DAS ABENTEUER MIT DEM TEUFELSFUß

Arthur Conan Doyle

Wenn ich von Zeit zu Zeit einige der merkwürdigen Abenteuer und interessanten Begebnisse veröffentlicht habe, die mir aus der langen und engen Freundschaft mit Sherlock Holmes erwuchsen, so hatte ich ständig mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die aus seiner Abneigung gegen eine Veröffentlichung hervorgingen. Für seinen zynischen und mürrischen Geist war jede öffentliche Lobeserhebung stets etwas nahezu Verächtliches, und nichts war belustigender, als wenn er am Ende eines erfolgreichen Falles die Einzelheiten seiner Kombinationen und Nachforschungen den »orthodoxen« Polizeibeamten darlegte und diese in einem Chor von unerwünschten Beglückwünschungen ihn priesen, während er mit sarkastischem Lächeln abwehrte. In der Tat war es nur diese Eigentümlichkeit meines Freundes, und keineswegs Mangel an interessantem Material, was mich veranlaßt hat, in den letzten Jahren so gut wie nichts zu veröffentlichen. Meine Beteiligung an so vielen Abenteuern des Sherlock Holmes war eine Bevorzugung, die mir Rücksichtnahme und Zurückhaltung auferlegte.

Ich war daher aufs höchste erstaunt, als ich vergangenen Dienstag von ihm ein Telegramm erhielt – er schrieb nie einen Brief, wo ein Telegramm ausreichte – mit folgendem Wortlaut: »Warum nicht die Geschichte vom Teufelsfuß schreiben? Sonderbarster Fall, den je behandelt.« Ich habe keine Vorstellung davon, was für eine rücklaufende Welle des Gedächtnisses diesen Fall auf einmal in den Vordergrund seines Bewußtseins gerückt hatte, oder welche Laune ihn wünschen ließ, daß ich gerade dieses Abenteuer veröffentliche. Aber ich beeile mich, meine alten Aufzeichnungen, die die Einzelheiten des Falles enthalten, herauszusuchen und die Geschichte meinen Lesern vorzusetzen, ehe noch ein telegraphischer Widerruf aus der Bakerstraße mich daran hindern könnte.

Holmes’ eiserne Gesundheit war infolge allzu angestrengter Arbeit aufregendster Art wackelig geworden, wozu vielleicht einige seiner unhygienischen Gewohnheiten mit beitrugen. Im März ordnete Dr. Moore Agar, von der Harleystraße, dessen dramatische Einführung bei Holmes ich eines Tages wohl auch noch erzählen werde, an, daß der berühmte Privatdetektiv alle seine Fälle liegen lasse und sich gänzlich jeglicher Arbeit enthalte, wenn er einen völligen Zusammenbruch verhüten wolle. Seine Gesundheit war etwas, das ihn am wenigsten auf aller Welt interessierte, denn seine geistige Loslösung von seinem Körper war fast absolut; aber er gab dem Arzte schließlich nach, als dieser drohte, er werde sonst für immer arbeitsuntauglich werden. So entschied er sich für einen durchgreifenden Luft- und Szenenwechsel. Wir befanden uns daher im Frühjahr in einem kleinen Landhäuschen nahe der Poldhubay, an dem äußersten Ende der cornischen Halbinsel.

Es war ein eigenartiger Ort, ganz besonders geeignet für die grimme Laune meines Patienten. Von den Fenstern unseres kleinen, weißgetünchten Hauses, das hoch auf einem grünen Hügel stand, sahen wir hinunter auf den ganzen finsteren felsigen Halbkreis der Mounts Bay, dieser alten Todesfalle der Segelschiffe, mit ihrem Kranz schwarzer Klippen und brandunggepeitschter Riffe, auf denen unzählige wackere Seeleute ihr Ende gefunden haben. Bei einer nördlichen Brise liegt das Meer dort ruhig und geschützt, wie in einem Hafen und verleitet das sturmgeprüfte Schiff, hier Schutz und Ruhe zu suchen. Dann kommt die plötzliche Drehung des Windes, der brausende Sturm von Südwest, der schlippende Anker, die Leeküste und der letzte Kampf in der brüllenden Brandung. Der weise Seefahrer hält sich weit ab von diesem verhängnisvollen Ort.

Auf der Landseite war unsere Umgebung ebenso düster wie nach dem Meere zu. Eine Gegend voll endloser Moore, einsam, schwärzlich gefärbt. Gelegentlich ein Kirchturm, der die Lage eines uralten Dorfes anzeigt. Überall in diesen Mooren fand man Spuren einer verschwundenen Rasse, die nichts zurückließ, als einige sonderbare Steindenkmale, unregelmäßige Hügel, die in ihrem Innern die Asche der Toten enthielten und merkwürdige Tongefäße, Überreste des Kunstbemühens einer vorgeschichtlichen Zeit. Das Geheimnisvolle, der Zauber der Landschaft mit deren Erinnerungen an verschollene Völker, sprach die Phantasie meines Freundes an, und er verbrachte seine Zeit meist auf einsamen Spaziergängen oder Träumereien im Moor. Auch die alte cornische Sprache hatte sein Interesse erregt, und ich entsinne mich, daß er sie für verwandt mit dem Chaldäischen hielt und sie nach seiner Ansicht von den phönikischen Zinnhändlern herstammt. Er hatte eine Kiste Bücher über diese Wissensgebiete kommen lassen und war entschlossen, seine Phönikertheorie in einer Abhandlung zu entwickeln, als zu meiner Betrübnis und zu Holmes’ unverhohlener Freude wir uns selbst in diesem Land der Träume auf einmal in eine geheimnisvolle Angelegenheit verwickelt sahen, die viel geheimnisvoller, rätselhafter und für Holmes verlockender war als alles, was ihm derartiges früher in London begegnet war. Und diese rätselhafte Geschichte trug sich auch noch sozusagen unter unsern Augen zu. Unser friedliches, gleichförmiges Leben ward auf einmal heftig unterbrochen und damit die meinem Freunde so notwendige Ruhe, und wir sahen uns mitten hineingeworfen in eine Reihe von Ereignissen, die nicht nur in Cornwallis, sondern im ganzen Westen Englands das ungeheuerste Aufsehen machten. Zahlreiche meiner Leser werden sich noch jener Vorfälle erinnern, die damals als »der cornische Schrecken«, wenn auch meist in sehr ungenauer Darstellung durch die Zeitungen gingen. Heute, nach dreizehn Jahren, werde ich der Öffentlichkeit wahrheitsgetreu alle Einzelheiten des mehr als eigenartigen Falles darlegen.

Ich habe schon gesagt, daß da und dort ein Kirchturm ein Dorf verriet. Die Gegend war nur dünn besiedelt. Das nächste Dorf war der Weiler Tredannik Wollas, wo die Häuschen von etwa dreihundert Einwohnern sich um eine uralte, moosbewachsene Kirche gruppierten. Der Pfarrer, Herr Roundhay, war Amateur-Archäologe, und in dieser Eigenschaft war er mit Holmes bekannt geworden. Er war ein stattlicher, leutseliger Mann in mittleren Jahren, der über gründliche Kenntnisse in der örtlichen Geschichte, Naturgeschichte usw. verfügte. Seiner Einladung folgend hatten wir den Tee bei ihm getrunken und hatten dabei auch die Bekanntschaft eines Herrn Mortimer Tregennis gemacht, eines Privatiers, der die geringen Einkünfte des Pfarrers vermehrte, indem er zwei Zimmer bei ihm, in dem großen, weitläufigen Pfarrhause mietete. Der Pfarrer, ein Junggeselle, freute sich daher dieses Mitbewohners, obwohl er wenig mit ihm gemein hatte, denn Tregennis war ein magerer, dunkler Mann, mit einer Brille und von einer so krummen Haltung, daß der Eindruck eines körperlichen Fehlers erweckt wurde. Ich entsinne mich, daß während unseres kurzen Besuches der Pfarrer sehr gesprächig war, sein Mieter aber auffallend zurückhaltend; er schien mir ein etwas melancholischer Herr, der mehr nach innen lebt, und mit abgewandten Augen dasaß und seinen eigenen Gedanken nachhing.

