(1912)

Die historische oder quasi-historische Persönlichkeit Hodscha Nasreddin Die Eulenspiegelfigur der Türken (Anm. des Herausgebers), auf deren Namen Schwänke und Schnurren gesammelt sind, soll eine Art Spaßmacher des Eroberers Tamerlan gewesen sein. Diez schrieb seinerzeit über ihn an Goethe, er sei «nicht sowohl ein witziger Kopf, als ein ziemlich platter und unsauberer Schwänkemacher gewesen», und drückt damit wohl das allgemeine Urteil des durchschnittlichen Gebildeten aus, der nicht seine zufälligen persönlichen Vorstellungen verlassen kann. Der nachdenklichere Goethe antwortete: «Die Stellung solcher Lustigmacher an Höfen bleibt immer dieselbe, nur das Jahrhundert und die Landschaft machen Abstufungen und Schattierungen, und so ist denn dieser sehr merkwürdig, weil er den ungeheuren Mann begleitet, der in der Welt so viel Unheil angerichtet hat, und den man hier in seinem engen und vertrautesten Zirkel sieht.» Mag es sich mit dem Historischen verhalten, wie es will: das ist jedenfalls höchst merkwürdig, daß doch die Vorstellung herrscht, der Welteroberer habe sich an dem kindlichen und ganz volkstümlichen Spaßmacher vergnügt – ein Welteroberer, der für sich selber und seine Werkzeuge die bedeutendsten Qualitäten gehabt haben muß; man sieht da einen ganz engen geistigen Zusammenhang der Höchsten einer Nation mit den Niedrigsten, den die meisten Menschen von heute in unserer Differenzierung sich gar nicht mehr vorstellen können. Ich selber habe meine Jugend noch in einer Gegend erlebt, wo ein altes Volkstum lebendig war, und habe dort sogar einige der Schwänke gehört (derartige Erzählungen sind ja immer international), und ich kann mir jenen Zusammenhang doch wenigstens in der Phantasie klarmachen: aber das ist Ergebnis eines bloßen Zufalls. In dieser Differenzierung wird wohl die tiefste Schwäche unserer Kultur und der eigentliche Grund ihrer Unfruchtbarkeit liegen. – Die Schwänke und Schnurren sind in der primitiven Gestalt, in welcher sie vorliegen, scheinbar nicht besonders hervorragende Leistungen des Menschenwitzes; sieht man aber genauer zu, so findet man fast in jedem einen glücklichen Griff, Natur und die Möglichkeit zu einem bedeutsamen künstlerischen Gebilde; nur wenige Einfälle haben irgendwo jemand gefunden, der ein solches aus ihnen gemacht hat; aber das gehört denn auch zu dem Besten, was wir in der Art besitzen.