Ivan Sergejevich Turgenev
In Moskau, an einer der abgelegeneren Straßen, in einem grauen Haus mit weißen Säulen und mit vor Alter schiefgewordenem Balkon, lebte, umgeben von ihrem zahlreichen Hausgesinde, eine alte Dame. Sie war Witwe. Ihre Söhne dienten in Petersburg. Die Töchter hatten geheiratet. Vereinsamt, geizig und gelangweilt lebte sie ihr Leben zu Ende, ein Leben, dessen freudloser Mittag längst vorüber und dessen Abend düster war.
Unter ihrer Dienerschaft fiel ein Mann auf durch seine Größe und herkulische Gestalt, Garassim, der Hausknecht. Er war von Geburt an taubstumm. Die Herrin hatte ihn vom Lande mitgenommen, wo er allein, getrennt von seinen Brüdern, ein einsames kleines Häuschen bewohnt hatte. Er galt für einen der ordentlichsten Fronbauern. Mit ungewöhnlicher Körperkraft begabt, arbeitete er für vier. Die Arbeit ging ihm flink von der Hand. Ein Vergnügen war es, ihm zuzusehen, wie er pflügte, die gewaltigen Hände am Werkzeug, so schob er den Pflug vor sich her, – das Pferd ging ohne Anstrengung voraus. – Oder wie er am Tag des Heiligen Peter die Sense schwang, vernichtend, als gälte es, einen jungen Birkenwald niederzumähen. Oder wie er das Getreide drosch mit seinem drei Ellen langen Flegel, unermüdlich und unablässig, im Auf- und Niederspiel seiner festen Muskeln. Das beständige Schweigen gab seiner Arbeit etwas Feierliches. Ein Bauer war er von der besten Art, und wäre sein Gebrechen, die Taubstummheit, nicht gewesen, jedes Mädchen des Dorfes hätte ihn gern geheiratet.
Aber da hatte man nun Garassim nach Moskau gebracht. Man kaufte ihm Stiefel, nähte ihm einen Kaftan für den Sommer und einen Schafspelz für den Winter, drückte ihm in seine großen Hände Schaufel und Besen. So war Garassim Hausknecht geworden.
Anfangs wollte ihm sein neues Leben gar nicht gefallen. Von Kindheit an war er an die Feldarbeit gewöhnt, an das ländliche Dasein. Durch sein Gebrechen von der Gemeinschaft der Menschen ausgeschlossen, war er aufgewachsen, stumm und mächtig, so wie ein Baum aufwächst auf fruchtbarer Erde. In die Stadt verpflanzt, begriff er nicht, was mit ihm geschah, fühlte sich fremd und unbehaglich und staunte, so wie ein junger gesunder Stier staunt, den man von der Weide nahm, wo das saftige Gras ihm bis an den Bauch stand, ihn forttrieb und in einen Viehwagen der Eisenbahn verlud, wo Dampf und Rauch und Funken um seinen Körper wehen, und den man nun fortschleppt, fährt, mit Gedröhn und Geheul, rasend schnell, Gott weiß wohin!
Die Arbeit, die Garassim in seinem neuen Amt zu leisten hatte, erschien ihm lächerlich leicht. In einer halben Stunde war er mit allem fertig. Dann stand er inmitten des Hofes und blickte mit offenem Munde umher, sah allen Vorübergehenden nach, als hoffte er von ihnen eine Erklärung seiner eignen rätselhaften Lage zu erhalten. Dann wieder plötzlich verkroch er sich in einen Winkel, schleuderte Besen und Schaufel weit von sich, warf sich zu Boden und lag stundenlang, das Gesicht an den Boden gedrückt, unbeweglich, wie ein gefangenes, großes, wildes Tier.
Aber der Mensch gewöhnt sich an alles, und so gewöhnte sich auch Garassim an die Stadt. Zu tun gab’s für ihn nicht viel: den Hof rein zu halten, zweimal am Tage eine Tonne Wasser heranzuführen, Holz für Küche und Haus zu besorgen und klein zu machen, im übrigen keine Fremden hereinzulassen und nachts aufzupassen. Diese seine Obliegenheiten erfüllte er gewissenhaft. Auf dem Hof lag nie ein Spänchen oder Federchen umher. Blieb einmal bei Regenwetter das kleine magere Pferd, das seiner Obhut anvertraut war, mit der Wassertonne im aufgeweichten Wege stecken, so genügte ein Druck seiner breiten Schulter, um nicht nur das Gefährt, sondern auch das Pferd vorwärts zu schieben. Wenn er Holz hackte, erklang das Beil in seiner Hand wie Glas, und Scheite und Späne flogen umher. Und seit der Zeit, da er einmal nachts zwei Diebe erwischte und sie mit den Köpfen so gegeneinander stieß, daß ihre Abführung zur Polizei sich erübrigte, – seit dieser Zeit stand er beim ganzen Stadtviertel in hohem Ansehen. Wer ihn zum erstenmal erblickte, erschrak vor dem bedrohlichen Hausknecht. Manch einer der Vorübergehenden rief ihm etwas zu, was er jedoch nicht hörte. Zu dem übrigen Hausgesinde war sein Verhältnis, wenn auch kein freundschaftliches, – denn man fürchtete ihn, – so doch ein vertrauliches. Er behandelte die Leute alle als seinesgleichen. Sie verständigten sich mit ihm durch Zeichen und er begriff sie und führte alle Anweisungen genauestens aus. Doch wußte er auch sein Recht zu wahren, und niemand hätte es gewagt, sich auf seinen Platz am Leutetisch zu setzen. Überhaupt war Garassim ein Mann von ernstem und strengem Wesen und liebte in allem die Ordnung. Selbst die Hähne durften sich in seiner Gegenwart nicht prügeln, sonst – wehe ihnen! Er ergriff sie an den Beinen, schwang sie in Kreisen ein Dutzendmal durch die Luft und warf sie auseinander. Im Hühnerhof wurden auch Gänse gehalten. Die Gans ist, wie man weiß, ein würdiger und vernünftiger Vogel. Garassim behandelte die Gänse mit Achtung, sorgte für sie und fütterte sie gern.
Er selbst hatte etwas von einem ehrbaren Gänserich. Man hatte ihm über der Küche sein Kämmerlein angewiesen. Er richtete es sich selber ein nach seinem Geschmack, baute ein Bett aus eichenen Planken auf vier Klötzen, ein wahrhaft herkulisches Bett. Hundert Pud hätte man darauf legen können, es hätte sich nicht gebogen. Unter dem Bett befand sich ein schwerer Kasten. In der Ecke des Zimmers stand ein Tisch von ebenso kräftiger Bauart und neben dem Tisch ein dreibeiniger Stuhl, – ein Stuhl von solcher Festigkeit und Erdenschwere, daß selbst Garassim über ihn lächelte, wenn er ihn zum Scherz aufhob und niederfallen ließ. Vor der Tür hing ein Vorhängeschloß, das wie eine schwarze Bretzel aussah. Den Schlüssel zu diesem Schloß trug Garassim stets am Gürtel bei sich. Er liebte es nicht, daß man seine Stube betrat.
So war ein Jahr vergangen, da kam es in Garassims Leben fast zu einer entscheidenden Wendung.
Die alte Herrin lebte nach den Gewohnheiten und Sitten der alten Zeit. Dementsprechend war ihre Dienerschaft eine sehr zahlreiche. In ihrem Hause gab es nicht nur Wäscherinnen, Näherinnen, Tischler, Schneider und Schneiderinnen, auch ein Sattler gehörte dazu. Dieser Sattler, namens Kapiton Klimow, war ein vielseitiger Mann. Er schnitt Riemen, machte Schuhe und außerdem kurierte er sowohl die Haustiere als auch die Hausleute und war der Leibarzt der Gnädigen. Im übrigen war er ein schwerer Säufer. Klimow hielt sich selbst für ein vom Schicksal gekränktes und von den Menschen verkanntes Wesen, einen Mann von Bildung und Welt, dem es eigentlich nicht zukam, in irgendeinem Winkel Moskaus zu verkümmern, und wenn er trank, so geschah es, wie er, an seine Brust schlagend, beteuerte, nur aus Gram. Eines Tages nun kam die Rede auf ihn, als die Herrin mit ihrem Haushofmeister Gawrila sprach, – einem Manne, dessen gelblichen Augen und entenschnabelförmiger Nase man es ansah, dass das Schicksal ihn zum Vorgesetzten ausersehen hatte. Die Herrin zeigte sich bekümmert über die Heruntergekommenheit Klimows, den man am Abend vorher irgendwo im Rinnstein aufgefunden hatte.