Diese beiden Männer waren es, die am Dienstag, dem sechzehnten März, hastig in unser Zimmer traten. Wir hatten gerade unser Frühstück beendigt und rauchten eine Morgenpfeife vor unserem täglichen Streifzug ins Moor.

»Herr Holmes«, sagte der Pfarrer mit erregter Stimme, »in der Nacht ist ein außerordentliches, trauriges Ereignis ohnegleichen eingetreten. Es ist einfach unfaßlich, und der Verstand steht einem dabei still. Wir müssen es als eine besondere Himmelsschickung ansehen, daß Sie gerade hier sind, denn von allen Männern in England sind Sie gerade der, den wir hier unbedingt brauchen.«

Den Pfarrer sah ich mit Augen an, die gewiß nicht freundlich blickten; aber Holmes nahm die Pfeife aus dem Mund und richtete sich in seinem Stuhle auf wie ein alter Jagdhund, der seinen Herrn im Jagdanzug mit Gewehr eintreten sieht. Er machte eine einladende Bewegung gegen das Sofa, und unsere Besucher nahmen Seite an Seite darauf Platz. Herr Mortimer Tregennis war weniger erregt als der Pfarrer, der seine Aufregung offen zur Schau trug; aber das Zucken seiner mageren Hände und ein Etwas in seinen dunkeln Augen verrieten, daß beide gemeinsam unter einer außerordentlichen Nervenbelastung standen.

»Soll ich’s erzählen, oder Sie?« fragte Tregennis den Pfarrer.

»Da Sie, Herr Tregennis, die Entdeckung gemacht zu haben scheinen, was sie auch immer sein mag, und der Herr Pfarrer alles nur aus zweiter Hand weiß, so erzählen am besten Sie selber, was sich zugetragen hat«, meinte Holmes.

Ich warf einen Blick auf den nachlässig gekleideten Geistliche und den tadellos angezogenen anderen, der neben ihm saß, und amüsierte mich an dem Eindruck, den Holmes Worte in den beiden Gesichtern aufzeigten.

»Vielleicht sage doch ich erst einige Worte«, begann der Pfarrer, »und dann mögen Sie beurteilen, ob Sie zunächst noch von Herrn Tregennis die Einzelheiten hören oder sogleich zum Schauplatz des gräßlichen Ereignisses eilen wollen. Unser Freund hier hat den vergangenen Abend in Gesellschaft seiner zwei Brüder zugebracht, Owen und Georg, und der seiner Schwester Brenda, und zwar in deren Hause Tredannick Wartha, nahe bei dem alten Steinkreuz auf dem Moor, wissen Sie? Er verließ sie kurz nach zehn Uhr, wo sie am runden Eßtisch Karten spielten, in bester Gesundheit und heiterster Laune. Als ein Frühaufsteher ging er heute morgen schon vor dem Frühstück in jener Richtung spazieren, als ein Wagen des Dr. Richards ihn überholte und dieser ihm sagte, er sei soeben dringend nach Tredannick Wartha bestellt worden. Natürlich fuhr Herr Tregennis gleich mit. Im Hause angelangt, fand er dort – also er fand seine zwei Brüder und seine Schwester noch genau so um den runden Tisch sitzen, wie er sie am Abend vorher verlassen hatte, die Karten vor jedem von ihnen auf dem Tische liegend, die Kerzen ganz bis auf die Halter heruntergebrannt. Die Schwester saß in ihrem Sessel hintenübergebeugt, tot. Die beiden Brüder aber saßen da und lachten, schrien und sangen – völlig irrsinnig. Alle drei, die Tote sowohl wie die zwei Irrsinnigen, trugen noch auf ihren Gesichtern die Spuren eines unerhörten Grauens, eine Verzerrung der Mienen, die schrecklich anzusehen war. Im Hause war sonst nur noch die alte Frau Porter, die Köchin und Haushälterin, die aussagte, sie hätte tief und fest geschlafen und in der Nacht nichts gehört. Nichts war gestohlen oder durchsucht, es war alles in Ordnung, und es fehlt jeder Anhalt dafür, was es gewesen sein könnte, das die Schwester zu Tode und die zwei Brüder bis zum Wahnsinn erschreckt hat. Das ist der ganze gräßliche Fall in großen Zügen, Herr Holmes, und wenn Sie uns helfen, ihn aufzuklären, so werden Sie ein großes Werk getan haben.«

Ich hatte gehofft, Holmes wieder in jene Ruhe und Untätigkeit zurücklocken zu können, die der Zweck unseres Hierseins waren, aber ein einziger Blick in seine gespannten Züge mit den zusammengekniffenen Augenbrauen sagte mir, daß meine Hoffnung eitel sei. Für einige Zeit saß er schweigend da, versunken in das fremdartige Drama, das unsere Ruhe plötzlich unterbrochen hatte.

»Ich will die Sache in die Hand nehmen«, sagte er schließlich. »Soweit ich bis jetzt urteilen kann, ist es ein Fall von ganz außergewöhnlicher Art. Sind Sie selbst auch dort gewesen, Herr Pfarrer?«

»Nein, Herr Holmes, Herr Tregennis erzählte mir alles, sowie er ins Pfarrhaus zurückkam, und ich eilte sofort mit ihm hierher, um Sie um Ihren Beistand zu bitten.«

»Wie weit ist es bis zu dem Hause, wo diese unheimlichen Ereignisse sich zutrugen?«

»Ungefähr eine Meile landeinwärts.«

»Dann wollen wir zusammen hinübergehen. Vorher aber muß ich Sie noch um einige Auskünfte bitten, Herr Tregennis.«

Der war all die Zeit stumm dagesessen, aber ich hatte wohl bemerkt, daß seine besser beherrschte Erregung größer war als die offensichtliche des Pfarrers. Er saß mit bleichem Gesicht und zusammengepreßten Lippen da, seine ängstlichen Blicke auf Holmes gerichtet. Seine mageren Hände hielt er krampfhaft zusammengedrückt. Seine bleichen Lippen bebten, als er der kurzen Erzählung lauschte, welches Unheil auf einmal über seine Familie hereingebrochen war, und seine dunkeln Augen schienen etwas von dem Grauen der Szene widerzuspiegeln.

»Fragen Sie nur alles, was Ihnen nötig erscheint, Herr Holmes«, sprach er eifrig. »Es ist fürchterlich, davon sprechen zu müssen, aber ich will Ihnen der Wahrheit gemäß alles beantworten.«

»Dann erzählen Sie mir von der letzten Nacht!«

»Ich habe drüben zu Nacht gegessen, wie der Herr Pfarrer schon sagte, und nachher schlug mein älterer Bruder Georg eine Partie Whist vor. Um neun Uhr etwa setzten wir uns zum Spiel. Um ein Viertel nach zehn ungefähr brach ich auf. Ich verließ sie alle an dem runden Tisch, in denkbar bester Stimmung.«

»Wer begleitete Sie hinaus?«

»Frau Porter war schon zu Bett, ich ging also allein und drückte die Haustür hinter mir ins Schloß. Das Fenster des Zimmers, in dem sie beim Spiel saßen, war geschlossen, aber der Vorhang war nicht vorgezogen. Heute früh war weder am Fenster noch am Vorhang etwas geändert, auch kein Grund zu der Annahme, daß ein Fremder das Haus betreten hätte. Und doch saßen sie da, um ihren Verstand gebracht vor Schrecken, Brenda tot vor Entsetzen, mit dem Kopf hintenüberhängend über die Sessellehne. Solange ich lebe, werde ich das Bild dieses Zimmers nicht mehr vergessen.«

