Von einem Balkone

Bret Harte

Der kleine Steinbalkon, der nach einer beliebten Täuschung für ein nothwendiges Zubehör zu meinem Fenster gilt, ist für mich schon längst eine Quelle neugierigen Interesses gewesen. Die Thatsache, daß die Rauheit unseres Sommerwetters mir nicht gestatten will, mich seiner mehr als ein oder zwei Mal in sechs Monaten zu bedienen, ändert an meiner Zuneigung zu diesem widersinnigen Schmuckstück nichts. Es wirkt auf mich, wie nach meinem Vermuthen das Bewußtsein des Besitzes eines Leinwandrocks oder einer Nankinghose auf einen Durchreisenden wirken würde, welcher die Erinnerung an den Sommer im Osten und seine glorreichen Ausgleichungsmittel noch nicht verwachsen hat – er ist eine luxuriöse Vorsorge für einen möglichen, aber durchaus nicht wahrscheinlichen Fall. Ich wundere mich nicht mehr über die Hartnäckigkeit, mit welcher die San Franciscaner im Angesicht klimatischer Unmöglichkeiten an dieser architektonischen Ueberflüssigkeit hängen. Die Balkone, auf denen niemand sitzt, die Piazzas, auf denen niemand herumschlendert, sind ein schüchternes Entgegenkommen einem Klima gegenüber, dessen Lümmelhaftigkeit wir durch ein Zurschautragen von Vertrauen zu beschwichtigen versuchen. So lächerlich dieser Anblick zu allen Zeiten ist, ist er es doch nie mehr, als in der öden Zwischenzeit zwischen Sonnenuntergang und Dunkelheit, wenn der schrille Pfiff der Fabrikpfeife die ganze harte unbehagliche Art des Klimas in einen tönenden Ausdruck zusammengefaßt zu haben scheint. Denke man sich dazu die Erscheinung eines oder zweier Fußgänger, die offenbar zu spät zum Essen kommen und in der widerhaarigen Luft einen bittern Vorschmack des Willkommens kosten, der sie zu Hause erwartet, und man hat eine der gewöhnlichen Aussichten von meinem Balkon, welche den Balkon selbst lächerlich macht.

Aber wie ich mich so heut Abend – einem Abend von seltner Freundlichkeit und Schönheit – über sein Geländer lehne und zusehe, wie die feurige Asche meiner Cigarre in die abgrundartige Dunkelheit drunten fällt, bin ich geneigt, Alles im vorhergehenden Abschnitt zurückzunehmen, obwohl es mich einige Mühe kostete, seine höfliche Bosheit auszufeilen. Ich vermag selbst einige Melodie in der Musik zu erkennen, welche unregelmäßig und stoßweise vom Balkon des Museums in Market Street kommt, obwohl man im Allgemeinen dreist behaupten darf, daß die Musik aller Museen, Menagerien und Bereiterbuden stark heruntergekommen ist – vermuthlich durch Umgang mit den Thieren. So mild und weich ist diese Atmosphäre, daß ich auf den benachbarten Balkonen und Piazzas das Geflatter von einem oder zwei hellen Kleidern entdeckt habe, und die Fenster der Vorderstube eines gewissen aristokratischen Hauses in der Umgebung, welche in Betreff des Innern stets eine gesuchte Verschlossenheit bewahrt haben, heut Abend plötzlich sich in die Attitüde vertraulichen Aufgeknöpftseins geworfen haben. Einige junge Leute schlendern die Straße hinauf mit einem sorglosen Schritt, der ein wahrer Trost im Vergleich mit dem gewöhnlichen raschen, geschäftsmäßigen Gange ist, welchen die frostigen Nächte selbst den empfindsamsten Liebesleuten auferlegen.

