AUS EİNEM HINTERFENSTER

Bret Harte

Ich entsinne mich, daß ich vor langer Zeit, als sanguinisches und vertrauensvolles Kind, in den Besitz einer buntausgemalten Lithographie gelangte, die eine holde Cirkassierin vor einem Fenster darstellte. Der Preis, den ich für dieses Kunstwerk bezahlte, mag ausschweifend hoch gewesen sein, selbst wenn er nur in der vielfachen Schwankungen ausgesetzten Schieferstift-Münze der Jugend entrichtet wurde; aber die geheime Freude, die ich an seinem Besitz empfand, kannte kein pecuniäres Aequivalent. Es war nicht blos, weil die Natur in Cirkassien gleich verschwenderisch auf die Wange der Schönheit und auf das Pflanzenreich jene kostspieligste der Farben – Florentinerlack vertheilte, oder weil die Rose, welche neben dem Fenster der holden Cirkassierin blühte, keinen sichtbaren Stiel hatte und direct auf den Marmorbalkon gepfropft war, sondern weil das Bild eine Idee verkörperte. Diese Idee war ein Wink meines Schicksals. Ich fühlte, daß irgendwo eine junge und holde Cirkassierin an einem Fenster saß und nach mir ausschaute. Nie kam mir der Gedanke, einer solchen Pracht von Reizen und Farben Widerstand zu leisten, und zu meiner Ehre sei berichtet, daß ich während der fieberhaften Periode der Jünglingsjahre nie daran dachte, mein Schicksal abzuwenden. Aber als Ferien und Feiertage kamen und gingen, und mein Bild zuerst besudelt wurde und dann ganz zwischen dem östlichen und westlichen Festland in meinem Atlas verschwand, schien sein Zauber geheimnißvoll zu vergehen. Als ich mich überzeugte, daß wenige weibliche Wesen von cirkassischem oder anderm Ursprünge gedankenvoll ihr Kinn auf ihre mit Henna gefärbten Nägel stützend an ihren Putzstubenfenstern saßen, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Hinterfenster. Obwohl die holde Cirkassierin mir noch nicht mit plötzlich auffliegenden Läden vor Augen getreten ist, so sind doch einige der Aufzeichnung nicht unwerthe Eigenthümlichkeiten von mir beobachtet worden. Dieses Wissen ist nicht ohne Opfer gewonnen worden. Ich habe mich mit Hinterfenstern und ihren Aussichten in der schwächlichen Verhüllung eines Mannes, der eine Wohnung sucht, bekannt gemacht, unbekümmert um die mißtrauischen Blicke von Vermietherinnen und ihrer offenbaren Ungeneigtheit, sie zu zeigen. Ich habe mich erkältet, indem ich mich lange dem Zuge aussetzte. Ich habe mir Freunde entfremdet, indem ich während eines Besuchs unbewußt nach ihren Hinterfenstern ging, wo die wöchentliche Wäsche auf der Leine hing, oder wo Fräulein Fanny (angeblich unwohl) im Waschhause half, oder wo Musjeh Bobby im dürftigen Anzug sich auf dem Geländer des Höfchens vergnügte. Aber ich habe an Galilei gedacht, und die immer gleiche Erfahrung aller Sucher und Entdecker der Wahrheit hat mich aufrecht erhalten.

Zeige mir die Hinterfenster von der Wohnung eines Menschen, und ich will Dir seinen Charakter sagen. Nur die Hinterseite eines Hauses ist aufrichtig. Die Attitüde der Täuschung, welche man an den Vorderfenstern einnimmt, läßt den Hinterhof vertheidigungslos. Die Welt tritt durch die Vorderthür ein, aber die Natur kommt durch den hintern Gang heraus. Jenes glänzende, wohlgebürstete Individuum, welches sich des Nachts mit einem Hausschlüssel durch die Vorderthür hereinläßt, ist ein Wesen sehr verschieden von dem in Pantoffeln daherlatschenden Wicht, der des Morgens an der Küchenthür nach heißem Wasser brummt. Ebenso ist’s mit Madame, deren Gestalt eckige Umrisse bekommt, deren Gesicht bleich wird, deren Haar heruntergefallen ist, und welche etwa zehn Jahre älter aussieht, wenn man sie im Rahmen eines immer aufrichtigen Hinterfensters erblickt.