»Die Tatsachen, die Sie mir eben mitgeteilt, sind auf jeden Fall höchst beachtenswert«, sagte Holmes. »Ich nehme an, daß Sie keine Erklärung irgendwelcher Art für dies rätselhafte Vorkommnis gefunden haben?«

»Es ist Teufelswerk, Herr Holmes, Teufelswerk!« schrie Mortimer Tregennis. »Es ist nichts von dieser Welt. Etwas ist in das Zimmer gekommen, das das Licht ihrer Vernunft ausgelöscht hat. Welche irdische oder menschliche Macht könnte das?«

»Ich fürchte«, antwortete Holmes, »daß, wenn es sich hier um Überirdisches handelt, es dann auch über meine Kräfte geht, zu helfen. Aber wir müssen alle natürlichen Möglichkeiten erschöpfen, bevor wir eine übernatürliche annehmen. Was Sie selbst anlangt, Herr Tregennis, so waren Sie wohl irgendwie getrennt von Ihrer Familie, denn Ihre drei Geschwister lebten beisammen, und Sie wohnten für sich im Pfarrhause.«

»Das ist richtig, Herr Holmes; aber das ist eine alte Geschichte, vergessen und erledigt. Wir waren eine Familie von Zinnbergwerksbesitzern in Redruth. Aber wir verkauften unsere Mine an eine Gesellschaft und zogen uns zurück, wir hatten genug, um davon zu leben. Ich will es nicht ableugnen, daß wegen der Verteilung des Geldes eine Spannung eintrat, und sie stand für eine gewisse Zeit zwischen uns. Aber das war längst vergessen und vergeben, und wir verkehrten aufs freundschaftlichste miteinander.«

»Wenn Sie sich den letzten Abend vergegenwärtigen, fällt Ihnen da gar nichts ein, das ein Licht auf die Tragödie werfen könnte? Denken Sie, bitte, sorgfältig nach, Herr Tregennis, es handelt sich darum, einen Faden zu finden, den wir weiter verfolgen können.«

»Mir fällt nichts ein, Herr Holmes.«

»Ihre Geschwister wären in ihrer gewohnten geistigen Verfassung?«

»Jawohl, und sie war niemals besser.«

»Waren es nervöse Menschen? Zeigten sie jemals Besorgnis vor einer kommenden Gefahr?«

»Nichts der Art.«

»Sie haben mir also nichts mehr zu sagen, was mir helfen könnte?«

Mortimer Tregennis überlegte ernsthaft. Nach einiger Zeit sagte er:

»Da fällt mir eine Sache ein! Wie wir um den Tisch saßen, war mein Platz mit dem Rücken zum Fenster, und mein Bruder Georg, mein Spielpartner, saß mit dem Gesicht zu ihm. Einmal bemerkte ich, wie er den Kopf streckte und hinaussah, über meine Schulter hinweg. Ich drehte mich daher ebenso zum Fenster und schaute hinaus. Der Vorhang war nicht vorgezogen, das Fenster geschlossen; ich konnte gerade noch die Büsche auf dem Rasen unterscheiden, und es schien mir so für einen Augenblick, als sähe ich etwas sich zwischen ihnen bewegen. Ich könnte nicht einmal sagen, ob Tier oder Mensch, aber es war so, als ob da etwas gegangen wäre. Als ich ihn fragte, nach was er schaue, sagte er mir dasselbe. Mehr weiß ich nicht.«

»Forschten Sie nicht draußen nach?«

»Nein; die Sache schien nicht wichtig.«

»Sie verließen Ihre Geschwister dann ohne Ahnung von einem kommenden Unheil?«

»Ohne jede Ahnung.«

»Ich sehe nicht ganz klar, wieso Sie heute früh so bald Nachricht von allem bekamen.«

»Ich bin ein Frühaufsteher, und für gewöhnlich mache ich vor dem Frühstück einen Spaziergang. Heute früh war ich kaum unterwegs, als der Wagen des Arztes mich einholte. Er sagte mir, Frau Porter hätte einen Jungen zu ihm geschickt, er solle sofort kommen. Da sprang ich zu ihm in den Wagen, und wir fuhren los. Angekommen gingen wir gleich zuerst in das schreckliche Zimmer. Das Kaminfeuer und die Kerzen müssen vor Stunden schon niedergebrannt gewesen sein, und die Geschwister sind so im Dunkeln gesessen, bis der Tag graute. Der Arzt sagte, Brenda müsse wenigstens seit sechs Stunden tot sein. Man sah an ihr keine Spuren von äußerer Gewalt. Sie lag einfach zurückgelehnt im Sessel, mit jenem entsetzten Ausdruck auf ihrem Gesicht. Georg und Owen sangen Bruchstücke von Liedern und schnatterten wie zwei große Affen. O, es war schrecklich anzusehen! Ich konnte es kaum ertragen, und der Arzt war weiß wie ein Leintuch. Ja, er fiel halb ohnmächtig in einen Sessel, und wir hätten beinahe auch noch für ihn zu sorgen gehabt.«

»Merkwürdig – höchst merkwürdig!« sagte Holmes, indem er sich erhob und nach seinem Hut griff. »Ich denke, wir gehen jetzt ohne Verzug nach Tredannick Wartha. Ich gestehe, daß mir noch selten ein auf den ersten Blick eigenartigerer Fall vorgekommen ist.«

Unsere Nachforschungen an diesem ersten Morgen trugen wenig zur Aufklärung bei. Doch hatten wir unterwegs eine Begegnung, welche den düstersten Eindruck auf unser Gemüt hinterließ. Um zu dem Schauplatz des schrecklichen Ereignisses zu gelangen, mußten wir einen schmalen Feldweg einschlagen. Unterwegs hörten wir das Geräusch eines uns entgegenkommenden Wagens und traten zur Seite, um ihn vorüberfahren zu lassen. Als er nahe bei uns war, sah ich durch das geschlossene Fenster ein gräßlich verzerrtes, grinsendes Gesicht nach uns blicken. Wie eine grauenvolle Vision zogen diese aufgerissenen Augen und knirschenden Zähne an uns vorüber.

»Meine Brüder!« schrie Mortimer Tregennis mit schneeweißen Lippen. »Sie bringen sie fort nach Helston.«

Mit Entsetzen sahen wir dem schwarzen Wagen nach, der sich schwerfällig rumpelnd von uns entfernte. Dann wandten wir unsere Schritte wieder dem Schreckensorte zu, an welchem sie ihr merkwürdiges Schicksal ereilt hatte.

Es war ein großes, heiteres Gebäude, mehr Villa als Landhaus, von weiten Gartenanlagen umgeben, die, selbst in dieser cornischen Luft, bereits im Schmuck der Frühlingsblumen prangten. Auf diesen Garten hinaus ging das Fenster des Eßzimmers, und nach Mortimer Tregennis’ Darstellung mußte von daher das Gräßliche gekommen sein, das in wenigen Augenblicken ihren Verstand verwirrt hatte. Holmes schritt langsam und nachdenklich zwischen den Blumenbeeten den Gartenweg entlang, ehe er das Haus betrat. So tief war er, wie ich mich erinnere, in seine Gedanken versunken, daß er über eine Gießkanne stolperte, deren Inhalt sich über unsere Füße und den Gartenweg ergoß. Im Hause trafen wir die ältliche Haushälterin, Frau Porter, welche mit Hilfe eines jungen Mädchens für alle Bedürfnisse der Familie gesorgt hatte. Bereitwillig beantwortete sie alle Fragen, die Holmes an sie richtete. Sie hatte nichts gehört in der Nacht. Ihre Herrschaft befand sich sehr wohl in der letzten Zeit, und sie erinnerte sich nicht, sie je heiterer und glücklicher gesehen zu haben. Sie war vor Entsetzen ohnmächtig geworden, als sie morgens den Raum betrat und die grauenvolle Gesellschaft um den Tisch versammelt sah. Als sie wieder zu sich gekommen war, hatte sie das Fenster aufgerissen, um die frische Morgenluft hereinzulassen und war dann zu dem Feldweg hinuntergelaufen, wo sie einen Bauernjungen fand, den sie zum Arzt schickte. Die Dame liege auf ihrem Bett, eine Treppe höher, falls wir sie sehen wollten. Vier starke Männer seien nötig gewesen, um die Brüder in den Krankenwagen zu schaffen. Sie würde keinen Tag länger in diesem Haus bleiben; heute nachmittag fahre sie zu ihren Verwandten nach St. Ives.