»Was meinst du, Gawrila,« sagte sie plötzlich, »sollten wir ihn nicht verheiraten? Vielleicht wird er dann mäßiger?«
»Warum sollte man ihn nicht verheiraten, gewiß, das ist möglich,« erwiderte Gawrila, »es wird das beste sein.«
»Ja, aber wer wird ihn nehmen?«
»Freilich. Übrigens wie Sie belieben. Zu irgend etwas wird er doch noch zu brauchen sein. Er gehört nun mal zum Hause.«
»Es scheint, die Tatjana gefällt ihm.« Gawrila wollte etwas entgegnen, kniff aber nur die Lippen zusammen. »Ja, mag er also die Tatjana freien!« entschied die Herrin, indem sie sich mit Genuß ihrer Schnupftabaksdose bediente. »Verstanden?« »Zu Befehl,« sagte Gawrila und entfernte sich. In sein Zimmer zurückgekehrt (es befand sich in einem Flügel des Hauses und war angefüllt mit allerlei Kisten und Kasten) schickte Gawrila zuerst seine Frau hinaus, dann setzte er sich ans Fenster und dachte nach. Dieser plötzliche Wunsch der Herrin kam ihm ungelegen. Endlich stand er auf und ließ Klimow zu sich rufen. Kapiton Klimow erschien … Aber ehe wir dem Leser das nun folgende Gespräch mitteilen, müssen wir ihm erzählen, wer diese Tatjana war, die mit Kapiton verheiratet werden sollte, auch warum die Angelegenheit den Haushofmeister in Verlegenheit brachte. –
Tatjana, die das Amt einer Wäscherin bekleidete, (ihr als kunstfertiger, geübter Wäscherin wurde die feinste Wäsche anvertraut) war etwa achtundzwanzig Jahre alt, klein, schmächtig und hellblond. Sie hatte auf der linken Wange ein Muttermal, was in Rußland als böses Zeichen gilt, denn es bedeutet ein unglückliches Schicksal. – Tatjana konnte sich keines glücklichen Lebens rühmen. Von frühester Jugend an hatte sie arbeiten müssen. Und sie arbeitete für zwei, ohne jemals irgend eine Freundlichkeit dafür zu erfahren. Immer war sie schlecht angezogen. Man gab ihr keine bessere Kleidung. Und ihr Lohn war ein sehr geringer. Von ihrer Verwandtschaft lebte niemand mehr, außer einem alten Onkel, den man, da er sonst zu nichts zu brauchen war, als Schließer auf dem Gut zurückgelassen hatte, und noch ein paar Onkels, die als Knechte dienten. Einstmals hatte sie für schön gegolten, aber die Schönheit war längst dahin. Sie hatte ein stilles, verängstigtes Wesen, gab selber nichts auf sich und fürchtete alle anderen. Sie dachte an nichts anderes als nur daran, mit ihrer Arbeit rechtzeitig fertig zu werden, sprach mit niemandem und zitterte vor dem Namen der Herrin, obwohl diese sie kaum von Angesicht kannte. Als Garassim vom Lande geholt wurde und im Hause erschien, fiel sie beim Anblick seiner gewaltigen Gestalt vor Schrecken fast in Ohnmacht, vermied es, ihm zu begegnen, und eilte, wenn es sich nicht vermeiden ließ, mit geschlossenen Augen an ihm vorbei. Zuerst beachtete Garassim sie kaum, dann grinste er, wenn sie ihm in den Weg lief, dann schaute er sie mehr und mehr an und schließlich verfolgte er sie mit seinen Blicken. Gott weiß, was ihm an ihr so sehr gefiel: vielleicht die Schüchternheit ihrer Bewegungen. – Eines Tages, als sie über den Hof ging, vorsichtig auf den Fingerspitzen ein frischgebügeltes Leibchen der Herrin tragend, fühlte sie sich plötzlich am Handgelenk gepackt. Sie blickte sich um und schrie auf: hinter ihr stand Garassim. Töricht lachend und freundlich brummend, hielt er ihr ein Pfefferkuchenhähnchen hin, mit Flittergold auf Schwanz und Flügeln. Sie wollte das Geschenk ablehnen, er drückte es ihr aber gewaltsam in die Hand, nickte mit dem Kopf und lief fort, ihr von weitem noch irgend etwas Freundliches zubrummend. Seit diesem Tage ließ er ihr keine Ruhe, wohin sie ging, da war er auch, überall kam er ihr entgegen, lächelnd, brummend und die Hände schwenkend. Er zupfte sie an der Bluse, an den Bändern, fegte mit seinem Besen den Weg vor ihr rein. Das arme Mädchen wußte sich vor ihm nicht zu retten. Bald erfuhr das ganze Haus von den Streichen des Hausknechts, Spott, Anspielungen, Sticheleien gingen auf sie nieder, jedoch mit ihm war man vorsichtiger: Garassim liebte Scherze nicht. Und auch sie ließ man in seiner Gegenwart in Ruhe. Ob sie wollte oder nicht, sie geriet unter seinen Schutz. Wie alle Taubstummen, war er in seiner Art sehr hellhörig und begriff sofort, wenn man sich über ihn oder sie lustig machte. Einmal während des Mittagessens geschah es, daß die Kastellanin, Tatjanas Vorgesetzte, sie, wie man sagt, aufzuziehen begann, so daß die Hilflose den Tränen nahe war. Plötzlich erhob sich Garassim, streckte seine gewaltige Pfote aus, legte sie der Kastellanin auf den Kopf und blickte ihr mit so finsterer Wildheit ins Gesicht, daß sie sich bis auf den Tischrand duckte. Alle wurden still. Garassim nahm darauf von neuem den Löffel zur Hand und fuhr fort, seine Kohlsuppe zu schlürfen. »Seht doch den stummen Teufel,« murmelten einige. Die Kastellanin aber stand auf und ging ins Mägdezimmer hinaus. Ein anderes Mal hatte Garassim bemerkt, daß Kapiton, derselbe, von dem soeben die Rede war, ein bißchen zu liebenswürdig mit Tatjana schwatzte. Garassim winkte ihn zu sich heran, führte ihn in die Wagenscheune, ergriff eine in der Ecke stehende Deichsel, und drohte damit, leicht, aber vielsagend. Seit dieser Zeit wagte niemand mehr, Tatjana auch nur anzureden. Die Kastellanin, im Mägdezimmer angelangt, war sofort in Ohnmacht gefallen. Überhaupt benahm sie sich so auffällig, daß Garassims grobes Benehmen noch am selben Tage zu Ohren der Herrin kam. Aber die wunderliche alte Dame lachte bloß, ließ sich zum Ärger der Kastellanin von ihr selber mehrmals vormachen, wie er ihr mit seiner schweren Hand den Kopf heruntergebogen habe, und schickte am nächsten Tage Garassim einen Rubel. Sie schätzte ihn als treuen und starken Wächter. Garassim hatte den gebührenden Respekt vor ihr, fürchtete sie, verließ sich aber doch auf ihre Gunst und beabsichtigte, sie nächstens darum zu bitten, ob sie ihm vielleicht gestatten wolle, die Tatjana zu heiraten. Er wartete nur noch auf seinen, ihm vom Haushofmeister versprochenen, neuen Kaftan, um würdig vor der Herrin zu erscheinen, – als es plötzlich dieser selben Herrin in den Sinn kam, Tatjana mit Kapiton zu verheiraten.
Der Leser wird hiernach begreifen, warum sich der Haushofmeister nach dem Gespräch mit der Herrin in einiger Verlegenheit befand. – »Die Herrin,« überlegte er, am Fenster sitzend, »hat den Garassim gern. (Gawrila wußte das und darum behandelte er ihn mit Nachsicht). Aber er ist stumm wie ein Tier. Soll ich vielleicht zur Herrin hingehen und ihr erzählen, daß dieser Garassim hinter der Tatjana her ist. Und wenn man sich’s recht überlegt, was ist es denn für ein Mann! Andererseits, wenn dieser Waldteufel, Gott verzeih mir, erfährt, daß man die Tatjana mit Kapiton verheiraten will, er schlägt uns, bei Gott, das ganze Haus in Stücke. Es ist ja nicht möglich, vernünftig mit ihm zu reden. Auf gar keine Weise wird man mit diesem Satan, Gott straf mich, fertig werden!«
Das Erscheinen Kapitons zerriß den Gedankenfaden Gawrilas. Der liederliche Schuhmacher trat ein, lehnte sich nachlässig, die Hände auf dem Rücken, an einen Vorsprung der Wand neben der Tür, setzte den rechten Fuß kreuzweis vor den linken und bewegte den Kopf hin und her. Seine Miene schien auszudrücken: »So, da bin ich, was will man von mir?«
Gawrila blickte ihn schweigend an, mit den Fingern leise auf dem Fensterbrett trommelnd. Kapiton kniff seine bleiernen Augen bloß ein bißchen zu, senkte sie aber nicht, lächelte sogar und strich mit der Hand über sein weißliches struppiges Haar, als wollte er sagen: »Nun, ja ich bin’s. Was glotzest du mich so an?«
»Schön,« sprach Gawrila gedehnt, »schön siehst du aus. Das muß man sagen.« – Kapiton zuckte bloß mit den Schultern. »Bist du vielleicht schöner?« dachte er. – »Nun schau dich doch bloß mal an,« fuhr Gawrila vorwurfsvoll fort, »schau dich an wie du aussiehst.« Kapiton sah ruhigen Blickes an sich herunter. Sein Rock war überall durchgetragen und zerfetzt, die Hosen notdürftig geflickt. Mit besonderer Aufmerksamkeit betrachtete er seine Stiefel, besonders den, auf dessen Spitze der andere so kokett gestützt war. Hiernach blickte er wieder den Haushofmeister an. »Nun, was denn?« – »Was denn?«, wiederholte Gawrila. »Was denn? Du fragst noch: was denn? Wie der Teufel siehst du aus, Gott verzeih mir die Sünde!« Kapiton zwinkerte bloß mit den Augen. »Schimpf soviel du willst, Gawrila Andrejitsch!« dachte er.
»Du bist also wieder besoffen gewesen,« begann Gawrila auf’s neue. »Schon wieder! Nun antworte!« – »Aus Gesundheitsrücksichten habe ich alkoholische Getränke zu mir genommen,« erwiderte Kapiton.
