DAS GESPENST VOM RITTHOF
Alfred Döblin
Wie des Karl Völkers Sohn Johann vom Ritthof herunterging, wo er den heißen Nachmittagskaffee getrunken hatte, rieselte am Wege nach Fechingen etwas Wolkigblaues, Niedriges von Menschengestalt an ihm vorbei. Er verfolgte den Schatten, träumend: „Dich kenn ich, oh, wir haben uns schon gesehen.“ Die Haare der Gestalt wurden von dem Märzenwind lang und wagerecht ausgezo-gen, sanft lief sie und bewegte kaum die Füße und die Arme, als wäre sie mit Bändern umwickelt. Sie mußte von der Gegend der Fähre herkommen; gle-ichmäßig lief sie über das dünne Grün der Wiese wie aufrechter Rauch. Über den Bühlbach floß sie; er suchte lange, bis er eine schmale Stelle fand. In wei-ten Sätzen machte er sich hinter ihr her. An der Holzbrücke vor dem Dorf drehte sie sich, rechts, links. Da hatte er sie aus den Augen verloren.
Dicht am Eingang zu Bliesschweien, dem Dorf, wehte das Fähnchen vom Wirtshaus. Dort trank Johann Völker in der niedrigen langen Stube ein Glas gelben Saarwein. Und als er eine Viertelstunde am Kieferntisch gekauzt hatte, kam ein scheues, bäurisch gekleidetes Mädchen ohne Hut zur Tür herein, das einen Eimer und ein Tablett mit leeren Weinkaraffen trug. Sie bewegte sich, als sie den Eimer neben dem Schenktisch abgesetzt hatte, blaß und erschrocken zwischen den dicht belagerten Tischen herum, warf die Augen auf Johann. Er fragte sie, indem er das leere Glas von sich schob, ob sie mit ihm trinken wolle und warum sie so erschrocken sei. Ach, lächelte sie, das sei nur, weil er eine blaue Mütze trüge, die stünde ihm so gut, darüber habe sie sich gefreut. „Wir wollen zusammen essen,“ schlug Johann mit der Faust auf die Holzplatte, da er das Mädchen immer schöner fand. Aber sie zwinkerte mit den Augen, kniff ein verschmitztes Grübchen in die Wange, kicherte ganz hoch in der Kehle mit geschlossenen Lippen, ließ die Karaffen füllen.
Johann blieb die Nacht über in dem fremden Wirtshaus. Tags drauf und öf-ter begegnete er dem Mädchen mit dem Eimer; sie war die Tochter des Sch-miedes Liewennen und hieß Kätti. Er wanderte mit seiner blauen Mütze, in dem jungen ebenmäßigen Gesicht die randlose Brille, an den dünnen langen Beinen Radfahrhosen und braune Segeltuchschuhe, wanderte zwischen der Schmiede und der Schenke des Nikolaus Schlöser her und hin. Sie freuten sich miteinander den ganzen Sommer. Sein Vater wußte nicht, wo er hauste, glaub-te, Johann hätte eine Reise wieder über den Ozean auf einem Frachtdampfer oder auf einem Segelschiff angetreten.
Im August quartierten sich vier lustige Herren aus Trier beim Nikolaus Schlöser ein. Mit denen ritt Johann auf die Hühnerjagd; sie knallten den hal-ben Tag über, abends warfen sie sich in der Laube neben der Bliesbrücke auf den Rasen, stießen den Gartentisch um, pflanzten eine brennende Kerze in die Erde und spielten Karten, bis die Hühner krähten. Kätti hörte nichts von Jo-hann. Feine Mädchen brachten die Trierer Herren in die Laube und zum Sch-löser. Johanns Gesicht wurde vom Trinken und Lumpen dick. Statt der leichten Füße in Segeltuchschuhen scharrten die Latschen eines Jungen zur Schmiede herüber; er brachte Grüße und ein Bündel Rosen von Herrn Johann Völker.