Wir stiegen die Treppe hinauf, um die Tote zu sehen. Fräulein Brenda Tregennis war ein sehr schönes, wenngleich nicht mehr ganz junges Mädchen gewesen. Ihr von dunklen Haaren umrahmtes, feingeschnittenes Gesicht war selbst im Tode schön; doch lag immer noch ein Ausdruck des Grauens auf ihm, das ihre letzte bewußte Empfindung gewesen war. Von ihrem Schlafzimmer begaben wir uns wieder hinunter ins Wohnzimmer, wo sich diese merkwürdige Tragödie abgespielt hatte. Verkohltes Holz und Asche lagen vom gestrigen Feuer her im Kamin. Auf dem Tisch lagen noch verstreut die Spielkarten, und dazwischen standen vier vollständig herabgebrannte Kerzen. Die Stühle waren an die Wand gestellt worden, aber sonst war alles wie am Abend zuvor. Holmes ging mit leichten, raschen Schritten durch den Raum; er saß auf den verschiedenen Stühlen, nachdem er sie an den Tisch gezogen und ihre Stellung vom vergangenen Abend wiederhergestellt hatte. Er prüfte, wieviel vom Garten sichtbar war; er untersuchte den Fußboden, die Decke und den Kamin; doch nicht ein einziges Mal sah ich das plötzliche Aufleuchten seiner Augen und Zusammenpressen seiner Lippen, welches mir gesagt hätte, daß ein schwacher Lichtstrahl das undurchdringliche Dunkel erhelle.

»Wozu ein Feuer?« fragte er plötzlich. »Hatten Sie an solch milden Frühlingsabenden in diesem kleinen Zimmer immer ein Feuer?«

Mortimer Tregennis erklärte, der Abend sei kalt and feucht gewesen. So sei nach seiner Ankunft ein Feuer angemacht worden. »Was wollen Sie nun zunächst tun, Herr Holmes?« fragte er.

Mein Freund lachte und legte seine Hand auf meinen Arm. »Ich denke, Watson, ich muß wieder ein wenig an meiner langsamen Nikotinvergiftung arbeiten, die du so oft und so mit Recht verurteilst«, sagte er. »Wenn Sie gestatten, meine Herren, so möchte ich jetzt nach Hause gehen, denn ich glaube kaum, daß wir hier noch irgend etwas Wichtiges erfahren können. Ich will mir alles überlegen, Herr Tregennis, und wenn mir irgend etwas einfallen sollte, so werde ich mich selbstverständlich mit Ihnen und dem Herrn Pfarrer in Verbindung setzen. Inzwischen wünsche ich Ihnen beiden guten Morgen.« –

Erst lange, nachdem wir in unser Landhaus in Poldhu zurückgekehrt waren, brach Holmes sein nachdenkliches, tiefes Schweigen. Er saß tief in seinen Lehnstuhl geschmiegt; sein hageres, scharf geschnittenes Gesicht war kaum sichtbar zwischen den blauen Rauchwolken seiner Pfeife; seine schwarzen Augenbrauen waren zusammengezogen, seine Stirn gerunzelt, sein Blick leer und in die Ferne gerichtet. Endlich legte er die Pfeife weg und sprang auf die Füße.

»Es hilft nichts, Watson!« sagte er lachend. »Wir wollen miteinander einen Spaziergang entlang den Klippen machen und steinerne Pfeilspitzen suchen. Wahrscheinlich finden wir sie leichter als eine Lösung zu diesem Rätsel. Seeluft, Sonnenschein und Geduld, – alles übrige wird von selbst kommen. Ein Hirn angestrengt nachdenken zu lassen ohne genügenden Stoff dazu, das ist etwa so, wie wenn man eine Dampfmaschine mit Volldampf leer laufen läßt; sie läuft sich aus allen Fugen und geht in die Brüche.«

»Wir wollen die Lage genau festhalten, Watson«, fuhr er fort, als wir an den Klippen entlang schlenderten. »Wir wollen das Wenige, das wir positiv wissen, festnageln, so daß, wenn neue Tatsachen uns bekannt werden, wir sie an ihrem gebührenden Platz einschieben können. Vornweg nehme ich an, daß keiner von uns geneigt ist, an teuflische, unirdische Einwirkungen auf die Geschicke von Menschen zu glauben. Das wollen wir gleich ganz und gar ausschalten. Gut! Da bleiben dann drei Personen, die durch bewußte oder unbewußte menschliche Handlungen aufs schwerste beeinträchtigt wurden. Das ist unser fester Grund. Und wann geschah das? Wenn uns genau berichtet wurde, so geschah es unmittelbar, nachdem Tregennis das Haus verlassen hatte. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Meine Annahme ist, daß es innerhalb weniger Minuten nach Tregennis’ Weggehen geschehen ist. Die Karten lagen noch auf dem Tisch. Es war bereits nach ihrer gewöhnlichen Bettzeit. Dennoch hatten sie ihre Stellung nicht verändert, keines hatte seinen Stuhl zurückgeschoben. Ich wiederhole daher, daß das Ereignis unmittelbar nach seinem Weggehen eintrat, und nicht später als elf Uhr letzte Nacht.

Unsere nächste Aufgabe war es nun, soweit als möglich festzustellen, was Mortimer Tregennis tat, nachdem er das Zimmer verlassen. Das machte keine Schwierigkeiten, und keinerlei Verdacht fällt auf ihn. Da du meine Methoden kennst, so hast du natürlich sofort durchschaut, zu welchem Zweck ich die Gießkanne umgestürzt habe. Ich bekam so einen genauen Fußabdruck; der nasse sandige Gartenweg hielt ihn ausgezeichnet fest. Letzte Nacht war es gleichfalls feucht, wie du dich erinnern wirst, und nachdem ich mir also einen Musterabdruck verschafft hatte, konnte ich Mortimers Spuren zwischen denen anderer Füße genau verfolgen. Er scheint raschen Ganges zum Pfarrhause geeilt zu sein.

Wenn also Mortimer Tregennis von der Szene verschwunden ist und doch ein Mensch die Kartenspieler irgendwie beeinflußt haben muß – wer war dieser Mensch, und mit welchen Mitteln konnte er die Wirkung hervorbringen, die wir gesehen haben? Frau Porter scheidet aus. Sie ist offenbar ganz harmlos und unverdächtig. Liegt irgendein Anzeichen dafür vor, daß jemand an das Gartenfenster geschlichen ist und von dort aus ›etwas‹ tat, das so schrecklich ist, daß alle, die es sahen, vor Entsetzen um den Verstand kamen? Die einzige Andeutung einer solchen Möglichkeit liegt in der Bemerkung Mortimers, wonach sein Bruder etwas zwischen den Rasenbüschen sich bewegen sah. Das ist sicher beachtenswert, da die Nacht bewölkt, regnerisch und dunkel war. Ein jeder, der die Absicht hatte, die Menschen in dem Zimmer zu schrecken, hätte müssen sein Gesicht an die Glasscheibe drücken, um gesehen zu werden. Ein drei Fuß breites Blumenbeet läuft unter dem Fenster hin, aber es zeigt keine Fußspur. Es ist daher schwierig, sich vorzustellen, wie einer von draußen sollte auf die Kartenspieler eine so fürchterliche Wirkung ausgeübt haben. Auch fehlt uns noch jedes Motiv für eine so sonderbare Tat. Du siehst also, Watson, wo die Schwierigkeiten liegen?«

»Sie sind nur zu offenkundig«, antwortete ich mit Überzeugung.