Kein Wunder, daß selbst intime Freunde einander in dieser dos à dos-Stellung nicht erkennen. Wir können uns für genau befreundet mit. der silbernen Thürplatte und den Bogenfenstern des vornehmen Hauses halten, wo unsre Saccharissa wohnt, wir können uns sogar einbilden, ihre anmuthige Gestalt zwischen den Spitzenvorhängen des obern Gemachs zu erkennen, von dem wir zärtlich glauben, daß es das ihre sei; aber wir werden Monate lang im Rücken ihrer Wohnung und so nahe an ihrem Erker wohnen, daß wir ihr zuflüstern könnten, und es doch nicht wissen. Wir werden sie. mit einem Tuch um den Kopf herum in vertraulichem Gespräch mit dem Metzger sehen und sie nicht kennen. Wir werden ihre Stimme in schrillem Wortwechsel mit ihrem jüngern Bruder hören, und es wird sich nichts bei uns regen, was wie auf etwas Bekanntes antworten möchte.

Ich schreibe an einem Hinterfenster. Da ich die Wärme meines Kohlenfeuers der nebligen Kälte des Nachmittags wieder vorziehe, der in den entlaubten Sträuchen des Gartens unter mir rasselt, so habe ich mein Schiebfenster geschlossen; folglich entgeht mir viel von dem grellen Gezänk, welches in der Küche von Nr. 7 gerade gegenüber stattfindet. Ich habe Bruchstücke eines unterhaltenden Zwiegesprächsstyls gehört, den man gewöhnlich als »Keifen« bezeichnet, ein Zwiegespräch, welches soeben zwischen Biddy in Nr. 9 und dem Fleischer, der das Mittagsessen bringt, stattgefunden hat. Ich habe das erfrorne Aussehen eines armen Canarienvogels bemitleidet, der, um frische Luft zu kosten, vor das Fenster von Nr. 5 gesetzt worden ist. Ich habe das echte Behagen zweier Kinder beobachtet und, wie ich fürchte, beneidet, die im Hintergäßchen einen alten Kehrichthaufen aufkratzen, welcher den Abfall und die Scherben aller Hinterhöfe der Nachbarschaft enthält. Was für einen Reichthum an Sodawasserflaschen und altem Eisen haben sie sich erworben! Aber ich warte auf einen mir noch vertrauteren Ausblick von meinem Hinterfenster.

Ich weiß, daß später des Nachmittags, wenn die Abendzeitung kommt, ein untersetzter grauhaariger Mann in Hemdärmeln an der Hinterthür von Nr. 9 erscheinen, sich auf die Thürstufe setzen und mit Lesen beginnen wird. Er wohnt in einem anspruchsvollen Hause, und. ich höre, er ist ein reicher Mann. Aber in seiner Haltung liegt eine solche Bescheidenheit und eine solche Dankbarkeit dafür, daß ihm erlaubt ist, außen vor seinem eignen Hause zu sitzen und seine Zeitung in Hemdärmeln zu lesen, daß ich mir seine häusliche Geschichte ziemlich klar vorstellen kann. Vielleicht folgt er irgend einer alten Gewohnheit aus bescheidneren Tagen. Vielleicht hat er sich mit seiner Frau verständigt, sich seiner unschicklichen Gewohnheit drinnen nicht zu überlassen. Er sieht nicht aus wie ein Mann, den man durch Schmeichelworte in einen Schlafrock bringen könnte. Auf der Vorderseite seines palastartigen Hauses ist er, wie ich weiß, ein ruhiger und respektabler Geschäftsmann mittleren Alters; aber von meinem Hinterfenster aus ist es, wo mein Herz ihm in seiner in Hemdärmeln einherwandelnden Einfachheit warm entgegenschlägt. So sitze ich da und beobachte ihn im Zwielicht, wie er ernsthaft liest, und frage mich manchmal, wenn er aufblickt, seinen Oberkörper streckt und seine Zeitung bedächtig über seinem Knie zusammenfaltet, ob er nicht denkt, er höre das Herunterlassen von Thorriegeln oder das Klingeln von Glocken, indem die Kühe nach Hause kommen und an dem Thore nach ihm brüllen.