»Aus Gesundheitsrücksichten! … du hast lange keine Haue gekriegt, das ist es! Und hast in Petersburg studiert, sagst du … Hast was Rechtes gelernt bei deinem Studium! Du verdienst nicht, daß man dich füttert!«
»Was das betrifft, Gawrila Andrejitsch, ist Gott allein mein Richter, und sonst niemand! Er allein weiß, was für ein Mensch ich hier auf dieser Erde bin und ob ich wirklich mein Brot umsonst esse. Was aber das Saufen anbelangt, so bin ich in diesem Falle nicht schuld daran, sondern ein Kamerad ist es. Erst hat er mich verleitet und dann hat er mich verlassen, ist weggegangen und ich …«
»Und du bist im Rinnstein liegen geblieben, du Schwein. Oh, du verlotterter Mensch! – Doch es handelt sich nicht darum,« fuhr der Haushofmeister fort, »sondern um etwas ganz anderes. Die Herrin …« hier hielt er eine Weile inne, – »die Herrin geruht zu wünschen, daß du dich verheiraten mögest. Hörst du? Sie nimmt an, daß du verheiratet dich bessern wirst. Verstehst du?«
»Gewiß verstehe ich!«
»Nun also, wenns nach mir ginge, sollte man dich anders anfassen. Doch das ist ihre, der Herrin, Sache. Also was? bist du einverstanden?«
Kapitons Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. »Heiraten ist gut für den Menschen, Gawrila Andrejitsch. Und ich meinerseits werde dieser Aufforderung mit dem größten Vergnügen nachkommen.«
»Fein versteht der Mensch sich auszudrücken,« dachte Gawrila. »Nun ja,« fuhr er laut fort, »nur hat man dir eine etwas unschöne Braut ausgesucht.«
»Wen? Verzeihen Sie die Neugierde.«
»Tatjana.«
»Tatjana?«
Und Kapiton riß die Augen auf und stieß sich von der Wand ab.
»Nun, was soll die stürmische Miene, gefällt sie dir vielleicht nicht?«
»Warum sollte sie mir nicht gefallen, Gawrila Andrejitsch? Sie ist ein gutes Mädchen, still und fleißig. Aber, Sie wissen es ja selbst, dieser Kerl, dieser Waldteufel, dieser Steppenschrat, er ist ja …«
»Weiß ich, Bruder, weiß ich alles,« unterbrach ihn der Haushofmeister ärgerlich, »aber das ist doch …«
»Das ist schrecklich, Gawrila Andrejitsch! Er wird mich totschlagen, bei Gott, totschlagen wie eine Fliege. Er hat ja Hände, bitte wollen Sie so gut sein, sich seine Hände mal anzusehen. Und außerdem ist er taub. Er schlägt und hört es nicht, wie er schlägt. Wie im Schlaf schwenkt er seine Fäuste. Wie soll man ihn besänftigen? Das ist unmöglich, weil er taub ist und noch dazu dumm, dumm wie ein Stiefelabsatz. Ein wildes Tier ist er, Gawrila Andrejitsch, ein Ungeheuer, schlimmer als ein Ungeheuer, ein Götzenbild, ein Holzklotz. Warum gibt man mich ihm preis? Womit hab ich das verdient? Gewiß, das Leben hat mich mitgenommen, ich bin verbraucht, abgenutzt, verdreckt wie ein alter Kochtopf. Aber bin ich nicht doch ein Mensch, ein Mensch und nicht irgend ein alter wertloser Topf?«
»Weiß ich, weiß ich, red nicht so viel!«
»Herr, du mein Gott!« rief der Schuhmacher verzweifelt aus. »Wann hat denn dies alles ein Ende? Wann? Gott! Gott! Ein armer elender Mensch bin ich. Mir ist nicht zu helfen. Mein Schicksal, o du mein Schicksal! Als ich noch ganz klein war, hat man mich geschlagen bis aufs Blut. So bin ich aufgewachsen, und jetzt, da ich alt bin, das muß ich nun erleben!«
»Ach, du Waschlappen von einer Seele!« sagte Gawrila, »wozu erzählst du mir das alles?«
»Wie, wozu? Gawrila Andrejitsch! Ich fürchte mich ja nicht vor Schlägen. Bestrafe mich, wo du willst, hier oder vor allen Leuten, so bin ich doch ein Mensch unter Menschen. Aber, daß man mich diesem Tier ausliefert!«
»Nun, mach daß du rauskommst!« unterbrach ihn Gawrila ungeduldig.
Kapiton wandte sich ab und schlich hinaus.
»Aber, gesetzt den Fall, es gäbe ihn nicht,« rief ihm der Haushofmeister nach, »würdest du dann einverstanden sein?«
»Bereitwilligst einverstanden,« erwiderte Kapiton und entfernte sich. Seine Beredsamkeit verließ ihn selbst in den schwierigsten Fällen nicht.
Der Haushofmeister ging einigemal im Zimmer auf und ab.
»Ruft mir die Tatjana,« befahl er.
Nach wenigen Augenblicken trat Tatjana kaum hörbar in die Tür und blieb an der Schwelle stehen. »Was befehlen Sie, Gawrila Andrejitsch,« fragte sie mit leiser Stimme.
Der Haushofmeister sah sie scharf an.
»Nun, Tanjuscha,« sagte er endlich, »möchtest du heiraten? Die Herrin hat dir einen Bräutigam ausgesucht.«
»Wie Sie befehlen, Gawrila Andrejitsch. – Und wer ist es?« fügte sie zögernd hinzu.
»Kapiton, der Schuhmacher.«
»Wie Sie befehlen.«
»Er ist ein leichtsinniger Mensch, das stimmt. Aber die Herrin setzt ihre Hoffnungen auf dich.«
»Wie Sie befehlen.«
»Nur eine Schwierigkeit ist dabei. Dieser Taubstumme, Garasjka, er ist hinter dir her. Womit hast du nur diesen Bären angelockt? Er schlägt dich noch tot, dieser Bär.«
»Er schlägt mich tot, gewißlich tot, Gawrila Andrejitsch.«
»Er schlägt dich tot? Nun das wollen wir denn doch noch sehen. Wie kannst du sagen: er schlägt dich tot? Hat er denn ein Recht dazu? Urteile selbst.«
»Ich weiß nicht, ob er ein Recht dazu hat, Gawrila Andrejitsch.« – »Was du sagst! Hast du ihm denn irgend so etwas versprochen?« – »Wie meinen Sie das?« Der Haushofmeister schwieg und dachte: »O, du unschuldige Seele.« – »Nun gut,« fuhr er fort, »wir wollen darüber noch reden. Jetzt geh, Tanjuscha. Ich sehe, du bist ein braves Mädchen.«
Tatjana wandte sich, stützte sich leicht an den Türpfosten und ging.
»Vielleicht hat die Herrin morgen die ganze Hochzeit vergessen,« dachte der Haushofmeister. »Da hätte ich mich nun unnütz aufgeregt. Und mit diesem Rüpel werden wir auch noch fertig werden. Und wenn wir die Polizei rufen müßten …«
»Ustinja Fedorowna!« rief er mit lauter Stimme seine Frau, »richte mir den Samowar, meine Verehrte!«
Tatjana verließ an dem Tage die Waschküche nicht mehr. Erst weinte sie ein bißchen, dann wischte sie sich die Tränen ab und machte sich wie immer an ihre Arbeit. Kapiton saß bis spät in die Nacht hinein in der Kneipe mit einem Kameraden von düstrem Aussehen zusammen und erzählte ihm ausführlich von seinem Leben in Petersburg und von irgend einem Herrn dort. Der sei in allen Dingen sehr akkurat gewesen, nur einen Fehler habe er gehabt: zu viel getrunken habe er, und was das weibliche Geschlecht betrifft … Der düstre Kamerad hörte schweigend zu. Als Kapiton aber schließlich erklärte, er müsse morgen aus besonderen Gründen Hand an sich legen, bemerkte der düstre Kamerad, es sei Zeit schlafen zu gehen. So trennten sie sich kurz und grob.
Die Erwartungen des Haushofmeisters trafen indessen nicht ein. Der Gedanke, Kapiton zu verheiraten, beschäftigte die Herrin so sehr, daß sie auch in der Nacht von nichts anderem sprach. Diese nächtliche Unterhaltung wurde mit einer ihrer Hausdamen geführt, die bloß zu dem Zwecke im Hause gehalten wurde, der Herrin, die an Schlaflosigkeit litt, nachts die Zeit zu vertreiben, so daß sie, wie ein Nachtdroschkenkutscher nur am Tage schlief.
Als Gawrila nach dem Tee zur üblichen Meldung erschien, war ihre erste Frage: »Nun, wie stehts mit unserer Hochzeit?« – Worauf er, wie sich von selbst versteht, erwiderte, es könnte gar nicht besser stehen und Kapiton werde heute noch kommen, sich als Bräutigam vorzustellen. – Die Herrin erklärte, was oft geschah, ihr sei nicht wohl. So entließ sie ihn bald. Der Haushofmeister kehrte in sein Zimmer zurück und berief eine Versammlung ein. Der Fall verlangte eine besondere Beratung. Tatjana, wie zu erwarten war, widersetzte sich nicht. Kapiton aber erklärte vor der ganzen Versammlung, er habe bloß einen Kopf und nicht deren zwei oder drei. Garassim hatte die zur Versammlung Schreitenden finster beobachtet. Er schien erraten zu haben, daß da irgend etwas, für ihn nicht Gutes, im Gange war, und hielt sich beständig in der Nähe des von den Dienstboten bewohnten Flügels auf. – Die Beratung (an der auch der alte Mundschenk, bekannt unter dem Spitznamen »Onkel Schwanz« teilnahm – seine Meinung galt im Rate der Leute viel, obwohl er zu allem nur: »so, so, ja, ja« sagte) begann damit, daß man Kapiton zu seiner eigenen Sicherheit in den Verschlag einschloß, in dem sich der Wasserreinigungsapparat befand. Sodann ging es an ein großes Nachdenken. Zur Gewalt konnte man natürlich greifen. Aber Gott schütze davor! Es würde Lärm geben, die Herrin könnte sich aufregen. Also, wie sollte man es anfangen? Man dachte, dachte lange und kam zu folgendem Ergebnis: Es war wiederholt aufgefallen, daß Garassim Betrunkene nicht leiden konnte … Hinter seiner Pforte sitzend, wandte er sich jedesmal mit Abscheu ab, wenn er einen Betrunkenen vorüberschwanken sah, unsicheren Schrittes, die Mütze schief auf dem Ohr. Man beschloß, Tatjana sollte sich stellen, als sei sie betrunken und so sollte Garassim sie sehen. Das arme Mädchen wollte erst nichts davon wissen, aber man überredete sie. Auch sah sie ein, daß sie auf andere Weise ihren Anbeter nicht loswerden konnte. Sie ging also darauf ein, Kapiton wurde aus seinem Verschlag befreit: die Sache betraf ja immerhin ihn. Garassim saß auf dem Bänkchen an der Pforte und zeichnete mit der Schaufel Figuren in den Sand … Hinter allen Ecken hervor und durch die Gardinen der Fenster lugten die Beobachter.
