(Stellenweise gekürzt.)

Brief 11-14.

Es gab in Arabien ein Völkchen, das Troglodyten hieß, Nachkommen jener alten Troglodyten, die, wenn man den Geschichtsschreibern glauben will, mehr Tieren als Menschen ähnlich sahen. Diese aber waren nicht so mißgestaltet, auch nicht zottig wie Bären, pfiffen nicht, und hatten zwei Augen. Aber sie waren so böse und wild, daß unter ihnen Recht und Billigkeit nichts galten.

Sie hatten einen stammfremden König, der sie, in der Absicht, ihr bösartiges Wesen zu bessern, streng behandelte. Aber sie machten eine Verschwörung gegen ihn, töteten ihn und beseitigten die ganze königliche Familie.

Nachdem der Streich gelungen war, versammelten sie sich, um eine Regierung zu wählen, und nach langem Hinundher setzten sie auch Beamte ein. Aber kaum gewählt, wurden sie ihnen lästig, und sie ermordeten auch diese.

Nunmehr frei, folgte der Stamm seinen wilden Neigungen. Alle kamen überein, daß niemand mehr einem andern zu gehorchen hätte, daß jedermann nur über seine Interessen wachen sollte, ohne sich um die andern zu kümmern.

Dieser allgemeine Beschluß gefiel den einzelnen sehr. Sie sagten: »Was soll ich mich auch tot arbeiten für Leute, die mir gleichgültig sind? Ich will nur an mich denken. Ich werde glücklich leben, was geht’s mich an, ob es die übrigen sind? Ich werde mir alle meine Lebensbedürfnisse selbst schaffen, und wenn ich die habe, so kümmert’s mich nicht viel, ob alle andern Troglodyten im Elend sitzen.«

Man war in dem Monat, wo gesät wird. Jeder sagte sich: »Ich werde mein Feld bebauen nur, damit es mir das zu meiner Nahrung nötige Getreide liefert. Eine größere Menge würde mir unnütz sein: ich werde mir um nichts und wieder nichts keine Plage machen.«

Die Felder des kleinen Reiches waren nicht gleichartig. Einige lagen in dürren und bergigen Gegenden, andere auf wohlbewässertem Gelände. Dies Jahr war sehr trocken. Infolgedessen versagten die hochgelegenen Äcker und die wohlbewässerten trugen reichliche Frucht. Die Bergbewohner starben in Massen, denn die anderen waren hartherzig genug, ihnen nichts abgeben zu wollen.

Im nächsten Jahre gab es sehr viel Regen und das Verhältnis des Ernteertrages kehrte sich um. Nun jammerte die andere Hälfte des Volkes vor Hunger, fand aber natürlich ihrerseits auch keine Hilfe bei den Genossen.

Einer der ersten Männer hatte eine sehr schöne Frau. Sein Nachbar verliebte sich in sie und entführte sie. Großer Streit erhob sich, und nach mancherlei Gezänk und Schlägen ging man, Entscheidung suchend, zu einem Troglodyten, der zur Zeit der Republik in Ansehen gestanden hatte. Der aber wies sie ab. »Was liegt mir daran,« sagte er, »ob die Frau dir oder dir gehört? Ich muß jetzt meinen Acker pflügen gehen und kann meine Zeit nicht damit verschwenden, eure Streitigkeiten zu schlichten und eure Geschäfte zu besorgen, während ich meine vernachlässige. Laßt mich gefälligst in Ruhe und behelligt mich nicht mit euren Zänkereien.« Daraufhin verließ er sie und ging hin, sein Land zu bebauen. Der Entführer, der der Stärkere war, schwor, daß er lieber sterben, als die Frau zurückgeben würde. Der andere, ganz erfüllt von der Ungerechtigkeit seines Nachbarn und von der Härte des Richters, begab sich verzweifelt auf den Heimweg, als ihm eine junge und schöne Frau begegnete, die vom Brunnen herkam: er hatte keine Frau mehr, diese gefiel ihm und sie gefiel ihm noch besser, als er erfuhr, daß es die Frau des erfolglos als Schiedsrichter angerufenen Mannes sei, der gegen sein Unglück so gleichgültig gewesen war. Er entführte sie und nahm sie mit nach Haus.

Es gab einen Mann, der ein ziemlich fruchtbares Feld besaß, das er mit großem Fleiß bebaute. Zwei seiner Nachbarn taten sich zusammen, verjagten ihn aus seinem Hause und bemächtigten sich seines Feldes. Sie verbündeten sich, ihren neuen Besitz gegen jedermann zu verteidigen. Aber einer von ihnen ward der Teilung bald überdrüssig, tötete den andern und machte sich zum Herren des Ackers. Doch sein Reich dauerte nicht lange. Zwei andere, die stärker waren als er, ermordeten ihn.