»Und dennoch, wenn wir noch einiges weitere Material entdecken, dürften wir in der Lage sein, ihrer Herr zu werden«, meinte Holmes nachdenklich. »In deinem großen Sherlock-Holmes-Archiv hast du sicher einige Fälle, die zu Beginn genau so hoffnungslos in Dunkel gehüllt waren, wie dieser. Vorläufig aber wollen wir uns die ganze Sache aus dem Kopfe schlagen, bis neue Tatsachen zutage getreten sind, und den Rest unseres Vormittages dem neolithischen Menschen widmen.«

Schon früher habe ich hervorgehoben, wie sehr Holmes’ Gedankengänge abbrechen, sich geistig loslösen konnte, aber niemals habe ich diese Fähigkeit an ihm mehr bewundert als an jenem Frühlingstage in Cornwallis, wo er zwei Stunden lang so unbefangen und heiter über Kelten, Pfeilspitzen und Gefäßscherben sprach, als ob kein düsteres Geheimnis auf seine Erklärung warte.

Als wir dann am Nachmittage zu unserem Häuschen zurückkehrten, fanden wir dort einen Besucher auf uns warten, der unsere Gedanken sehr schnell auf die vor uns liegende Aufgabe zurückführte. Keinem von uns brauchte gesagt zu werden, wer der Besucher war. Der mächtige Körper, das tief gefurchte wetterharte Gesicht mit den blitzenden Augen und der Adlernase, das graue Haar, das beinahe die Decke unseres Zimmers berührte, der Bart – goldgelb an den Enden und weiß um die Lippen herum, abgesehen von den braunen Tabakflecken des ewigen Zigarrenrauchers – das alles war in London ebenso gut wie in Afrika bekannt als die charakteristischen Äußerlichkeiten des Dr. Leon Sterndale, des großen Löwenjägers und Forschungsreisenden.

Wir hatten von seiner Anwesenheit in unserer Gegend gehört und einige Male schon war uns seine große Gestalt auf den einsamen Moorpfaden zu Gesicht gekommen. Er machte jedoch keinerlei Versuche einer Annäherung, und wir taten es ebensowenig, denn es war allgemein bekannt, daß er aus Hang zur Einsamkeit den größten Teil der Zwischenzeit zwischen seinen einzelnen Expeditionen in einem kleinen Bungalow verbrachte, vergraben in dem einsamen Wald von Beauchamp Arnance. Dort, zwischen seinen Büchern und seinen Karten, führte er ein vollständig einsames Leben; er besorgte alles selbst ohne einen Dienstboten und kümmerte sich nicht um das, was in der Nachbarschaft vorging. Ich war daher sehr überrascht, als er meinen Freund fragte, ob er in der Aufklärung der rätselhaften schrecklichen Vorgänge von Tredannick Wartha schon Fortschritte gemacht hätte. »Die Distriktspolizei ist völlig wertlos«, sagte er, »aber vielleicht haben Sie mit Ihrer größeren Erfahrung bereits eine brauchbare Erklärung gefunden? Mein einziger geringer Anspruch auf Ihr Vertrauen in dieser Angelegenheit gründet sich darauf, daß ich bei meinen wiederholten Ferienaufenthalten in hiesiger Gegend die Familie Tregennis sehr gut kennen gelernt habe – ja, von seiten meiner Cornishen Mutter sind wir vervettert – und ihr grauenhaftes Schicksal hat mich natürlich etwas erschüttert. Ich will Ihnen gestehen, daß ich bereits in Plymouth auf meinem Rückweg nach Afrika war, aber heute früh bekam ich Nachricht von den rätselhaften Ereignissen und ich kam stracks hierher zurück, um wenn möglich zu helfen.«

Holmes zog die Augenbrauen hoch.

»Haben Sie dadurch Ihr Schiff versäumt?«

»Ich werde eben das nächste nehmen.«

»Donnerwetter! Das nenne ich Freundschaft.«

»Ich sage Ihnen ja, wir waren verwandt miteinander – Vettern.«

»Ja, ja, Sie waren Vettern von mütterlicher Seite. War Ihr Gepäck schon an Bord?«

»Der kleinere Teil nur; in der Hauptsache liegt es noch im Hotel.«

»Ich verstehe. Aber sicherlich hat die Tregennis-Tragödie ihren Weg noch nicht in die Morgenblätter von Plymouth gefunden?«

»Nein, Herr Holmes; ich bekam ein Telegramm.«

»Darf ich fragen: von wem?«

Ein Schatten flog über das hagere Gesicht des Forschers.

»Sie fragen ja wie bei einem Verhör, Herr Holmes.«

»Das verlangt mein Geschäft.«

Mit einer gewissen Anstrengung gewann Dr. Sterndale seine frühere Haltung wieder.

»Ich habe keinen Grund, Ihnen die Antwort zu verweigern«, sagte er. »Herr Roundhay, der Pfarrer, hat mir das Telegramm geschickt, das mich zurückrief.«

»Danke sehr«, sagte Holmes. »In Beantwortung Ihrer ersten Frage muß ich Ihnen sagen, daß ich die Zusammenhänge in dem vorliegenden Falle noch nicht recht überschaue, daß ich aber begründete Hoffnung habe, das Rätsel in kurzer Zeit völlig zu lösen. Mehr zu sagen, wäre für den Augenblick voreilig.«

»Vielleicht stehen Sie nicht an, mir zu verraten, ob Ihr Verdacht in irgendeine bestimmte Richtung weist?«

»Nein, darauf kann ich Ihnen leider keine Antwort geben.«

»Dann habe ich meine Zeit unnötig vertan und brauche meinen Besuch nicht länger auszudehnen.« Der berühmte Afrikakenner verließ unser Häuschen in großem Unmut, und innerhalb fünf Minuten verließ auch Holmes das Haus. Ich sah ihn nicht mehr bis zum Abend, wo er schleppenden Ganges und mit einem entmutigten Gesicht zurückkehrte, so daß ich sogleich wußte, er hätte in seinen Nachforschungen keinen weiteren Fortschritt erzielt. Er las ein Telegramm, das inzwischen für ihn angekommen war, und warf es dann ins Kaminfeuer.

»Von seinem Hotel in Plymouth, Watson«, sagte er. »Ich erfuhr den Namen vom Pfarrer und drahtete sofort, um mich zu vergewissern, ob Sterndales Angaben zuträfen. Er hat tatsächlich die letzte Nacht dort zugebracht und ein Teil seines Gepäcks ist mit dem Dampfer nach Afrika abgegangen, während er hierher zu uns zurückgekehrt ist. Das alles ist sonderbar. Was machst du dir für einen Vers darauf?«

»Er nimmt ein außergewöhnliches Interesse an dem Fall.«

»Außergewöhnliches Interesse – allerdings, mein Lieber! Hier liegt irgendwo ein Faden verborgen, der uns bisher entgangen ist und mit dessen Hilfe wir sicher durch das ganze Wirrsal hindurchkämen. Mach’ ein vergnügtes Gesicht, Watson, denn ich bin ganz sicher, daß wir dicht vor einer wichtigen Entdeckung stehen und bald alle Schwierigkeiten überwunden haben werden.«

Daß diese Worte Holmes’ sich so rasch bewahrheiten würden, hatte ich nicht gedacht, noch daß die Wendung der Dinge, die uns in eine ganz neue Bahn wies, uns mit solch fremdartigen und düsteren Geschehnissen bekannt machen würde. Ich stand am Morgen am Fenster und rasierte mich, als ich einen raschen Hufschlag vernahm und draußen ein leichtes Wägelchen gewahrte, das im Galopp auf der Straße daherkam. Es hielt an unserer Tür, und unser Freund, der Pfarrer, sprang heraus und eilte über unseren Gartenpfad. Holmes war bereits angezogen; er lief hinunter, um ihn zu begrüßen.