Die List gelang. Tatjana erblickend, nickte er ihr wie gewöhnlich freundlich grunzend zu. Dann sah er genauer hin, die Schaufel entfiel ihm, er sprang auf, ging auf sie zu, sah sie ganz nahe an, Gesicht an Gesicht … Vor Schrecken schwankte sie noch mehr und hielt die Hände vor die Augen … Er ergriff sie an der Hand, brüllte über den ganzen Hof, führte sie in das Zimmer, darin der Rat tagte, und stieß sie Kapiton in die Arme. Tatjana war halbtot vor Angst … Garassim stand, blickte auf sie hin, machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand, lachte auf und ging schweren Schrittes in sein Zimmer …
Den ganzen Tag kam er nicht wieder hervor. Der Vorreiter Antipka erzählte nachher, er habe durch die Türritze gesehen, wie Garassim auf dem Bette sitzend, die Wange auf die Hand gestützt, leise, gleichmäßig, von Zeit zu Zeit laut aufknurrend, vor sich hingesungen habe, den Körper und den Kopf wiegend, mit geschlossenen Augen, so wie die Lastträger oder Flößer singen, wenn sie ihre traurigen Lieder anstimmen. Es sei ihm selber ganz trübsinnig zumute geworden, so daß er nicht lange durch die Türritze geschaut habe. Als darauf am anderen Tage Garassim wieder zum Vorschein kam, war ihm irgend eine Veränderung nicht anzumerken. Nur mürrischer erschien er, doch weder Tatjana noch Kapiton beachtete er auch nur im geringsten. Noch am selben Abend begaben sich die beiden, jedes eine Gans unter dem Arm, zur Herrin. Und nach einer Woche heirateten sie. Am Tage der Hochzeit selbst änderte Garassim sein Benehmen in nichts. Nur kam er ohne Wasser vom Fluß zurück, die Tonne hatte er unterwegs zerbrochen. Und zur Nacht im Stall putzte und bürstete er sein Pferdchen so stark, daß es schwankte wie Gras im Wind und von einem Bein aufs andere trat unter dem Druck seiner eisernen Fäuste. Alles dies geschah im Frühling.
Es verging noch ein Jahr, im Verlaufe dessen Kapiton sich endgültig um allen Verstand soff und als ein Mensch, der nun wirklich zu nichts mehr zu gebrauchen war, auf ein Fuder verladen und in ein entlegenes Dorf befördert wurde. Seine Frau ging mit ihm. Am Tage seiner Abreise redete er zuerst sehr mutig, man möge ihn schicken, wohin man wolle, er würde nirgends zugrunde gehen. Nachher aber sank seine Stimmung sehr herab und er begann zu klagen, man schicke ihn weg zu ungebildeten Leuten, und zum Schluß war er so schwach, daß er nicht mehr imstande war, sich selbst die Mütze aufzusetzen. Irgendeine mitleidige Seele drückte sie ihm auf den Kopf, rückte ihm den Schirm in die Stirn und klopfte mit der Hand darauf, daß sie festsäße. Als alles zur Abfahrt bereit war und der kutschierende Bauer die Zügel schon in der Hand hielt und nur noch auf das Wort »mit Gott« wartete, kam Garassim aus seinem Kämmerlein hervor, ging auf Tatjana zu und schenkte ihr zum Andenken ein rotes, baumwollenes Kopftuch, das er für sie vor einem Jahr gekauft hatte. Tatjana, die bis zu diesem Augenblick alle Widerwärtigkeiten des Lebens mit großem Gleichmut ertragen hatte, brach in Tränen aus, und, im Begriffe in den Wagen zu steigen, umarmte sie Garassim und küßte ihn nach Christenart dreimal auf die Wangen. Er wollte sie noch bis zum Schlagbaum vor die Stadt begleiten und ging ein Stück neben dem Wagen her, blieb aber plötzlich stehen, machte eine Bewegung mit der Hand und wandte sich ab, dem Flusse zu.
Es war gegen Abend. Garassim ging langsam und schaute ins Wasser. Plötzlich schien es ihm, als zappele da etwas im Schlamm, dicht am Ufer. Er beugte sich vor und erblickte ein kleines Hündchen, weiß mit schwarzen Flecken, dem es trotz aller Anstrengungen nicht gelang, ans Ufer herauszukriechen. Es zuckte, sprang, glitt ab und zitterte am ganzen, nassen, mageren Körper. Garassim streckte seine Hand danach aus, griff zu und barg es unter dem Rock an seiner Brust, dann ging er mit langen Schritten heim. In seinem Zimmer angelangt, legte er das gerettete Hündchen auf sein Bett, deckte es mit seinem schweren Schlafrock aus Kamelhaar zu, lief in den Stall nach Stroh und holte in einem Schälchen Milch aus der Küche. Vorsichtig den Schlafrock zurückschlagend und das Stroh ausbreitend, stellte er das Schälchen mit Milch aufs Bett. Das armselige Hündchen war kaum drei Wochen alt. Seine Augen, von denen das eine etwas größer erschien als das andere, hatten sich eben erst geöffnet. Es verstand noch nicht, aus dem Gefäß zu trinken, zitterte und blinzelte ängstlich. Garassim nahm es leicht mit zwei Fingern am Kopf und drückte sein Mäulchen in die Milch. Das Hündchen begann plötzlich gierig zu trinken, prustend und sich verschluckend. Garassim schaute, schaute und plötzlich lachte er übers ganze Gesicht … Die ganze Nacht gab er sich mit dem Hunde ab, rieb ihn mit trockenen Tüchern, bettete ihn und schlief endlich selber, neben ihm liegend, ein, leicht und froh.
Keine Mutter sorgt für ihr Kind so, wie Garassim für seinen Zögling sorgte. Es war eine kleine Hündin. In der ersten Zeit war sie sehr schwach, kränkelte, war häßlich. Nach und nach aber bekam sie ein besseres Aussehen, wurde kräftiger und als acht Monate vergangen waren, da war, dank der unermüdlichen Sorgfalt ihres Retters, ein recht wohlaussehendes Hündchen aus ihr geworden, spanischer Rasse, mit langen hängenden Ohren, einem buschigen, trompetenförmigen Schweife und großen ausdrucksvollen Augen. Sie schloß sich unzertrennlich an Garassim an, stets war sie mit ihm, folgte ihm überall hin, immer freundlich wedelnd. Auch einen Namen gab er ihr. Die Taubstummen wissen, daß ihre Kehllaute die Aufmerksamkeit der anderen auf sich lenken, – er nannte sie » Mumu«.
Alle Leute im Hause gewannen sie lieb und nannten sie gleichfalls »Mumu«. Sie war außerordentlich klug, verstand es, sich bei allen einzuschmeicheln, aber wirklich lieben tat sie nur Garassim. Garassim selber liebte sie über die Maßen, und es war ihm nicht angenehm, wenn andere sie streichelten. Fürchtete er, es könnte ihr etwas geschehen, oder war er eifersüchtig? Gott mag es wissen. – Des Morgens weckte sie ihn, indem sie ihn an der Bettdecke zupfte. Sie führte gern das alte Pferd, das zum Wasserführen diente und mit dem sie in großer Freundschaft lebte, am Zügel herbei und begleitete es mit wichtiger Miene an den Fluß. Sie bewachte Garassims Schaufeln und Besen und ließ niemand an sein Zimmer heran. Er sägte für sie eine Öffnung in seine Tür und sie schien es zu fühlen, daß sie nur in seinem Kämmerlein ganz zu Hause und die Herrin war. Wenn sie hereinkam, sprang sie vergnügt sofort aufs Bett. Nachts schlief sie überhaupt nicht, bellte aber niemals unnützerweise, wie anders törichte Hunde, die sich auf die Hinterbeins setzen und mit erhobenem Maul bloß aus Langerweile die Sterne anheulen, gewöhnlich dreimal hintereinander, nein! Mumu’s dünnes Stimmchen ertönte nie ohne ernste Veranlassung. Sei es, daß ein Fremder sich dem Zaune näherte, sei es, daß irgend ein verdächtiges Scharren hörbar wurde … Kurz – sie wachte ausgezeichnet. Allerdings gab es auf dem Hof außer ihr noch einen alten Köter, gelb mit braunen Punkten, Woltschok hieß er. Aber den ließ man niemals, auch nachts nicht von der Kette los, und er selber war so altersschwach, daß er nach keiner Freiheit mehr verlangte. Er lag zusammengerollt in seiner Hundehütte und erhob nur von Zeit zu Zeit ein heiseres, fast tonloses Bellen, das er aber bald wieder einstellte, so, als empfinde er selber seine Nutzlosigkeit. – In die herrschaftlichen Räume kam Mumu nicht mit. Wenn Garassim das Holz in die Zimmer trug, blieb sie draußen zurück, ihn an der Freitreppe ungeduldig erwartend, mit gespitzten Ohren, den Kopf bald nach rechts, bald nach links wendend, auf jedes Geräusch hinter der Tür achtend … So verging noch ein Jahr. Garassim verrichtete seine Hausknechtsarbeit und schien mit seinem Schicksal ausgesöhnt, – als plötzlich ein unerwartetes Ereignis eintrat … Eines schönen Tages ging die Herrin, umgeben von ihren Hausdamen, im Salon auf und nieder. Sie war gutgelaunt, lachte und scherzte. Also lachten und scherzten auch die Hausdamen, obwohl sie eigentlich nicht sonderlich vergnügt waren. Man freute sich nämlich nicht, wenn die Herrin ihre fröhliche Stunde hatte, denn erstens verlangte sie dann von allen ein sofortiges ebensolches Vergnügtsein und ärgerte sich, wenn irgendjemandes Antlitz nicht strahlte, – und zweitens waren diese Fröhlichkeitsanfälle meist nicht von langer Dauer, sondern pflegten bald einer düsteren und säuerlichen Stimmung zu weichen. – An diesem Tage war sie unter lauter glücklichen Zeichen aufgestanden. Beim Kartenlegen (sie legte sich jeden Morgen die Karten) hatte sie vier Buben aufgedeckt: »Erfüllung der Wünsche«. Den Tee hatte sie besonders schmackhaft gefunden, wofür das Stubenmädchen gelobt wurde und zwanzig Kopeken zur Belohnung erhielt. Mit einem süßlichen Lächeln auf den runzlichen Lippen spazierte sie durch den Salon und trat ans Fenster. Vor dem Fenster waren ein paar Latten des den Vorgarten umgebenden Zaunes herausgebrochen, und auf dem mittelsten Beet unter einem Rosensträuchlein lag Mumu und benagte mit Sorgfalt einen Knochen. Die Herrin erblickte sie. »Mein Gott,« rief sie aus, »was ist das für ein Hund?« Die Hausdame, an die sich die Herrin mit diesem Ausruf wandte, geriet in Verlegenheit. Sie befand sich in dem peinlichen Zustande, in welchem ein untergebener Mensch sich gewöhnlich befindet, solange er noch nicht genau weiß, wie er den Ausruf eines Vorgesetzten aufzufassen hat. »Ich … ich weiß nicht!« murmelte sie. »Ich glaube, des Stummen …« »Mein Gott,« unterbrach sie die Herrin, »das ist ja ein entzückendes Hündchen! Lassen Sie es hereinbringen. Hat er es schon lange? Wie habe ich es denn bis jetzt nicht gesehen? … Lassen Sie es hereinbringen.«
Die Hausdame flatterte ins Vorzimmer.