Ein anderer Troglodyt, der fast nackt war, sah Wolle, die zu verkaufen war. Er fragte nach dem Preis. Der Verkäufer sagte sich: »Eigentlich dürfte ich für meine Wolle nur so viel Erlös erwarten, um mir zwei Maß Getreide zu kaufen. Aber ich will sie viermal so teuer verkaufen, um acht Maß zu haben.« Der andere mußte sich fügen und den verlangten Preis zahlen. »Jetzt bin ich froh,« sagte der Verkäufer, »nun kann ich Getreide schaffen.« »Wie«, sagte der Käufer, »du brauchst Getreide? Ich habe welches zu verkaufen. Nur wirst du dich etwas über den Preis wundern. Aber du wirst wissen, daß Getreide sehr teuer ist und fast überall Hungersnot herrscht. Gib mir mein Geld wieder und du sollst ein Maß Getreide haben. Anders gebe ich es nicht her und wenn du elendiglich vor Hunger umkommen solltest.«

Indessen verheerte eine grausame Krankheit die Gegend. Ein geschickter Arzt aus einem Nachbarlande kam und heilte durch seine Kunst alle, die sich seinen Händen anvertrauten. Als er aber seinen Lohn einforderte, wiesen ihn alle schnöde ab und er brachte nichts nach Haus als die Ermüdung von seiner langen Reise. Bald aber trat die Krankheit wieder und diesmal viel heftiger auf. Nun gingen sie zu ihm und warteten nicht, bis er kam. Da sprach er zu ihnen: »Hebt euch hinweg, ihr ungerechten Menschen. Ihr habt in eurer Seele ein Gift, das schlimmer ist als das, von dem ihr geheilt sein möchtet. Ihr dürft keinen Raum auf der Erde beanspruchen, weil ihr keine Humanität besitzet und die Gesetze der Billigkeit euch unbekannt sind. Ich würde fürchten, die Götter, die euch strafen wollen, zu kränken, wenn ich mich der Gerechtigkeit ihres Zornes widersetzte.«

Brief 12. (Fortsetzung.)

Du hast gesehen, mein lieber Mirza, wie die Troglodyten durch ihre eigene Schlechtigkeit zugrunde gingen. Von so vielen Familien blieben nur zwei von dem allgemeinen Unglück verschont. Nun gab es da zwei sehr eigenartige Menschen. Sie besaßen Menschlichkeit, sie wußten, was Gerechtigkeit ist, sie liebten die Tugend. Ebenso eng mit einander verknüpft durch die Gradheit ihres Herzens wie durch die Verderbtheit der anderen, sahen sie die allgemeine Trostlosigkeit, die sie nur insofern heimsuchte, als sie mit den andern Mitleid hatten: Grund genug für eine noch engere Vereinigung. Sie arbeiteten mit gemeinsamem Eifer für den gemeinsamen Nutzen. Sie hatten keine anderen Meinungsverschiedenheiten als solche, wie sie aus einer zarten und feinfühligen Freundschaft zu entstehen pflegen, und im fernsten Winkel ihres Landes, getrennt von ihren ihrer Gesellschaft unwürdigen Volksgenossen, führten sie ein glückliches und ruhiges Leben. Die Erde, gepflegt von diesen tugendreichen Händen, schien von selbst ihre Früchte herzugeben.

Sie liebten ihre Frauen und wurden von ihnen zärtlich geliebt. Ihr ganzes Trachten war, ihre Kinder zur Tugend zu erziehen. Sie hielten ihnen unermüdlich das betrübsame Beispiel ihrer Landsleute vor. Sie prägten ihnen vor allem ein, daß das Glück des einzelnen immer in dem Glück der Allgemeinheit beschlossen ist: sich davon trennen, heißt sich verlieren. Die Tugend zu üben müsse uns leicht fallen, und man dürfe sie nicht als eine mühselige Übung ansehen. Gerechtigkeit gegen den Nächsten aber sei Liebe gegen uns selbst.

Bald hatten sie die Freude tugendhafter Väter, Kinder zu haben, die ihnen ähnlich sind. Das junge Geschlecht, das um sie her aufwuchs, schloß glückliche Ehen: die Zahl nahm zu, die Einigkeit blieb immer dieselbe, und die Tugend, weit entfernt, sich mit der Masse zu schwächen, wurde vielmehr durch eine größere Zahl guter Beispiele gestärkt.

Wer könnte das Glück dieser Troglodyten ausmalen? Ein so gerechtes Volk mußten die Götter lieben. Sobald es die Augen öffnete, um sie zu erkennen, lernte es sie fürchten, und die Religion sänftigte, was die Natur in ihren Sitten etwa zu Rauhes gelassen hatte.

Sie richteten Feste zu Ehren der Götter ein. Die jungen Mädchen, mit Blumen geschmückt, und die jungen Männer feierten sie durch Tänze nach dem Klang einer ländlichen Musik. Man veranstaltete dann Feste, in denen die Freude ebenso wie die Einfachheit herrschte. Bei diesen Gelegenheiten sprachen die Herzen und fanden sich zueinander. Dort verriet sich jungfräuliche Scham in unabsichtlich entschlüpftem Geständnis, und der Väter Zustimmung gab ihm Bestätigung. Dort gefielen sich zärtliche Mütter darin, für ihre Tochter eine Verbindung in Liebe und Treue zu erträumen.