Der Geistliche war so erregt, daß er kaum sprechen konnte, aber schließlich brachte er mit überstürzten Worten und Wiederholungen seinen traurigen Bericht heraus.

»Bei uns geht der Teufel um, Herr Holmes! In meiner armen Gemeinde geht der Teufel um!« rief er wild. »Der leibhaftige Satan ist hier am Werke! Wir sind seinen Händen überantwortet.« Er tanzte vor Aufregung umher – es wäre zum Lachen gewesen, ohne sein entsetztes, aschgraues Gesicht und seine angstvollen Augen. Am Ende fuhr er auch mit der schrecklichen Hauptsache heraus.

»Herr Mortimer Tregennis ist letzte Nacht gestorben, und zwar mit genau denselben Symptomen wie vorgestern seine Geschwister.«

Holmes sprang auf die Füße; in einem Augenblick war er ganz und gar Kraft und Energie.

»Können Sie uns beide noch in Ihr Wägelchen klemmen?«

»Ja, das wird schon gehen.«

»Dann, Watson, wollen wir unser Frühstück verschieben. Herr Pfarrer, wir stehen ganz zu Ihrer Verfügung, aber um Gottes Willen eilen Sie, ehe die Spuren, die ich vermute, verwischt sein könnten.«

Herr Tregennis hatte zwei Zimmer im Pfarrhause inne, die in einer Ecke lagen, das eine über dem anderen. Unten war ein großes Wohnzimmer; oben das Schlafzimmer. Beide lagen sie gegen einen Krokettspielplatz, der sich bis dicht unter die Fenster hinzog. Wir waren angekommen, ehe noch der Arzt und die Polizei eingetroffen waren, so daß wir alles gänzlich unverändert vorfanden. Ich muß hier die Szene beschreiben, genau so, wie wir sie an diesem nebligen Märzmorgen antrafen. Sie hat einen Eindruck bei mir hinterlassen, den ich niemals vergessen kann.

Die Luft in dem Zimmer war von einer schrecklichen und atemraubenden Dumpfheit. Die Pfarrmagd, die das Zimmer zuerst betreten hatte, hatte sogleich das Fenster aufgerissen, sonst wäre es noch unerträglicher gewesen. Zum Teil mochte es daher kommen, daß die Petroleumlampe flackernd und qualmend auf dem Tische stand. Neben ihm saß der tote Mann in seinem Stuhl zurückgelehnt, seine Brille auf die Stirn hinaufgeschoben und sein schmales Gesicht dem Fenster zugewandt mit eben den im Schreck erstarrten Zügen, die wir im Gesicht seiner toten Schwester bemerkt hatten. Seine Glieder waren verkrampft und seine Finger zusammengekrallt, als ob er in einem wahren Paroxysmus von Furcht gestorben wäre. Er war vollständig angezogen, obwohl einige Anzeichen verrieten, daß er sich hastig in die Kleider geworfen hatte. Von der Magd hatten wir schon gehört, daß er in seinem Bett geschlafen, und daß ihn sein tragisches Ende früh am Morgen ereilt hatte.

Man gewahrte unter Holmes’ phlegmatischem Äußerem die rotglühende Energie, wenn man ein Auge für die plötzliche Veränderung hatte, die mit dem Augenblick über ihn kam, wo er das verhängnisvolle Zimmer betrat. Im Nu war er straff und lebhaft, seine Augen leuchteten, sein Gesicht war voll angespanntester Aufmerksamkeit, der ganze Mann bebte beinahe vor Eifer. Er war draußen auf dem Rasenplatz, kam herein durchs Fenster, lief überall im Zimmer herum, stieg hinauf ins Schlafzimmer – wie ein guter Jagdhund, wenn er eine Fährte aufnimmt. In dem Schlafzimmer sah er sich mit wenigen orientierenden Blicken um, schritt aufs Fenster zu und öffnete es, was ihm seine Fährte erneut bestätigt haben mußte, denn er lehnte sich weit über das Gesims hinaus und ließ Ausrufe der Befriedigung vernehmen. Dann eilte er die Treppe hinunter, stieg zum Fenster hinaus, warf sich mit dem Gesicht auf den Rasenplatz, erhob sich wieder und kam von neuem ins Zimmer, alles mit dem Jagdeifer eines Hundes, der seiner Beute dicht auf den Fersen ist. Die Lampe, eine gewöhnliche Fabrikware, untersuchte er mit besonderer Sorgfalt, wobei er verschiedenes ausmaß. Mit seiner Lupe betrachtete er den Deckel aus Talkschiefer, der oben auf dem Zylinder saß und schabte etwas ab, das sich auf der oberen Fläche befand; das feine Pulver verwahrte er sorgfältig in einem Briefumschlag, den er in sein Taschenbuch legte. Schließlich, gerade als der Arzt und die Polizei erschienen, nickte er dem Pfarrer zu, und wir drei gingen zusammen hinaus auf den Rasen.

»Es freut mich, daß meine Nachforschungen nicht ganz erfolglos gewesen sind«, sagte er dort. »Ich kann mich hier nicht länger aufhalten, um die Sache mit der Polizei zu besprechen, aber ich wäre Ihnen außerordentlich verbunden, Herr Pfarrer, wenn Sie dem Inspektor Grüße von mir bestellen wollten, mit dem Hinzufügen, er möchte seine volle Aufmerksamkeit dem Schlafzimmerfenster und der Lampe im Wohnzimmer widmen. Jedes enthüllt etwas für sich, und beide zusammen gestatten eine abschließende Erklärung. Sollte die Polizei weitere Angaben wünschen, so stehe ich ihr in unserem Häuschen bereitwilligst zur Verfügung. Und nun, Watson, glaube ich, daß wir anderswo auch noch etwas zu tun haben.«

Es ist möglich, daß die Polizei die Einmischung eines Privatdetektivs übel aufnahm, oder daß die ländliche Behörde sich einbildete, in hoffnungsvollster Weise »dem Täter auf der Spur« zu sein; jedenfalls hörten wir in den nächsten zwei Tagen nichts von ihr. Während dieser Zeit verbrachte Holmes einen Teil des Tages zu Hause mit Pfeifenrauchen und verträumtem Nachdenken; den größeren Teil seiner Zeit aber mit allerlei Gängen über Land, die er ohne Begleitung ausführte und von denen er nach Stunden erst zurückkehrte, ohne zu sagen, wo er gewesen war. Ein Experiment, das er anstellte, zeigte mir, nach welcher Richtung hin er seine Nachforschungen betrieb. Er hatte eine Lampe gekauft, genau dieselbe Marke, die wir auf dem Tisch Mortimers Tregennis’ gefunden hatten. Er füllte sie mit Öl, das er aus dem Pfarrhause sich hatte geben lassen, und stellte genau die Zeit fest, die die Flamme brauchte, um das Öl zu verbrennen. Ein anderer Versuch, den er machte, war entschieden von weniger angenehmer Art und so, daß ich es wohl kaum je vergessen dürfte.