»Diener, Diener!« rief sie. »Führt Mumu herein, schnell! Sie ist im Garten.« –
»Ah, heißt sie Mumu?« fragte die Herrin. »Was für ein hübscher Name!« »Ach ja,« sagte die Hausdame, »sehr hübsch. Schnell, Stepan!« Stepan, ein kräftiger Bursche, der das Amt eines Lakaien bekleidete, stürzte in den Garten hinaus und wollte Mumu fassen, sie entwand sich aber geschickt seinem Griff und rannte mit hocherhobenem Schwanz geschwind zu Garassim, der eben vor der Küche damit beschäftigt war, die Wassertonne, die er wie eine Kindertrommel in den Händen drehte, auszuschwenken und auszuschütteln. Stepan lief hinter Mumu her und versuchte, sie unter den Füßen ihres Herrn zu fangen, aber das flinke Tier wollte sich von keinem Fremden anfassen lassen, drehte sich und sprang. Garassim sah lächelnd dem Treiben zu. Endlich gab Stepan ärgerlich die Jagd auf und machte Garassim durch Zeichen verständlich, daß die Herrin den Hund zu sich befohlen habe. Garassim war ein wenig erstaunt, jedoch er rief Mumu zu sich heran, hob sie auf und legte sie Stepan in den Arm. Stepan brachte sie in den Salon und stellte sie aufs Parkett. Die Herrin begann, sie mit schmeichelnder Stimme zu rufen. Mumu aber, die noch nie in so eleganten Räumen gewesen war, erschrak und wollte durch die Tür entfliehen, doch da der diensteifrige Stepan sie zurückstieß, drängte sie sich zitternd an die Wand.
»Mumu, Mumu, komm doch her zu mir, komm zu Frauchen!« sprach die Herrin, »komm du Dummes … hab keine Angst …«
»Geh, geh, Mumu, zu Frauchen,« fielen die Hofdamen ein, »geh, geh.«
Mumu aber schaute verängstigt um sich und rührte sich nicht von der Stelle.
»Bring ihr etwas zu essen,« befahl die Herrin, »wie ist sie töricht. Zu mir kommt sie nicht, wovor fürchtet sie sich denn?«
»Sie hat sich noch nicht gewöhnt,« flüsterte schüchtern und begütigend eine der Hausdamen. Stepan brachte ein Schüsselchen voll Milch und stellte es vor Mumu hin, aber Mumu roch nicht einmal daran, zitterte nur und blickte wie vorher um sich. »Ach, was hast du denn,« sagte die Herrin, indem sie auf Mumu zuging. Sie bückte sich und wollte sie streicheln. Mumu aber zuckte heftig mit dem Kopf und bleckte die Zähne. – Die Herrin zog die Hand schnell zurück …
Es entstand ein Augenblick des Schweigens. Mumu wimmerte leise, wie klagend und sich entschuldigend … Die Herrin trat zurück und blickte finster. Die plötzliche Bewegung des Hundes hatte sie erschreckt.
»Ach,« riefen alle Hausdamen zugleich. »Hat sie Sie nicht gebissen, Gott schütz! (Mumu hatte in ihrem Leben noch niemanden gebissen.) Ach, ach!« – »Bringt sie hinaus,« sprach mit veränderter Stimme die Herrin. – »Ein schlechtes Tier, wie ist es böse!«
Langsam wandte sie sich und ging in ihr Schreibzimmer. Die Hausdamen wechselten schüchterne Blicke und wollten ihr folgen. Da blieb sie stehen, sah ihre Begleiterinnen kalt an und sagte: »Wozu dies? Ich habe euch nicht aufgefordert, mir zu folgen,« und rauschte hinaus. Die Hausdamen erhoben ihre Arme verzweifelt gegen Stepan. Der ergriff Mumu und warf sie durch die Tür hinaus, gerade vor Garassims Füße. Und eine halbe Stunde später herrschte im Hause tiefste Stille. Die Herrin saß auf ihrem Divan finsterer als eine Gewitterwolke. Bis zum Abend war sie übel gelaunt, sprach mit niemandem, war selbst zum Kartenspiel nicht aufgelegt und verbrachte eine schlimme Nacht. Sie behauptete, man habe ihr nicht das richtige Eau de Cologne gereicht, das man ihr sonst zu reichen pflegte, das Kissen rieche nach Seife. Die Kastellanin wurde geholt und mußte die ganze Wäsche beriechen. Die Herrin war erregt und geriet über alles in Zorn. Am anderen Morgen befahl sie eine Stunde vor der üblichen Zeit, Gawrila zu rufen.
»Sage, bitte,« begann sie, kaum daß dieser, innerlich zitternd, die Schwelle ihres Schlafzimmers überschritten hatte, »was ist das für ein Hund, der da die ganze Nacht auf dem Hof gebellt hat? Er hat mich im Schlafe gestört.«
»Ein Hund, ja … was für einer … vielleicht des Stummen Hund,« antwortete er mit unsicherer Stimme.
»Ich weiß nicht, ob des Stummen oder sonst jemandes – ich habe nicht schlafen können. Ja, und ich wundere mich, wozu wir diese Menge Hunde haben. Das wünsche ich zu wissen. Wir haben doch schon einen Hofhund.« – »Gewiß, wir haben einen, Woltschok, ja.« »Nun also, wozu noch einen? Was sind das für Ungehörigkeiten? Es fehlt im Hause am Aufseher, daran liegts! Und wozu braucht der Stumme einen Hund? Wer hat ihm überhaupt erlaubt, in meinem Hause Hunde zu halten? Gestern, ich trete ans Fenster, da liegt der Hund im Garten, hat irgendetwas Ekelhaftes hingeschleppt und frißt es – und ich habe dort Rosen pflanzen lassen.«
Die Herrin schwieg eine Weile.
»Daß dieser Hund mir noch heute von hier verschwindet! Hörst du?« – »Zu Befehl!« – »Heute noch! Und jetzt geh! Zum Bericht werde ich dich nachher rufen lassen.« Gawrila ging.
Im Salon, durch den er kam, stellte Gawrila aus irgendeinem Ordnungsbedürfnis heraus ein silbernes Glöckchen von dem einen Tisch auf den anderen, schneuzte sich leise, leise seine lange Entennase und trat ins Vorzimmer hinaus. Hier lag Stepan auf einer Bank und schlief, – in der Stellung eines toten Kriegers auf einem Schlachtenbilde, seine nackten Füße ragten starr unter dem Rock hervor, der ihn statt eines Betttuches zudeckte. Der Haushofmeister stieß ihn leise an, bis er erwachte, und teilte ihm flüsternd einen Befehl mit, auf den Stepan halb mit einem Gähnen, halb mit einem Gelächter antwortete. Der Haushofmeister entfernte sich, Stepan sprang auf, zog Rock und Stiefel an, ging auf den Hof hinaus und blieb an der Freitreppe stehen. Es dauerte nicht lange, da erschien Garassim, ein gewaltiges Bündel Holz auf dem Rücken, begleitet von seiner unzertrennlichen Mumu. (Die Herrin ließ ihr Schlafzimmer und das Schreibzimmer auch im Sommer heizen.) Garassim stellte sich seitlich vor die Tür, stieß sie mit der Schulter auf und wälzte sich mit seiner Last ins Haus. Mumu blieb wie gewöhnlich wartend zurück. Diesen Augenblick nahm Stepan wahr, fiel über Mumu her, wie der Geier über das Lamm, drückte sie mit seiner Brust gegen den Boden, preßte sie mit beiden Armen an sich und lief, ohne sich erst die Mühe aufzusetzen, auf die Straße hinaus, sprang in die erste ihm begegnende Droschke und fuhr, den Kutscher zu schnellster Fahrt antreibend, zum Marktplatz. Hier fand er bald einen Käufer, dem er Mumu für einen halben Rubel überließ, – unter der Bedingung, daß jener sie wenigstens eine Woche lang angebunden halten sollte. Dann ging er zurück, entließ den Kutscher, ehe er das Haus erreicht hatte, ging aber nicht durch die Pforte, auch nicht durch die Hintertür hinein, sondern stieg von einer Seitengasse aus über den Zaun. Er fürchtete, Garassim zu begegnen.