Aber sie war schlauer als er hinter seiner gläsernen Brille. Sie ging in die Honoratiorenstube, wenn die fremden Weiber mitpokulierten, sangen und kreischten, ließ sich verschämt bei der Hand fassen, ihre hochausgeschnittenen Augen wanderten; den Fingern, die nach ihren Zöpfen tasteten, wich sie aus; sie warf sich dem schmunzelnden Johann, zwischen Tischkante und Stuhl sich einzwängend, brustangeschmiegt auf den Schoß. Und als sie ihn mit der Eitel-keit gefangen hatte, kicherte sie eines lärmenden Abends, während er im Korri-dor ihren Kopf nehmen wollte: „Guten Tag, Johann, lebwohl,“ hing sich an den Arm des spitzbärtigen Jägers aus Trier, der eben in grünen Wickelgamaschen, geschniegelt, gescheitelt, keck aus seiner Stube spazierte und im Vorüberziehen, elegant fußscharrend, Johann mit einem Finger auf die zuckende Schulter tipp-te.
Das war an einem Sonntag. Karl Völkers Sohn vergaß den Tag nicht. Und im Moment, wo sie vorüber waren, fühlte er einen Zwang, aus dem Flurfenster nach der Brücke hinzusehen, und wie er sich abwandte und nach unten vor die Haustür blickte, da hatte sich die Liewennen, — im sauber gewaschenen weißen Kleidchen hüpfte sie hinter einer kleiderrauschenden Dame in das Kab-riolet, — da hatte sich die Liewennen verändert. Über ihrem gebügelten Rock lag es, der Rock dampfte; streifig, der Länge nach war er tausendfach gefältet; von dem rosenblumigen Hut, den sie sich eben weit in den Nacken stülpte, goß sich ein Staub, ein feiner Ruß, der um ihre Schultern schwelte.
Johann verließ seine Stube nicht; eine höllische Wut und Raserei nahm ihn gefangen. Er berührte keine Flinte; die Karten, die man mit rotem Wein begos-sen zu ihm hinaufschickte, streute er auf den Flur vor die Stube der vier. Dann machte er sich verbissen hinter die Schmiedstochter her. Er sah, er übersah die-ses Flüssige, Dünne, Zittrige, das sie umgab, das aus ihren Kleidern, von ihrem freudevollen Gesicht wie der Dunst aus warmem Wasser aufstieg. Es beunru-higte ihn nicht. Er brütete, war der Spürhund hinter ihr, haßte sie. Aber so oft er sich auch in seiner Stube einschloß und den Federhalter zur Hand nahm, er konnte sich nicht entschließen, dem alten Karl Völker im Hessischen zu schrei-ben, daß man mit der Schiffahrt mal ein Ende machen müsse; im Mittelmeer sei es jetzt sehr heiß, sein Kapitän wolle nach Rumänien, um Petroleum zu la-den, und das könne er nicht mehr riechen. Er kaufte sich einen grünen Jägerhut, ließ sich die Haare bis auf den Wirbel scheren, frech wuchs auf seiner Lippe ein blondes Schnurrbärtchen. So ritt er und schlampte mit den Tieren, den wil-den Vögeln. Seine schlanken Rennerbeine zitterten und wackelten wie einem Greis, wenn sie Arm in Arm auf den finsteren Kuckucksberg seitlich von Rans-bach schlenderten und Speere warfen nach einer angebundenen schneeweißen Geiß, die ängstlich meckerte, Blut spritzte, unter Gebrüll zertreten wurde. „Aas!“ keifte Hannes Völker heiser, zog sich die rotbefleckten Schuhe aus und hackte tobend dem verreckenden Vieh rechts und links in das Maul auf die Zähne; Gras und Erde stopfte er in den Schlund hinzu, während die anderen vier ihre Eisenstäbe gegen die entzündeten übernächtigen Larven drückten, vor Lachen den Buckel krümmten.
