Brief 89. Usbek an Ibben.
Die Ruhmessucht ist wesentlich nicht verschieden von dem Erhaltungstrieb, den alle Geschöpfe haben. Es kommt uns vor, als wenn wir unser Wesen vergrößerten, wenn wir ihm in dem Gedächtnis der anderen Menschen einen bleibenden Platz verschaffen. Es ist ein neues Leben, das wir so erwerben und das uns ebenso wertvoll wird, wie das vom Himmel empfangene.
Aber wie nicht alle Menschen in gleichem Maße am Leben hangen, so sind sie auch nicht gleichmäßig empfänglich für den Ruhmesgedanken. Diese edle Leidenschaft ist ihnen wohl auch ins Herz gesenkt, aber Phantasie und Erziehung wandeln sie auf tausend verschiedene Weisen.
Besteht dieser Unterschied schon zwischen Mensch und Mensch, so ist er in weit höherem Grade fühlbar zwischen Volk und Volk.
Man kann als Grundsatz aufstellen, daß in jedem Staat das Ruhmverlangen wächst mit der Freiheit der Untertanen und mit ihr abnimmt: der Ruhm ist nie der Genosse des Sklaventums.
Ein sehr vernünftiger Mann sagte mir neulich: »Man ist in Frankreich in vielen Hinsichten freier als in Persien; folglich liebt man hier auch den Ruhm mehr. Diese glückliche Vorstellung läßt jeden Franzosen mit Lust und Liebe tun, was ein Sultan von seinen Untertanen nur erreicht, indem er ihnen unaufhörlich Strafen und Belohnungen vor Augen hält.
»So ist denn auch der Fürst bei uns eifersüchtig auf die Erhaltung der Ehre auch des letzten seiner Untertanen bedacht. Dafür gibt es eigene, hochangesehene Gerichtshöfe. Das ist gleichsam das heiligste Gut der Nation und das einzige, über das der Herrscher nicht frei verfügt, weil er das schon in seinem eigenen Interesse nicht darf. Wenn sich also ein Untertan in seiner Ehre durch den Fürsten selbst für gekränkt hält, sei es durch eine Bevorzugung oder ein Zeichen der Mißachtung, verläßt er sofort den Hof, sein Amt, seinen Dienst und zieht sich ins Privatleben zurück.
»Der Unterschied zwischen den französischen Soldaten und den Euren ist der, daß die einen sich aus ihrer Natur nach feigen Sklaven zusammensetzen, die die Todesfurcht nur aus Furcht vor Strafe überwinden. Das erzeugt aber in der Seele eine neue Art von Furcht, die sie geradezu stumpfsinnig macht. Die anderen dagegen werfen sich den feindlichen Waffen mit Begeisterung entgegen und bannen die Todesfurcht durch eine ihr überlegene Befriedigung.
»Aber das Allerheiligste der Ehre, des guten Rufes und der Tugend scheint in den Republiken errichtet und den Ländern, wo man das Wort Vaterland aussprechen kann. In Rom, in Athen, in Sparta bezahlte die Ehre allein die ausgezeichnetsten Dienste. Ein Kranz von Eichenblättern oder Lorbeer, ein Standbild, eine Lobrede galt als eine gewaltige Belohnung für eine gewonnene Schlacht oder eine eroberte Stadt.
»Dort fand sich ein Mann, der eine gute Tat getan, durch diese Tat schon hinreichend belohnt. Er konnte nicht einen seiner Landsleute anblicken, ohne das frohe Bewußtsein zu haben, sein Wohltäter zu sein: er zählte die Zahl seiner Verdienste nach der seiner Mitbürger. Jeder Mensch ist fähig, einem andern Gutes zu tun, aber den Göttern gleichen heißt es, wenn man zu einer ganzen Gemeinschaft Glück beiträgt.
»Muß nun nicht dieser edle Wetteifer im Herzen der Perser ganz erloschen sein, bei denen Amt und Würde nur von der Laune des Herrschers abhängen? Guter Ruf und Tugend gelten dort als eingebildet, wenn sie nicht von der Gunst des Fürsten begleitet sind, mit der sie entstehen und vergehen. Ein Mann, der die allgemeine Achtung für sich hat, ist doch niemals sicher, am nächsten Tage nicht ehrlos zu sein. Heut ist er noch kommandierender General: vielleicht macht ihn der Fürst morgen zu seinem Leibkoch und er kann nur noch auf den Ruhm hoffen, ein gutes Ragout zu bereiten.«
Brief 90. (Fortsetzung.)
Aus dieser allgemein verbreiteten Leidenschaft der Franzosen für den Ruhm hat sich in der Seele des einzelnen ein gewisses Etwas herausgebildet, das man Ehrgefühl nennt. Es ist das Kennzeichen eines jeden Standes, doch ist es am ausgesprochensten bei den Mitgliedern des Heeres: das nennt man das Ehrgefühl par excellence. Es wäre schwer, Dir davon eine Vorstellung zu geben, weil wir nichts ganz Entsprechendes haben.
Ehemals gehorchten die Franzosen, besonders die Adligen, kaum anderen Gesetzen, als denen dieses Ehrgefühls. Diese Gesetze regelten ihre ganze Lebensführung, und sie waren so streng, daß man nicht ohne eine Strafe, die grausamer als die Todesstrafe war, ihre kleinste Bestimmung, ich will nicht sagen übertreten, sondern nicht einmal umgehen konnte.
Wenn es sich um Erledigung von Streitigkeiten handelte, so schrieben sie eigentlich nur einen Weg vor, das Duell, das alle Schwierigkeiten beseitigte. Aber das üble dabei war, daß das Urteil oft zwischen anderen Parteien als den eigentlich dabei interessierten ausgetragen wurde.
Vorausgesetzt, daß ein Mann mit einem anderen bekannt war, so mußte er bei einem vorliegenden Streite mit seiner Person für ihn eintreten, als wenn er selber der Gereizte wäre. Er fühlte sich immer durch eine solche Wahl und eine so schmeichelhafte Bevorzugung geehrt: und einer, der nicht vier Goldstücke hingegeben hätte, um einen anderen nebst seiner ganzen Familie vor dem Galgen zu bewahren, erhob keine Schwierigkeit, wenn es sich darum handelte, sein Leben für ihn zu wagen.
Diese Art der Entscheidung war ziemlich schlecht ausgedacht. Denn daraus, daß ein Mann stärker oder geschickter als ein anderer war, folgte noch nicht, daß das Recht auf seiner Seite stand.
Folglich haben die Könige das Duell bei strenger Strafe verboten. Aber vergeblich. Denn die Ehre, die immer noch herrschen will, empört sich dagegen und erkennt keine Gesetze an.
Folglich sind die Franzosen in einer bösen Zwangslage. Denn dieselben Ehrengesetze zwingen einen Ehrenmann, sich zu rächen, wenn er beleidigt ist, und auf der anderen Seite straft ihn die Justiz mit den grausamsten Strafen, wenn er sich rächt. Folgt man den Ehrengesetzen, so stirbt man auf dem Schafott, folgt man den bürgerlichen, so wird man für alle Zeit aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen. Es gibt also nur die eine grausame Wahl: sterben, oder unwürdig sein, zu leben.