»Du wirst dich erinnern, Watson«, sagte er am zweiten Nachmittag, »daß unter den verschiedenen Angaben, die uns zugeflossen sind, sich zwei befinden, die beide gleich lauten: die Wirkung der Zimmerluft auf denjenigen, der den Raum zuerst betrat. Du entsinnst dich wohl, daß Mortimer Tregennis, als er uns beschrieb, wie er mit dem Arzt das verhängnisvolle Zimmer betrat, nebenbei bemerkte, dieser sei halb ohnmächtig in einen Sessel gesunken. Du hast das vergessen? Nun, ich weiß bestimmt, daß er diese Bemerkung gemacht hat. Vielleicht erinnerst du dich aber, daß auch Frau Porter, die Haushälterin, uns erzählte, sie sei beim Betreten des Zimmers erst ohnmächtig geworden und hätte das Fenster nachher aufgemacht. In dem anderen Fall – bei dem Mortimer selbst seinen Tod fand – kannst du unmöglich die dumpfige, schreckliche Luft vergessen haben, die sich uns auf die Brust legte, sobald wir über die Schwelle traten, obwohl die Pfarrmagd das Fenster bereits geöffnet hatte. Dem Mädchen wurde, wie ich festgestellt habe, so schlecht, daß sie sich zu Bett legen mußte. Diese Gleichartigkeit, mein lieber Watson, wird auch dir in die Augen springen. In beiden Fällen war offenbar die Luft vergiftet. Ebenso fand in beiden Fällen in dem Zimmer eine Verbrennung statt – in dem einen Fall das Kaminfeuer, in dem anderen die Lampe. Das Feuer war wohl notwendig, es war ein kühler Abend; aber wie der geringe Verbrauch des Öls beweist, war die Lampe früh am Morgen, erst nachdem es bereits Tag war, angezündet worden. Warum? Sicher deshalb, weil hier eine Verbindung besteht zwischen den drei Dingen: Der Verbrennung, der giftigen Atmosphäre und schließlich dem Irrsinn oder dem Tod dieser unglücklichen Menschen. Das ist doch klar, nicht wahr?«

»So scheint es.«

»Wenigstens können wir einmal daraufhin weiterbauen. Nehmen wir an, daß in jedem der beiden Fälle etwas verbrannt wurde, was die Vergiftung der Luft verursachte. Gut so! Im ersten Fall – bei den drei Geschwistern Tregennis – wurde dieses ›Etwas‹ im Kamin verbrannt. Zwar war das Fenster geschlossen, aber naturgemäß mußte ein Teil der giftigen Dämpfe durch den Schornstein abziehen. Folglich konnte die Wirkung des Giftes hier nicht so stark sein wie in dem zweiten Fall, wo der Giftdampf keinen Ausweg hatte. Die vorgefundenen Tatsachen scheinen mir zu bestätigen, daß diese Überlegung richtig ist, denn in dem ersten Fall wurde nur die Schwester Brenda getötet, als der schwächere und für das Gift empfänglichere Organismus, während die beiden Männer nur von einem vorübergehenden oder dauernden Wahnsinn befallen wurden, der sich offenbar als erste Wirkung der Giftdämpfe einstellt. In dem zweiten Fall war die Wirkung vollständig; der stärkere, männliche Organismus Mortimers erlag der zerstörenden Giftwirkung. Alles deutet daher darauf hin, daß es sich um ein Gift handelt, das durch Verbrennung zur Anwendung gebracht wurde.

Mit diesen Schlußfolgerungen im Kopfe habe ich natürlich in Mortimers Zimmer nach irgendwelchen Überbleibseln der giftigen Substanz gesucht. Der gegebene Platz hierfür war der Deckel aus Talkschiefer, der sogenannte Rauchfänger auf dem Zylinder. Und wahrhaftig, ich entdeckte einige Aschenflocken auf der oberen Seite und am Rande herum, wo die Erhitzung weniger stark war, einen feinen Kranz eines bräunlichen Pulvers, das nicht verbrannt worden war. Davon habe ich die Hälfte abgeschabt und, wie du gesehen haben wirst, in einem Briefumschlag verwahrt.«

»Warum die Hälfte?«

»Es ist nicht meine Aufgabe, Watson, der Polizeibehörde im Weg zu stehen. Ich habe ihr alle Beweismittel gelassen, die ich selbst gefunden habe. Auf dem Schieferplättchen kann die Hochwohllöbliche das Giftpulver finden, wenn sie Verstand genug hat, dort danach zu suchen. Aber jetzt wollen wir unsere Lampe anstecken; wir wollen aber vorsichtigerweise das Fenster öffnen, um das vorzeitige Ende zweier so verdienter Mitglieder der menschlichen Gesellschaft zu verhüten, und du wirst dich am offenen Fenster in den Sessel setzen, es sei denn, daß du als vernünftiger Mann beschließt, mich den Versuch allein machen zu lassen. Oh, du möchtest es selber auch probieren, ja? Ich dachte doch, ich kenne meinen Watson! Ich werde mit meinem Stuhl dir gegenüber rücken, so daß wir beide vom Ausgangspunkt der Giftdämpfe gleich weit entfernt sind und uns gegenseitig ins Gesicht sehen können. Die Türe lehnen wir nur an, so kann jeder den anderen beobachten und den Versuch abbrechen, sobald er seine längere Fortdauer für bedenklich hält. Ist alles klar? Gut also, ich nehme unser Pulver aus dem Briefumschlag und schütte es oben auf den Rauchfänger der brennenden Lampe. So! Nun Watson, jeder auf seinen Platz! Ich bin gespannt, was wir erleben werden.«

Das »Erlebnis« ließ nicht lange auf sich warten. Ich hatte mich noch kaum bequem in meinem Sessel zurecht gesetzt, als ich einen schweren, etwas moschusartigen Geruch bemerkte, der mir übel machte. Nach den ersten Atemzügen schon fing es in meinem Kopfe an zu wirbeln. Eine dicke, schwarze Wolke ballte sich vor meinen Augen zusammen, und ich fühlte, daß in dieser Wolke, die mich unheimlich bedrückte, alle Schrecken und unfaßbaren Bosheiten und alles Grauen der ganzen Welt konzentriert verborgen waren. Verschwommene Figuren schwebten und drehten sich in der dunklen Wolke, jede eine Drohung und eine Warnung, daß etwas Fürchterliches sich nahe, um mir die Seele vor Angst erstarren zu machen. Ein eisiges Grauen ergriff mich. Ich fühlte, wie meine Haare sich aufrichteten, daß meine Augen mir aus dem Kopfe drangen; ich atmete mit weit offenem Mund und meine Zunge fühlte ich wie ein Stück Leder. In meinem Kopf wirbelte es derartig wild, daß irgend etwas reißen mußte. Ich versuchte zu schreien und vernahm wie aus weiter Ferne einen heiseren dumpfen Laut – meine eigene Stimme. Im selben Augenblick, durch den Schrei etwas befreit von dem unheimlichen Druck hoffnungsloser Verzweiflung, sah ich für eine Sekunde das Gesicht meines Freundes: fast weiß, erstarrt, verzerrt vor Angst – es war ein Gesicht, wie wir es an den beiden Toten gesehen hatten.

Dieser Anblick befeuerte für einen Augenblick meinen fast geschwundenen Selbsterhaltungstrieb und gab mir Kraft. Ich sprang vom Stuhle hoch, warf meine Arme um meinen Freund, und so wankten wir zusammen zur Türe hinaus. Einen Augenblick später lagen wir draußen Seite an Seite auf dem Rasen und sahen nichts als den wundervollen Sonnenschein, der durch die höllische Wolke des Grauens drang, die uns eingehüllt hatte. Langsam erhob sie sich von unseren Seelen, wie der Nebel von einer Landschaft, bis Ruhe und Vernunft wiederkehrten und wir aufrecht auf dem Gras saßen, uns die benommenen Köpfe rieben und einer das Gesicht des anderen aufmerksam beobachtete, um die letzten Spuren des schrecklichen Versuches schwinden zu sehen, dem wir uns soeben unterzogen hatten.