Die sanften Einflüsse der Luft beschränken sich nicht auf das Aufgehen von Sommerläden und Vorderthüren; Anderes und Holderes erschließt sich ohne Zweifel unter diesem Mondlicht. Der Damenhut und der Herrenhut, die vor ein paar Augenblicken unter meinem Balkon vorbeigingen, hielten sich in verdächtiger Nähe zu einander. Ich schloß hieraus, daß mein Freund, der Redacteur, wahrscheinlich für seine nächste Nummer eine Menge von Versen bekommen wird mit Anspielungen auf »Luna«, in welchen das originelle Epitheton »silbern« auf dieses Gestirn Anwendung finden wird, und daß man »verschont« sein wollen wird, offenbar, um auf »Mond« reimen zu können, und zu keinem andern Zwecke. Sollte keins von Beiden zu diesem Ausdruck der Gefühle seines vollen Herzens befähigt sein, so werden dieselben sich später am Abend vermuthlich über dem Piano Luft machen in Liedern wie: »Am Bachesrande irrt’ ich hin« oder: »Wenn der Mond den See beglänzt«. Aber es ist mir gewährt worden, die Erfüllung meiner Prophezeiung schon, als sie ausgesprochen wurde, zu hören. Aus dem Fenster von Nummer Zwölfhundert und Sieben sprudelt in die schlaftrunkne nebelige Luft die rasend machende Ballade: »Immer von Dir«, während über Nummer Zwölfhundert und Elf der »Abendstern« mit einem Chor aufgeht. Ich bin geneigt, zu glauben, daß dieses Lied sich besonders dadurch der Jugend empfiehlt, daß sein Refrain völlig nichtssagend ist. Der einfache Satz: »Stern des Abends« wird mit einfältigem Behagen immer und immer wiederholt, während das Adjectiv »schön« mit einer stöckischen Hartnäckigkeit wiederkehrt, die zu ärgerlich stimmt, als daß ich bei ihr hier verweilen möchte. In gelegentlichen Intervallen ruft eine falsche Stimme als besondere und unabhängige Leistung: »Starrn! Starrn!« Indem ich hier auf meinem Balkon sitze, male ich mir den Inhaber jener Stimme als einen kleinen, untersetzten jungen Mann aus, der ein wenig seitwärts von den andern Sängern steht, seine Hände unter den Rockschößen und einen strengen Ausdruck im Gesicht. Manchmal beugt er sich nach vorn in dem vergeblichen Versuch, die Musik über die Schultern von jemand anders zu lesen, stets aber nimmt er, bevor er seinen Theil singt, seine vorherige strenge Haltung wieder an. Inzwischen schauen die himmlischen Gegenstände dieser choralmäßigen Anbetung auf die Scene mit einer Seelenruhe und Geduld hernieder, die nur das Ergebniß des Sicherheitsgefühls sein können, welches ihre unermeßliche Entfernung ihnen einflößt. Ich möchte übrigens bemerken, daß die Sterne nicht die einzigen Begriffe sind, die dieser »verdammenswerthen Wiederholung« unterliegen. Ein gewisses beliebtes Lied, welches die Behauptung enthält: »Nie werd’ ich, Mutter, Dein vergessen« beruht offenbar in seiner Beliebtheit auf der fortwährenden trübseligen Wiederholung dieser bedeutungslosen Benachrichtigung, welche wenigstens die gewünschte Wirkung auf die Zuhörerschaft hervorbringt. Wenn auch die besten Opernchöre nicht über diese Schwäche erhaben sind, so verletzen sie doch, da sie in einer fremden Sprache gesungen werden, weniger den gesunden Menschenverstand.

Es mag hier in Parenthese bemerkt werden, daß die oben erwähnten Lieder sich in Notenheften auf dem Pianodeckel jeder jungen Dame finden, die soeben das Pensionat verlassen hat. »Der alte Lehnstuhl« oder »Holzschläger, schone diesen Baum« befindet sich gleichfalls behaglich daneben. Die letztgenannten Lieder werden gewöhnlich in dem Falle zum Dienst einberufen, wo ein Oheim oder ein unverheiratheter Bruder sie verlangt, ein Verlangen, das gemeiniglich mit einer geringschätzigen Bemerkung über die Oper und der unbewiesenen Aeußerung eingeleitet wird, daß »wir Rückschritte machen – ja, mein Herr, Rückschritte«, und daß »doch keine Musik den alten Liedern gleichkommt«. Bisweilen läßt er sich herab, »Marie« in tremulirendem Baryton zu begleiten, und dann ist er besonders stark in den Passagen, über denen das Wort »wiederholen« steht, und zwar aus den oben angeführten Gründen. Wenn das Lied vorbei ist, zu dessen Gelingen er nach seinem Gefühl wesentlich beigetragen hat, wird er uns benachrichtigen, daß wir von unsern Arien und unsern Romanzen allerlei sagen mögen, was wir wollen, »aber was Musik betrifft, mein Herr – Musik« – hier wird er zusammenhangslos und unverständlich. Dieser Herr ist’s auch, der »China« oder »Brattle Street« zu einer passenden und heiteren Uebung für gesellige Kreise empfiehlt. Es giebt gewisse Liebeslieder von leichtfertigem und coquettem Charakter, welche in diesen Gegenden wohlbekannt sind, und welche die junge Dame, wenn man sie aufgefordert, sie zu singen, mit verschämtem, zwischen Wollen und Nichtkönnen schwankendem Zögern vorzutragen ablehnt. An erster Stelle mag unter diesen ein erotischer Erguß mit dem Titel: »Oft rede ich im Schlafe« erwähnt werden, welcher, wenn er von einer jungen Person lebhaft und mit den dazu passenden Blicken gesungen wird, schmachtende Jünglinge auf den Gipfel des Verrücktwerdens treiben kann. Balladen dieser Gattung gewähren dreisten jungen Leuten, welche durch Ausstoßung von »Oh!« und »Ah!« bei den rührenden Stellen häufig einen bezaubernden Ruf, tolle Burschen und Zweifler zu sein, gewinnen, glänzende Gelegenheiten, sich hervorzuthun.