Des Schmiedes Liewennen Kätti mied das Wirtshaus; es hieß, der Pfarrer habe mit ihr gesprochen. Aber das stillte seine Wut nicht. Im bäurisch weiten Rock, mit berußter armloser Taille trug sie ihrem Vater vom Brunnen die Was-sereimer Tag um Tag; schon wurden die Blätter an den Bäumen bunt; warm und traurig hielt sie das Gesicht gesenkt, wenn der lange Hesse ihr über den Weg stolperte. Wenn sie lief und die Eimer schwappten über, sah er ihr nach, und da liefen doch zwei. Gedoppelt lief es, machte ihn eine Minute stumm, hi-elt sein Herz an. Zweimal waren es zwei bloße Arme, zweimal schoben sich zwei Füße eng nebeneinander vor; ihr Kopf hatte hinten dicke, festgesteckte und bebänderte Flechten, der andere war glatt, er schwankte bald rückwärts bald seitwärts von ihrem, und wenn sie ihren auf die Brust legte, so stand der andere dünn in der Luft da, gegen dunkle Baumstämme hob er sich hell ab; so glattgestrichen war er von allen Seiten. In einem dunklen Grimm duldete er den Anblick: „Das ist das Zeichen; daran sollst du sie erkennen.“ Sie blieb eines Mittags, ohne die Eimer abzusetzen, vor dem Denkmal des heiligen Quirin auf dem Dorfplatz stehen neben ihm und flüsterte rasch, das schräge Hütchen kleide ihn nicht gut, er solle sich die Haare wachsen lassen und die blaue Mütze auf-setzen. Johann schnalzte verächtlich mit der Zunge, daß es über den Platz knallte, schleuderte mit einem stolzen „Juhu“ das Hütchen an der Krempe in die Luft, fing es auf, während er ein Bein hochzog, wie ein Storch auf einer Spitze stand. Die Eimer schlugen ihr gegen die Hacken, das Wasser spritzte gegen ih-ren Rock, rasch lief sie.
Und eines Sonntags fuhr ein Wandertheater auf den Marktplatz vor das Gemeindehaus mit drei grünen Wagen, schlug seine Bretterbude seitlich vom heiligen Quirin auf. Da brachte der geschminkte Ausläufer des Direktors dem Hessen ein Billett, das habe, so erwähnte er mit graziösen Hin- und Herwinden und süßem Gurgeln vor dem Herausgehen, eine bekannte unbekannte Person bezahlt, beglichen, honoriert. Das Schicksal der Kaiserin Dorothea von Byzanz würde nach dem Gottesdienst die Bewohner von Bliesschweien erschüttern, auch viele Nachbarorte seien voll Teilnahme, kein Auge würde tränenleer blei-ben.
Der Hesse nahm ein rotes Taschentuch und legte es auf seinen Platz, erste Bank vor der Bühne, stellte sich an sein Fenster, um das rote Taschentuch und den Nachbarplatz zu beobachten. Nun sollte die Liewennen, die Liewennen bestraft werden für ihren Verrat. Das Theater begann. An dem Haustor des Bäckers, im Schatten, spielte Kätti mit den Kindern, in ihrem weißen bauschi-gen Kleid; sie warf von Minute zu Minute einen Blick gegen das Seil am Denkmal, wo die Billettabnehmerin auf einem Stuhl schlief. Dreivierteldes Stückes waren zu Ende, längst ging keiner durch die Billettsperre, schon wan-derten ältere Leute zurück, um noch vor Nacht ihre Dörfer zu erreichen oder sich einen Platz in der Schänke zu sichern. Die Liewennen kletterte auf den kleinen Tritt, lugte vorgebeugt, an der mörtelstreuenden Wand sich haltend, über das leinwandumspannte Karee; ganz leer die erste Bank, aber auf einem Platz sorgfältig hingebreitet ein rotes Taschentuch.