Man besuchte die Tempel, um die Gunst der Götter zu erflehen. Doch galten die Wünsche nicht Reichtümern, noch einem lästigen Überfluß. Derartige Wünsche wären der glücklichen Troglodyten unwürdig gewesen: dergleichen vermochten sie nur für ihre Landsleute zu erflehen. Sie knieten an den Stufen der Altäre nur nieder, um für die Gesundheit ihrer Väter, die Einigkeit ihrer Brüder, die Zärtlichkeit ihrer Frauen, die Liebe und den Gehorsam ihrer Kinder zu beten. Die jungen Mädchen brachten das zarte Opfer ihrer Herzen und erbaten sich keine andere Gnade, als einen Troglodyten glücklich zu machen.

Abends, wenn die Herden die Weiden verließen, und die müden Stiere den Pflug heimwärts brachten, versammelten sie sich. Dann besangen sie die Untaten der ersten Troglodyten und ihre Leiden, das Wiedererstehen der Tugend in einem neuen Volke und sein Glück. Sie feierten die Größe der Götter und wie sie der Menschen aufrichtige Gebete stets erhören, die aber mit ihrem Zorn erreichen, die sie nicht fürchten. Dann beschrieben sie die Freuden eines ländlichen Lebens und das Glück eines Lebens im Schmucke der Unschuld. Früh gaben sie sich einem Schlummer hin, den keine Sorge noch Kummer unterbrach.

( Brief 13 setzt die Schilderung der märchenhaften Glückseligkeit der Troglodyten fort und erzählt, wie sie den Einfall eines Nachbarvolkes in ihr Land dank ihrer außerordentlichen, in ihrer Tugend begründeten Tapferkeit erfolgreich abwehren.)

Brief 14. (Schluß.)

Da das Volk von Tag zu Tage wuchs, so hielten die Troglodyten es für angezeigt, einen König zu wählen. Sie kamen überein, daß man die Krone dem übertragen müßte, der der Gerechteste wäre, und sie richteten ihre Blicke alle auf einen Greis, der durch sein Alter und eine lang erprobte Tugendhaftigkeit verehrungswürdig war. Er hatte sich nicht zu dieser Versammlung einfinden wollen; er hatte sich in sein Haus zurückgezogen, das Herz von Trauer erfüllt.

Als man ihm Abgeordnete zuschickte, um ihm die auf ihn gefallene Wahl kund zu tun, sagte er: »Gott wolle verhüten, daß ich den Troglodyten das Unrecht antäte, daß man meinen könne, es gäbe keinen Gerechteren unter ihnen als mich. Ihr übertragt mir die Krone, und wenn ihr es durchaus verlangt, werde ich sie wohl annehmen müssen. Aber seid gewiß, ich werde vor Schmerz darüber sterben, daß ich bei meiner Geburt die Troglodyten frei gesehen habe und sie heute unterjocht sehen muß.« Bei diesen Worten begann er Ströme von Tränen zu vergießen. »Unseliger Tag!« sagte er, »und warum habe ich so lange leben müssen?« Dann rief er in strengem Tone aus: »Ich sehe wohl, ihr Troglodyten, wie es steht. Eure Tugend beginnt euch beschwerlich zu fallen. In dem Zustande, in dem ihr euch befindet, müßt ihr tugendhaft sein, ihr mögt wollen oder nicht. Sonst würdet ihr nicht bestehen können und würdet dem unglücklichen Geschick eurer Vorväter verfallen. Aber dies Joch scheint euch zu hart. Ihr zieht es vor, einem Fürsten unterworfen zu sein und seinen Gesetzen zu gehorchen, die weniger streng sind, als eure Sitten. Ihr wißt, daß ihr dann euren Ehrgeiz befriedigen, Reichtümer erwerben und in einer schlaffen Wollust hinleben könnt, und daß ihr, wenn ihr nur nicht in große Vergehungen verfallet, die Tugend nicht mehr brauchen werdet.« Er hielt einen Augenblick inne und seine Tränen flossen reichlicher denn je. »Und was erwartet ihr, daß ich tun soll? Wie soll ich einem Troglodyten etwas befehlen? Wollt ihr, daß er eine tugendhafte Handlung tut, weil ich sie ihm befehle, er, der sie genau so ohne mich tun würde, allein seinem natürlichen Triebe folgend? O ihr Troglodyten! Ich stehe an den Marken meiner Tage, und träge rinnt das Blut in meinen Adern, und bald werde ich zu euren heiligen Vätern versammelt sein: warum wollt ihr, daß ich sie betrübe, und mich genötigt sehe, ihnen zu sagen, daß ich euch unter einem andern Joch als dem der Tugend gelassen habe?«