Seine Besorgnis war jedoch eine unnötige. Garassim war nicht mehr auf dem Hofe. Als er aus dem Hause gekommen war, hatte er sofort Mumu vermißt. Noch niemals war es vorgekommen, daß sie an der Tür nicht auf ihn gewartet hatte. Er lief umher, suchte sie überall, rief sie auf seine Art, stürzte in sein Zimmer, auf den Hausboden, sprang auf die Straße hinaus, – hierhin, dorthin – sie war fort. Er wandte sich an die Leute, fragte nach ihr mit den allerverzweifeltsten Gebärden, indem er mit der Hand eine halbe Elle hoch vom Boden zeigte, sie zeigend beschrieb. – Etliche wußten wirklich nicht, wo Mumu geblieben sei und schüttelten verneinend die Köpfe. Andere wußten es und gaben ihm ein Lachen zur Antwort. Der Haushofmeister aber setzte eine außerordentlich wichtige Miene auf und schrie ohne Grund die Kutscher an. Da lief Garassim vom Hofe fort –
Es dämmerte bereits, als er zurückkehrte. Seinem unsicheren Gang, seiner bestaubten Kleidung, seiner erschöpften Haltung sah man es an, daß er die halbe Stadt durchlaufen und durchsucht hatte. Er blieb vor den Fenstern der herrschaftlichen Zimmer stehen, starrte die Leute an, die auf der Freitreppe standen, wandte sich ab und blökte noch einmal sein »Mumu«! Mumu antwortete nicht. Er ging, alle sahen ihm nach, aber keiner lächelte, keiner sagte ein Wort. Der neugierige Vorreiter Antipka erzählte am anderen Morgen in der Küche, der Stumme habe die ganze Nacht hindurch gestöhnt.
Am nächsten Tage zeigte Garassim sich nicht, so daß an seiner statt der Kutscher Potap nach Wasser fahren mußte, worüber der Kutscher Potap sehr ungehalten war. Die Herrin fragte Gawrila, ob ihr Befehl ausgeführt sei. Gawrila antwortete, er sei ausgeführt. Am Morgen darauf verließ Garassim sein Kämmerlein und ging an die Arbeit. Zum Mittagessen kam er, aß und stand vom Tische auf, ohne jemanden begrüßt zu haben. Sein Gesicht, das wie bei allen Taubstummen auch sonst einen leblosen Ausdruck zeigte, erschien jetzt wie versteint. Nach dem Mittagessen ging er wieder vom Hof, blieb aber nicht lange fort und begab sich, zurückgekehrt, sofort auf den Heuboden. Die Nacht kam, eine mond-helle, klare. Schwer atmend, stöhnend und sich hin- und herwälzend lag Garassim und plötzlich hatte er das Gefühl, als zupfte ihn etwas am Rock. Er zitterte, hob aber den Kopf nicht, kniff sogar die Augen noch fester zu. Aber wieder zupfte es, stärker als vorher. Er sprang auf … vor ihm, das Ende eines abgerissenen Strickes am Halse, drehte sich Mumu. Ein langer Schrei der Freude brach aus seiner stummen Brust. Er ergriff Mumu, preßte sie an sich. Sie hatte ihm im Augenblick die Augen geleckt, den Mund, den Bart … Er stand mit ihr da, überlegte, stieg vorsichtig vom Heuboden herunter, blickte sich um, ob ihn niemand sähe, und gelangte glücklich bis in seine Kammer. Garassim hatte es schon vorher erraten, daß seine Mumu nicht selber weggelaufen, daß sie auf Befehl der Herrin weggebracht worden war. Die Leute hatten es ihm durch Zeichen erklärt, wie sie die Herrin angefletscht hatte. Und so beschloß er, seine Maßnahmen zu ergreifen. Nun fütterte er sie, gab ihr Brot, streichelte, bettete sie. Dann fing er an nachzudenken, die ganze Nacht hindurch dachte er nach, wie er sie am besten verbergen könnte. Schließlich beschloß er, sie tagsüber in der Kammer zu halten und von Zeit zu Zeit nach ihr zu sehen und sie nur nachts hinauszuführen. Die Öffnung in der Tür verstopfte er mit seinem alten Schlafrock, und kaum graute der Morgen, da erschien er auf dem Hof, als sei nichts geschehen. Er gab sich sogar Mühe (o unschuldige List!), den Ausdruck des Betrübtseins zur Schau zu tragen. Dem armen Stummen konnte es nicht in den Sinn kommen, daß Mumu sich selber durch ihr Winseln verraten mußte. Tatsächlich wußten es im Hause bald alle, daß der Hund des Stummen zurückgekehrt war und eingesperrt in seinem Zimmer saß, aber teils aus Mitleid mit ihm und mit Mumu, teils vielleicht auch aus Furcht vor ihm, ließ niemand es sich merken, daß man sein Geheimnis durchschaut hatte. Der Hofmeister allerdings kratzte sich den Kopf, machte aber eine abwinkende Bewegung mit der Hand: »Nun, Gott mit ihm! Vielleicht erfährts die Herrin nicht!« Und niemals war der Stumme so eifrig bei seiner Arbeit gewesen wie an diesem Tage. Er fegte und kratzte den Hof sauber, entfernte jedes Gräschen, das zwischen den Steinen wuchs, zog eigenhändig alle Latten des Zaunes um den Vorgarten heraus, um sich zu vergewissern, ob sie noch fest seien, und schlug sie dann selber wieder hinein. Er gab sich so ersichtlich Mühe, daß sogar die Herrin auf seinen Fleiß aufmerksam wurde. –
Zweimal am Tage schlich Garassim leise zu seiner heimlich Gefangenen. Als es Nacht wurde, legte er sich schlafen, den Hund im Arm, und erst gegen zwei Uhr stand er auf, um mit ihr an die frische Luft hinaus zu gehen. Da er ziemlich lang im Hof umherspaziert war und eben in seine Kammer zurückkehren wollte, entstand hinter dem Zaun, von der Seitengasse her, ein leises Geräusch. Mumu spitzte die Ohren, knurrte, ging an den Zaun, schnüffelte und erhob ein langes durchdringendes Gebell. Irgendein Betrunkener hatte sich die Stelle am Zaun zum Nachtlager ausgesucht. Genau um diese Zeit war die Herrin nach einer langanhaltenden »nervösen Erregung« endlich eingeschlafen. Solche »nervöse Erregungen« gab es bei ihr stets nach einem gar zu reichlichen Abendessen. Sie erwachte von dem Gebell des Hundes und hatte das Gefühl, daß ihr Herz stille stünde: »Mädchen, Mädchen,« stöhnte sie angstvoll. »Mädchen!« – Die erschreckten Mädchen stürzten zu ihr ins Schlafzimmer. »O, ach, ich sterbe,« ächzte sie, die Arme ausbreitend. – »Wieder, wieder dieser Hund! – Ach! schickt nach dem Doktor! Man will mich töten … Der Hund, schon wieder der Hund! Ach!« – Und sie warf den Kopf zurück, was einen Ohnmachtsanfall vorstellen sollte. Man lief nach dem Doktor, das heißt nach dem Hausarzt Chariton. Dieser Arzt, dessen ganze Kunst darin bestand, daß er Schuhe mit weichen Sohlen trug, sehr zart den Puls zu fühlen verstand, vierzehn Stunden schlief und die übrige Zeit des Tages seufzte und außerdem der Herrin fortwährend Kirschlorbeerwasser einflößte, war sofort zur Stelle. Er räucherte das Zimmer mit verbrannten Federn, und als die Herrin die Augen aufschlug, reichte er ihr sogleich auf einem silbernen Tablett ein Gläschen mit den unvermeidlichen Tropfen. Die Herrin trank die Arznei, begann aber sofort wieder mit weinerlicher Stimme zu klagen: Der Hund – Gawrila – ihr Schicksal – man kümmere sich nicht um sie – die arme alte Frau – niemand habe Mitleid mit ihr – alles warte nur auf ihren Tod. –
Währenddessen bellte Mumu immer noch und Garassim bemühte sich vergeblich, sie vom Zaune wegzurufen. – »Da … da … wieder!« lallte die Herrin und verdrehte die Augen. Der Arzt flüsterte einem der Mädchen etwas zu. Das Mädchen lief ins Vorzimmer hinaus und weckte Stepan. Stepan eilte zu Gawrila und Gawrila befahl im Ungestüm, das ganze Haus zu alarmieren. Garassim sah sich um, bemerkte die aufleuchtenden Lichter und huschenden Schatten in den Fenstern und im Herzen ein nahendes Unheil ahnend, ergriff er Mumu, drückte sie an sich, lief mit ihr in seine Kammer hinauf und schloß sich ein. Wenige Augenblicke darnach stürmten fünf oder sechs Mann gegen seine Tür und blieben, da sie dieselbe verschlossen fanden, davor stehen. Gawrila kam aufgeregt herbei, befahl, alle sollten hier vor dieser Tür bis zum Morgen stehen und sie bewachen, stürzte wieder fort, drang in das Mägdezimmer ein und ließ durch Ljubow Ljubimowna, die älteste der Hausdamen, mit der er Tee, Zucker und andere Kleinigkeiten stahl, der Herrin melden, die Hündin sei unglücklicherweise wieder von irgendwoher zurückgelaufen, sie werde aber bestimmt morgen nicht mehr unter den Lebenden sein, die Herrin wolle gnädig aufhören zu zürnen und sich beruhigen. Die Herrin hätte sich wahrscheinlich noch lange nicht beruhigt, aber Chariton, der Arzt, hatte in der Eile statt zwölf Tropfen vierzig ins Glas geträufelt. Die Kräfte des Kirschlorbeer taten ihre Wirkung: nach einer Viertelstunde schlief die Herrin fest und friedlich. – Garassim lag auf seinem Bett, die Hände fest auf Mumu’s Schnauze gepreßt. –
Am Morgen erwachte die Herrin später als gewöhnlich. Gawrila wartete nur auf ihr Erwachen, um dann sofort den Befehl zum entschlossenen Angriff auf die Festung Garassims zu geben. – Er selber war darauf gefaßt, ein starkes Gewitter über sich ergehen zu lassen. Es kam aber zu keinem Gewitter. Im Bette liegend, befahl sie die älteste der Hausdamen zu sich.