Sie fühlte einen Stich im Herz, vorsichtig, blaß stieg sie den Tritt herunter, dann rasch zum Seil über den leeren heißen Platz, scheuchte die Kinder zurück, die weinten und mit hineinwollten; gleich wäre sie wieder da. Das Gedränge im Gang; „ach, bitt euch, mein Platz ist vorne, laßt mich durch.“ Nun saß sie vorn, drückte zitternd das Tuch gegen ihre weiße Bluse, wagte nicht, von allen Seiten beobachtet, unter dem Rollen der Bühnenrhetorik, den roten Stoff zu entfalten, das Zettelchen zu lesen, das wohl drin lag. Schon waren oben die vier Anstifter und Mörder der gottesfürchtigen Kaiserin handelseins; wieder drängte ein Ehepaar heraus. Die Liewennen, glühend, kopfgeduckt, schob sich hinter sie, wie ein Hähnchen unter die Flügel der Henne. Aufgeschreckt rückte die hutzlige verschlafene Frau, die Billettabnehmerin, mit dem Stuhl nach rechts. Die Liewennen rannte an den jauchzenden Kindern vorbei; „Kättchen“ riefen sie, „komm her; hier sind wir ja, hier.“ In die Blindgasse des Fuhrherrn Bell floh sie; nichts in dem Taschentuch; ein blaues Zeichen, J. V. Da knüllte sie es in dem kühlen Gang vor ihrem gespitzten Mund zusammen, weinte und hatte den Wunsch, das Tuch sich über die Stirn, die Augen zu legen, über den Kopf zu breiten.
Plötzlich hörten die Kinder auf zu kreischen. Hinter ihr, neben ihr bewegte sich der verlumpte Hesse in rosa Hemdsärmeln, hatte die Brille auf die Stirn geschoben und stierte sie mit wasserblauen Blicken über ihre Schulter an; sein Atem strich an ihrem Hals entlang.
„Für wen willst du dich mit meinem Taschentuch putzen?“
Sie zuckte mit lautem Aufweinen nach dem roten Lappen auf ihrem Haar, stopfte ihn in ihren Brustausschnitt, hatte die Hände frei, tastete flehend nach seinem Ärmel.
„Wen willst du mit meinem Taschentuch locken?“
Es lag ihm nichts an ihr. Nun sollte sie gerichtet werden. Sie war ihm gle-ichgültig wie die abgebrochene Deichsel zu seinen Füßen. Er bedauerte sie, während er nach ihr griff. Als das Mädchen mit heißem Wimmern über ein Rad in die Knie stürzte, fuhr eine ungesehene Hand vor seinen Hals, schnürte seinen Hemdkragen zusammen. Das Gespenst drängte sich, während er torkelte, in se-ine leer rudernden, schlingenden Arme, mit roten Äderchen überzogen wie ein angebrütetes Ei. Zwischen zwei Ställe schob ihn die bewegungslose, wie auf Rädern gleitende Gestalt, rammte ihn gegen einen Pfosten. Er rang mit ihr ke-uchend, sie zu bewältigen, sie totzumachen, wegzuwischen. Als er ihren Kopf zwischen den Handtellern einspannte, wollte er ihr ins Gesicht speien. Aber sie, ohne die Miene zu verziehen, machte langsam langsam eine Bewegung von un-ten herauf mit beiden Mittelfingern, eine Bewegung, die er nicht verstand, wiegte ihren Kopf aus seinen nachgebenden Händen rückwärts. Schamlos grinste sie lippenwulstend und kam näher. Sie strich dicht, Nase an Nase mit ihm, kitzelnd unter sein Kinn, unter seine Achseln. Und ihr Gesicht, — er konnte aufseufzend nicht sagen, wie es aussah. Es war ihm bekannt, so be-kannt, so unheimlich vertraut.
Er wollte, das Kinn andrückend, die gelähmten Arme von ihrem Hals sin-ken lassen, da hatte er dicke Beulen auf der Stirn; seine Weste war aufgerissen und es klatschte gegen seine Brust. An die Hand faßte sie ihn und warf ihn mit einem Schwung herum, über die Beine der winselnden Liewennen, durch das offene Tor, in den Pferdestall zwischen die Pferde.