Aber die Musik, welche diese parenthetischen Betrachtungen hervorrief, ist erstorben und mit ihr die kleinen Animositäten, die sie einflößte. Das letzte Lied ist gesungen, das Piano geschlossen, die Lichter sind von den Fenstern weggenommen, und die weißen Röcke flattern weg von Erker und Balkon. Das Schweigen wird nur unterbrochen durch das Gerassel und Gerumpel von Kutschen, die aus dem Theater und der Oper kommen. Ich glaube, daß dieses Geräusch, welches in dieser Stunde deutlicher als zu irgend einer andern Zeit zu sein scheint und eine der nächtlichen Stimmen der Stadt genannt werden könnte, gewisse städtische Vorstellungen erweckt, welche Denen, die in großen Städten geboren und erzogen wurden, nicht unangenehm sind. Der Mond, rund und voll, usurpirt allmählig die Bedeutung der flimmernden Lichter der Stadt, welche eines nach dem andern vor seinem helleren Lichte erbleichen und verschwinden. Die fernen Missionshügel heben sich mit ihren Umrissen vom Himmel ab, aber durch die eine Lücke scheint der draußen liegende Nebel, der uns in aller Stille eingeschlossen hat, Bresche gelegt zu haben und nur auf die Mitwirkung der zögernden Seewinde zu warten, um herunter zu fegen und die belagerte Stadt mit Sturm zu nehmen. Eine unaussprechliche Ruhe sinkt über die Landschaft. In dem magischen Mondlicht verliert der Schrotthurm seine eckigen Umrisse und praktischen Beziehungen und wird ein Minaret, von dessen Balkon ein unsichtbarer Mund die Gläubigen zum Gebet ruft. »Beten ist besser als Schlafen!«

Aber was ist das? Ein Trappeln von Füßen auf dem Pflaster, ein dumpfes Gesumme von Stimmen, ein Griff in die Saiten eines teuflischen Instruments, ein einleitendes Räuspern und Husten. Himmel, wär’s möglich! Ach ja – es sind – es sind Serenaders!

Anathema Maranatha! Mögen die Qualen des Fegfeuers Euch packen, Dich, William, Graf von Poitou, Girard de Boreuil, Arnaud de Marveil und Dich, Bertrand de Born, ihr verderblichen Erzeuger von Jongleurs, Troubadours, Provençalen, Minnesängern, Minstrels und Sängern von Cansos und Liebesliedern! Sinnverwirrung überfalle und vernichte Eure modernen Nachkommen, die »Höker mit Balladen nach der Elle«, welche die Schamlosigkeit des Mittelalters in das neunzehnte Jahrhundert hineintragen und eine schlafende Nachbarschaft aufwecken, um sie frech mit ihren Liebeleien und eitlen Einbildungen bekannt zu machen! Vernichtung und Demoralisation verfolge diese erbärmlichen Nachahmer eines barbarischen Zeitalters, wo man die Namen und Reize von Damen durch das Land hin ausschrie und schüchterne Jungfrauen niemals ihre Gegenwart einem Lanzenstechen oder Turnier liehen, ohne zu hören, wie ihrer Tugenden Chronik in den Schranken herumging, ausgeschrien von keuchenden Herolden und aufgenommen von brüllenden Eisenfressern! Verdammniß überwältige solche prahlerische Freier! Beim Himmel, soll ich die verliebte Katze erschießen, die nächten auf meinem Dache ihre Liebeslieder wiederholt, und meinen Finger vom Hahn zurückhalten vor jenem possenreißenden Galan da unten? Drauf los! Hier ist eine Orange, die vom Schmause in vergangner Woche übrig geblieben ist. Fäulniß hat sie ergriffen – sie besitzt weder Geschmack noch ein saubres Aussehen mehr. Ha, geschickt geworfen! Traf, ein fühlbarer Treffer! Vielleicht habe ich noch einen Stiefel, der mir gute Dienste geleistet hat und abgesehen davon, daß der Absatz locker geworden ist und daß die Seitennaht verhängnißvoll gähnt, noch in guter Verfassung ist. Einerlei, er wird’s thun. So! So! Was! Auseinander gelaufen! Na, dann will ich mich auch zurückziehen.