»Ljubow Ljubimowna,« begann sie mit leiser und schwacher Stimme. Sie liebte es zuweilen, die arme, alte, verlassene Frau zu spielen, was für alle Bewohner des Hauses ein höchst quälender Zustand war. – »Ljubow Ljubimowna, Sie sehen in welcher Lage ich mich befinde, gehen Sie, liebe Seele, zu Gawrila Andrejitsch, sprechen Sie mit ihm, ist ihm denn wirklich irgend ein Hund teurer als die Ruhe, ja das Leben seiner Herrin! Das möchte ich denn doch nicht glauben müssen!« Sie sprach jetzt mit dem Ausdruck tiefen Gefühls: »Gehen Sie, meine Seele, seien Sie so gut, gehen Sie zu Gawrila Andrejitsch.«
Ljubow Ljubimowna begab sich in Gawrilas Zimmer. Was sie miteinander sprachen, bleibt uns unbekannt. Eine Weile nachher wälzte sich eine Menschenmenge über den Hof in der Richtung auf Garassims Tür. Voraus schritt Gawrila, den Schirm seiner Mütze mit der Hand festhaltend, obwohl gar kein Wind war. Hinter ihm kamen die Lakaien und Köche. Aus einem der Fenster schaute »Onkel Schwanz«. Er traf von dorther seine Anordnungen, d. h. er machte irgendwelche Bewegungen mit den Händen. Als letzte liefen hüpfend die Hausjungen hinterher, zu denen sich eine Anzahl fremder Knaben gesellt hatte. Auf der schmalen Treppe, die zu Garassims Kammer hinaufführte, saß einer der Diener als Wächter. An der Tür standen zwei andere mit Knüppeln. Man stieg die Treppe hinauf, stand gedrängt bis oben hin.
Gawrila ging bis zur Tür vor, schlug mit der Faust dagegen und rief: »Mach auf!« Man hörte ein unterdrücktes Bellen, doch keine Antwort erfolgte. »Ich sage dir, mach auf!« wiederholte er.
»Gawrila Andrejitsch,« ließ sich Stepan von unten her vernehmen, – »er ist ja taub und hört nichts!«
Alles lachte.
»Was soll man denn tun?« fragte unschlüssig Gawrila von oben.
»Er hat da eine Öffnung in der Türe,« erwiderte Stepan, »stecken wir einen Stock hindurch und bewegen wir ihn.« Gawrila bückte sich. »Er hat die Öffnung mit seinem Schlafrock zugestopft.«
»So stoßen Sie den Schlafrock hinein.«
Hier hörte man wieder ein dumpfes Bellen.
»Hört, hört, sie meldet sich selbst,« rief eine Stimme, und die Menge lachte.
Gawrila kratzte sich hinterm Ohr. »Nein, Bruder,« sagte er nach längerem Nachdenken. »Den Schlafrock stoß du selbst hinein, wenn du magst.«
»Ei, warum denn nicht, erlauben Sie!« Und Stepan drängte sich nach oben durch, ergriff einen Stock, stieß den Ballen, der die Öffnung verstopfte, hinein, schob den Stock durch und bewegte ihn hin und her. Dazu wiederholte er: »Komm heraus, komm heraus!« Er war noch mit seinem Stock beschäftigt, als plötzlich die Tür schnell aufflog. Das ganze Hausgesinde kugelte die Treppe hinunter, allen voran Gawrila. ›Onkel Schwanz‹ schloß sein Fenster.
»Na, na, na!« schrie Gawrila vom Hofe her, »du, sieh dich vor!«
Garassim stand unbeweglich auf der Schwelle, die Menge sammelte sich vor der unteren Stufe der Treppe. Garassim blickte auf alle diese Menschlein in ihren deutschen Röcken von oben herab, die Hände leicht in die Hüften gestützt. In seinem roten bäurischen Hemde erschien er, wie er da oben stand, als ein Riese. Gawrila trat einen Schritt vor. »Sieh dich vor, Bruder!« rief er nochmal. »Du, mach mir hier keine Geschichten!«
Und er begann, ihm durch Zeichen zu erklären, – die Herrin fordert deinen Hund. Gib ihn her, unbedingt, sonst wird es dir schlecht gehen! – Garassim sah ihm ins Gesicht, zeigte auf den Hund, machte mit der Hand an seinem eigenen Halse die Bewegung des Hängens und sah noch einmal mit fragendem Gesichte den Haushofmeister an.
»Ja, ja,« erwiderte dieser und nickte mit dem Kopf. »Ja, unbedingt!«
Garassim senkte die Augen, schüttelte sich, zeigte wieder auf Mumu, die während der ganzen Zeit neben ihm stand, unschuldig mit dem Schwanze wedelnd und aufmerksam die Ohren bewegend. Er wiederholte das Zeichen des Erhängens am Halse und schlug sich bedeutsam an die Brust, damit erklärend, er wolle es selbst auf sich nehmen, Mumu umzubringen. »Ja, du wirst uns betrügen,« winkte Gawrila als Antwort hinauf.
Garassim sah ihn an, lachte verächtlich auf, deutete noch einmal mit der Faust auf seine Brust, trat zurück und schlug die Tür zu.
Alle sahen einander wortlos an. »Was hat das zu bedeuten?« begann Gawrila. »Er hat sich wieder eingeschlossen.«
»Laßt ihn in Ruh,« sagte Stepan. »Wenn ers versprochen hat, wird ers tun. So ist er. Wenn er etwas verspricht, kann man sich darauf verlassen. Darin ist er anders als unsereins.«
»Was wahr ist, das ist wahr. Ja!«
»Ja« – wiederholten alle und nickten mit den Köpfen. »So ist es, ja!« Onkel Schwanz öffnete sein Fenster und sagte gleichfalls »Ja«.
»Nun, meinetwegen,« meinte Gawrila, »wir werden ja sehen, aber der Wachtposten bleibt. He, du, Jeroschka!« wandte er sich an ein kleines blasses Männchen, das einen gelben Kosakenkittel trug und für die Gartenarbeit verwendet wurde. »Du hast ja nichts zu tun. Nimm einen Knüppel und setze dich her, und wenn irgend etwas passiert, dann läufst du gleich zu mir …«
Jeroschka nahm einen Knüppel und setzte sich auf die unterste Stufe der Treppe. Die Menge ging auseinander, nur einige Neugierige blieben noch. Gawrila kehrte ins Haus zurück und ließ durch Ljuba Ljubimowna der Herrin melden, daß der Befehl ausgeführt sei, – schickte aber selber auf alle Fälle einen der Vorreiter zum Polizeiwachtmeister. Die Herrin band sich einen Knoten ins Taschentuch, goß Eau de Cologne darauf, roch daran, rieb sich damit die Schläfen, trank ihren Morgentee, und da die Kirschlorbeertropfen immer noch wirkten, schlief sie bald wieder ein. Eine Stunde nach diesem ganzen Aufruhr öffnete sich die Tür von Garassims Zimmer und er trat heraus. Er hatte seinen Sonntagsrock an. Mumu führte er an einer Schnur. Jeroschka stand von seinem Sitz auf. Garassim ging an ihm vorbei und auf die Pforte zu. Die Knaben auf dem Hof sahen ihm nach, schweigend. Er blickte sich nicht um. Die Mütze setzte er erst auf der Straße auf. Gawrila schickte denselben Jeroschka als Beobachter hinter ihm her. Jeroschka sah von weitem, wie er mit dem Hunde in eine Gastwirtschaft ging, und wartete, daß er wieder herauskäme.
In der Gastwirtschaft kannte man Garassim und begriff seine Zeichen. Er bestellte sich eine Kohlsuppe mit Fleisch und setzte sich, die Arme breit aufgestützt, an den Tisch. Mumu stand neben seinem Stuhl, ihn ruhig mit ihren klugen Augen anblickend. Ihr Fell glänzte: man sah es ihr an, daß sie erst vor kurzem gekämmt und gebürstet worden war. Die Kohlsuppe wurde gebracht. Er brockte Brot hinein, zerschnitt das Fleisch in kleine Stücke und stellte den Teller auf den Fußboden. Mumu begann zu essen mit der ihr eigenen Höflichkeit, die Speise nur ganz zart berührend. Garassim schaute ihr lange zu. Zwei schwere Tränen rollten aus seinen Augen: die eine fiel auf die Stirn des Hundes, die andere in die Kohlsuppe. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen. Mumu hatte den halben Teller geleert und trat zurück, sich das Mäulchen leckend. Garassim stand auf, zahlte und ging hinaus, begleitet von den erstaunten Blicken des Kellners. Jeroschka sprang, als er Garassim erblickte, hinter die Ecke und ging, nachdem er ihn vorbeigelassen hatte, wieder hinter ihm her.
