber, daß die Art des Streites nicht minder meine Bewunderung erregte als der Streitgegenstand. Wenn nun, sagte ich mir im stillen, jemand unbesonnen genug wäre, vor einem dieser Verteidiger des griechischen Dichters den Ruf eines ehrenwerten Mitbürgers anzugreifen, so würde er nicht schlecht ankommen, und ich glaube, daß diese so zarte Besorgnis um den Ruf eines Toten nachdrücklich in Flammen geraten würde, um den der Lebenden zu schützen! Aber, wie dem auch sei, fügte ich hinzu, Gott bewahre mich davor, mir je die Feindschaft eines dieser Zensoren des alten Dichters zuzuziehen, den der zweitausendjährige Aufenthalt im Grabe nicht vor einem so unversöhnlichen Haß hat retten können! Jetzt führen sie schmerzlose Lufthiebe. Aber wie würde es erst sein, wenn ihre Wut durch die Gegenwart eines lebendigen Feindes gereizt würde?

Die, von denen ich eben sprach, streiten sich in der gewöhnlichen Sprache. Man muß sie von einer anderen Art Wortkämpfer unterscheiden, die sich einer barbarischen Sprache bedienen (des sogenannten scholastischen Lateins), die ihre Wut und Hartnäckigkeit noch zu steigern scheint. Es gibt Stadtviertel – (bei der Sorbonne d. h. der Universität) –, wo man dicke, schwarze Haufen solcher Leute sieht. Sie nähren sich von Definitionen und leben von dunklen Prämissen und falschen Folgerungen. Dies Gewerbe, in dem man Hungers sterben müßte, ernährt doch seinen Mann.