Garassim ging ohne Eile, Mumu immer an der Schnur führend. An der Straßenecke blieb er wie überlegend stehen und wandte sich plötzlich mit schnellen Schritten der Krymschen Furt zu. Auf dem Wege dahin ging er in den Hof eines Hauses hinein, an das ein Flügel angebaut wurde, und kam mit zwei Ziegelsteinen unter dem Arm heraus. Von der Krymschen Furt an ging er am Ufer entlang, kam bis zu einer Stelle, wo zwei kleine Boote mit Rudern an Pfähle angebunden lagen (er hatte sie schon früher einmal bemerkt), sprang in eines der Boote, zusammen mit Mumu. Ein lahmer, alter Mann kam aus einer Hütte hervor, die in der Ecke eines Gemüsegartens am Ufer stand und begann zu rufen. Garassim aber schüttelte nur den Kopf und ruderte so kräftig, daß er, obwohl es gegen die Strömung ging, bald über hundert Schritt weit vom Ufer entfernt war. Der Alte, ihm nachschauend, kratzte sich erst mit der linken, dann mit der rechten Hand den Rücken und kehrte lahmend in seine Hütte zurück.
Garassim ruderte und ruderte. Schon war er an den letzten Häusern Moskaus vorüber, schon erstreckten sich an den Ufern hin Wiesen, Gärten, Felder, Wälder. Dorfhütten tauchten auf, Landluft wehte. Er zog die Ruder ein, drückte seinen Kopf an Mumu, die vor ihm auf einem trocknen Querbrette saß, – der Boden des Bootes war naß, – und blieb so, unbeweglich, die mächtigen Hände über ihrem Rücken gekreuzt, während die Strömung leise das Boot zur Stadt zurücktrieb. Endlich richtete Garassim sich auf, hastig, leidend, zornigen Gesichtes, band die Schnur um die mitgebrachten Ziegelsteine, knüpfte eine Schlinge, legte sie Mumu um den Hals, hob sie auf über den Fluß, blickte zum letztenmal auf sie hin … Sie sah ihn voller Vertrauen und ohne Angst an und wedelte ein wenig mit ihrem buschigen Schweif. Er wandte sich ab, schloß die Augen und öffnete die Hände. Garassim hörte nichts, weder das kurze Winseln der fallenden Mumu, noch das schwere Aufplätschern des Wassers, – für ihn war ja der lärmende Tag so ohne Laut und Rede, so still wie für uns die stillste Nacht nicht ist, – und als er die Augen wieder auftat, da eilten wie vorher, einander folgend, die kleinen Wellen über den Fluß, plätscherten wie vorher an die Wände des Bootes, und nur weit hinten ans Ufer verliefen ein paar breitere Ringe. Jeroschka, kaum daß Garassim seinen Blicken entschwunden war, kehrte sofort nach Hause um und berichtete, was er gesehen hatte.
»Nun ja,« meinte Stepan, »er wird sie ertränken. Da kann man ganz sicher sein, wenn er etwas versprochen hat …«
Zum Mittagessen kam Garassim nicht nach Hause, auch zum Abendessen nicht. Man setzte sich an den Tisch ohne ihn.
»Was für ein Sonderling ist dieser Garassim,« sprach die dicke Wäscherin mit piepender Stimme. »Eines Hundes wegen solche Sachen anzustellen! Wirklich sonderbar.« –
»Garassim war ja hier,« sagte plötzlich Stepan, der seine Grütze löffelte. »Wie? Wann?«
»Ja, vor ungefähr zwei Stunden. Wißt ihrs denn nicht. Ich bin ihm in der Pforte begegnet. Er kam gerade heraus, ging wieder fort. Ich wollte ihn fragen, was nun mit dem Hunde sei, er war aber offenbar nicht bei Laune. Und da gab er mir einen Stoß. Wahrscheinlich wollte er nur, daß ich ihm aus dem Wege gehe, wollte mich los sein, so: laß mich in Ruhe, – aber der Stoß, den er mir versetzte, war kein leichter, so – mit Nachdruck, – oi, oi!« – und Stepan rieb sich, ärgerlich lachend, den Nacken. – »Ja,« fügte er hinzu, »er hat eine Hand, eine segensreiche Hand, das muß man sagen.«
Alle lachten über Stepan. Und nach dem Abendessen trennte man sich und ging schlafen.
Währenddessen, genau um diese Zeit, wanderte auf der T.schen Chaussee ein Mann, ein Riese, einen Sack über der Schulter, in der Hand einen langen Stecken. Das war Garassim. Er schritt ohne Umschau, eilte nach Hause zu sich auf sein Dorf, in die Heimat. Nachdem er Mumu ertränkt hatte, war er in seine Kammer gelaufen, hatte ein paar seiner Habseligkeiten schnell in eine alte Pferdedecke gepackt, ein Bündel daraus gemacht, es über die Schulter geworfen und war gegangen. Den Weg hatte er sich gut gemerkt, damals als man ihn nach Moskau brachte. Das Dorf, aus welchem ihn die Herrin geholt hatte, lag kaum zwanzig Werst von der Chaussee entfernt. Nun ging er, ging wie in unbeirrbarem Wagemut, in verzweifelter und zugleich freudiger Entschlossenheit. Er ging. Breit atmete seine Brust unter dem offenen Hemde. Seine Augen waren gierig und gerade vorwärts gerichtet. Er eilte, als erwarte ihn zu Hause eine alte Mutter, als riefe sie ihn heim zu sich nach langer Irrfahrt durch fremde Stätten unter fremden Menschen … Die Sommernacht war still und warm. Von der einen Seite, dort wo die Sonne untergegangen war, glänzte der Rand des Himmels weißlich und zart rosenrot im letzten Widerschein des versunkenen Tages. Von der andern Seite stieg bläulich-grau die Dämmerung herauf. Von dorther kam die Nacht. Die Wachteln schnarrten im Felde, riefen einander ihren Lockruf zu … Garassim hörte sie nicht, und nicht hörte er das Flüstern im Blattwerk der Bäume, an denen vorbei ihn seine starken Füße trugen, aber er spürte den bekannten Duft des reifenden Kornes, der von den dunklen Feldern herwehte, spürte den Wind, der ihm entgegenflog, – den Wind der Heimat, – der zärtlich um sein Gesicht strich, in seinem Haupthaar und Bart spielte. Er sah vor sich den schimmernden Weg, – den Weg nach Hause, – gerade wie ein Pfeil. Sah am Himmel die unzählbaren Sterne, die seinem Wege leuchteten. Und wie ein Löwe schritt er aus, stark und fröhlich, – und als die aufgehende Sonne mit ihren feuchtrosigen Strahlen ihn anlachte, – so wie die Sonne junge Helden anlacht, – da lagen zwischen ihm und Moskau schon fünfunddreißig Werst … Nach zwei Tagen war er zu Hause, trat in seine Hütte, zur großen Verwunderung der alten Soldatenfrau, der man das Haus inzwischen angewiesen hatte. Nachdem er vor den Heiligenbildern seine stumme Andacht verrichtet hatte, begab er sich sofort zum Gemeindeältesten. Dieser war anfänglich ein wenig ratlos. Aber die Heumahd hatte soeben begonnen. Man gab Garassim als einem ausgezeichneten Arbeiter gleich dort eine Sense in die Hand, – und er ging mähen und mähte wie früher und mähte so, daß ein heiliger Schauer die Bauern ergriff, die seine Sensenschwünge und Sensenhiebe sahen …
In Moskau, am nächsten Tage nach Garassims Flucht, begann man ihn zu suchen. Man suchte in seinem Zimmer, wühlte unter seinen Sachen. Dann sagte man es Gawrila. Der kam, sah sich um, zuckte die Achseln, der Stumme war entweder davongelaufen oder mit seinem Hunde ertrunken. Man benachrichtigte die Polizei, meldete es der Herrin. Die Herrin geriet in Zorn, weinte, jammerte und befahl, ihn aufzusuchen, auf jeden Fall unbedingt aufzusuchen, beteuerte, sie habe niemals den Befehl gegeben, den Hund umzubringen. Und schließlich war Gawrila an allem schuld und bekam ein solches Donnerwetter zu hören, daß er den ganzen Tag nur noch den Kopf schüttelte und vor sich hinmurmelte: »Na!« – bis Onkel Schwanz ihn schließlich tröstete, indem er sagte: »Na, na!« –
Einige Zeit nachher kam die Nachricht aus dem Dorfe, Garassim befinde sich dort. Die Herrin beruhigte sich allmählich. Zuerst hatte sie den Befehl geben wollen, Garassim unverzüglich wieder nach Moskau zu schaffen. Aber dann erklärte sie, einen solch undankbaren Menschen habe sie auch gar nicht nötig. Übrigens starb sie auch bald darnach, und ihre Erben hatten an anderes zu denken, als an Garassim. Sie entlohnten und entließen auch bald die andern Dienstboten der alten Dame.
Und so lebt Garassim noch heute als Bauer ohne Land in seiner einsamen Hütte. Gesund ist er und mächtig wie früher, und wie früher arbeitet er für vier, und ist wie früher ehrsam und gewichtig. Aber die Nachbarn haben bemerkt, daß er seit seiner Rückkehr aus Moskau ganz aufgehört hat, sich mit den Mädchen abzugeben, er sieht sie nicht einmal an. Und keinen Hund hält er in seinem Hause.
»Übrigens,« so reden die Bauern, – »sein Glück ists, wenn er ohne die Weiber auskommt. Und ein Hund, – wozu braucht er einen Hund? Auf seinen Hof kommt doch kein Dieb, zu ihm getraut sich keiner.« –
Denn große Dinge erzählt man sich von der reckenhaften Stärke des Stummen.