»Auf mein Wort, Watson!« sagte Holmes schließlich mit unsicherer Stimme. »Ich bin dir Dank schuldig und überdies eine Entschuldigung. Das war ein unverantwortliches Experiment schon für mich selbst, und doppelt so, wenn ich an dich denke. Es tut mir wirklich aufrichtig leid.«

»Du weißt«, antwortete ich mit einiger Bewegung, denn Holmes hatte mir bis zu diesem Tage noch nie so viel von seinem Herzen gezeigt, »daß es meine größte Freude und mein Vorrecht ist, dir helfen zu dürfen.«

Sofort verfiel er wieder in die halb humoristische, halb zynische Art, die ihm seiner Umgebung gegenüber eigentümlich war. »Es wäre ganz überflüssig gewesen, uns mit dem Versuch vollends um den Verstand zu bringen, mein lieber Watson«, sprach er. »Ein scharfer Beobachter würde feststellen, daß wir schon allen Verstand verloren hatten, als wir dieses wilde Experiment anfingen. Ich muß aber gestehen, daß ich sehr überrascht war, sowohl von der Schnelligkeit, wie von der Nachdrücklichkeit, mit der das Gift wirkte.« Er lief hastig in das Haus und kam mit der brennenden Lampe zurück, die er weit von sich hielt und über den rückwärtigen Zaun auf einen Haufen alten Gerümpels warf. »Wir müssen einige Zeit warten, bis das Zeug in dem Zimmer sich verzogen hat. Nicht wahr, Watson, dir ist nun auch der letzte Zweifel geschwunden, wie diese beiden Tragödien inszeniert worden sind?«

»Ich durchschaue jetzt alles.«

»Aber der Beweggrund bleibt noch so unaufgeklärt wie vorher. Komm’ mit mir in die Laube, um diese Seite des Falles zu besprechen. Ah, das ekelhafte Gift sitzt mir noch immer im Hals! Ich glaube, wir können nicht umhin, zu erkennen, daß alles Bisherige auf Mortimer Tregennis hinweist, und daß er im Falle seiner drei Geschwister der Verbrecher war, obwohl er in dem zweiten Fall als das Opfer eines Dritten erscheint. Wir müssen uns vor allem erinnern, daß da in der Vergangenheit ein Familienzwist bestand, dem später eine Versöhnung nachfolgte. Wie tief eingewurzelt der Zwist gewesen sein mag, oder wie wenig tiefgehend die Versöhnung, können wir nicht wissen. Wenn ich mir aber diesen Mortimer vorstelle, mit seinem Fuchsgesicht und seinen lauernden Augen hinter den Brillengläsern, so kann ich mir nicht vorstellen, daß er ein Mann war, der besonders leicht und gründlich vergessen und verzeihen konnte. Ferner erinnere dich, daß die Behauptung, es hätte sich jemand im Garten zwischen den Büschen bewegt – worauf unsere Aufmerksamkeit eine Zeitlang hin- und von der wahren Ursache der Tragödie abgezogen wurde – von diesem Mortimer herstammt. Er hatte ein Interesse daran, uns irre zu führen. Schließlich, wenn nicht er das Pulver in dem Augenblick, wo er das Zimmer verließ, in den Kamin warf – wer soll es sonst getan haben? Die bekannte Wirkung muß unmittelbar nach seinem Weggang eingetreten sein. Wäre irgend jemand vorher hereingekommen, so würden die Geschwister sicher sich von ihren Plätzen erhoben haben. Außerdem sind wir hier in dem stillen ländlichen Cornwallis, wo man sich nach zehn Uhr abends keine Besuche mehr macht. Ich glaube, der Schluß ist berechtigt, daß Mortimer Tregennis der Schuldige ist.«

»Dann war sein Tod ein Selbstmord!«

»Auf den ersten Blick ist das eine durchaus nicht unwahrscheinliche Annahme; der Mann, der seine Seele mit solcher Schuld beladen hatte, konnte wohl beim Anblick seiner Opfer innerlich zusammengebrochen sein und von Reue gepeinigt dieselbe Todesart wählen. Aber verschiedene Gründe sprechen doch dagegen. Zum Glück lebt der Mann, der darüber genau unterrichtet ist, und ich habe bereits die nötigen Vorkehrungen getroffen, um heute nachmittag von seinen eigenen Lippen alles zu vernehmen, was bei uns noch unklar oder bloße Kombination ist. Ah, er kommt etwas vor der Zeit. Bitte, Herr Doktor Sterndale«, rief Holmes laut, »treten Sie zu uns hier in die Laube. Wir haben drinnen einen chemischen Versuch angestellt, dessen Nachwirkungen uns nicht gestatten, einen so ausgezeichneten Besuch ins Zimmer zu führen.«

Ich hatte die Gartenpforte gehen hören, und nun tauchte die mächtige Gestalt des großen Afrikareisenden auf dem Gartenpfad auf. Etwas erstaunt trat er zu uns in die Laube.

»Sie haben mich hergebeten, Herr Holmes. Ich bekam Ihr Briefchen vor einer Stunde und habe mich beeilt, obwohl ich wirklich nicht weiß, was mich veranlassen könnte, Ihrem Rufe ohne weiteres zu folgen.«

»Vielleicht werden wir uns darüber verständigt haben, ehe Sie wieder von uns scheiden«, sagte Holmes. »Jedenfalls bin ich Ihnen äußerst verbunden für Ihr Erscheinen. Entschuldigen Sie gütigst, daß ich sie so formlos hier im Freien empfange, aber mein Freund Watson und ich haben beinahe ein drittes Kapitel zu dem ›Cornischen Schrecken‹ geliefert, wie es die Zeitungen nennen, und die gesunde, frische Luft ist uns geradezu ein Lebensbedürfnis. Da die Dinge, die wir mit Ihnen besprechen wollen, Sie persönlich sehr nahe berühren, ist es vielleicht überdies ein Vorzug für Sie, daß wir unsere Unterredung an einem Orte stattfinden lassen, wo wir nicht belauscht werden können.«

Der Afrikaforscher nahm die Zigarre aus dem Munde und sah meinen Freund verblüfft an.

»Ich verstehe wahrhaftig nicht, mein Herr«, sagte er, »was für Dinge –, die mich, wie Sie sagen, persönlich sehr nahe berühren –, Sie mit mir zu besprechen hätten.«

»Ich meine den Mord an Mortimer Tregennis«, sagte Holmes kalt.

Im nächsten Augenblick wünschte ich zuerst, wir wären bewaffnet. Sterndales hartes Gesicht wurde dunkelrot, seine Augen funkelten, und die Adern traten dick an seiner Stirn hervor, als er mit geballten Fäusten auf meinen Freund zusprang. Dann hielt er inne, und mit sichtbar äußerster Anstrengung nahm er eine ruhige, eisige Haltung an, die vielleicht mehr Gefahr für uns verhieß als der hitzige Ausbruch, der vorausgegangen war.

»Ich habe so lange unter Wilden und jenseits aller Gesetze gelebt«, sagte er, »daß ich mir selbst Gesetz geworden bin. Sie werden gut tun, Herr Holmes, das nicht zu vergessen, denn ich möchte mich durchaus nicht an Ihnen vergreifen.«

»Ebenso auf meiner Seite, Herr Doktor«, erwiderte Holmes. »Das beweist am besten die Tatsache, daß ich trotz allem, was ich weiß, nach Ihnen geschickt habe, statt nach der Polizei.«

Sterndale setzte sich mit stockendem Atem. Vielleicht zum ersten Male in seinem abenteuerreichen Leben übermannte ihn der Schreck. In Holmes’ bestimmter, fester Art lag so viel Autorität, daß sich keiner ihr entziehen konnte. Der große, starke Mann stotterte unverständliche Worte und machte vor Erregung mit den Händen abgerissene Bewegungen.

»Was wollen Sie von mir?« brachte er schließlich heraus. »Wenn das ein Bluff ist, Herr Holmes, dann haben Sie sich bei mir verkalkuliert. Klopfen Sie gefälligst nicht länger auf den Busch, sondern sagen Sie mir deutlich, was Sie eigentlich von mir wollen.«

»Das will ich tun«, erwiderte mein Freund, »und der Grund, weshalb ich es Ihnen sagen will, ist der, daß ich hoffe, Sie werden mir Offenheit mit Offenheit danken. Mein nächster Schritt wird ganz davon abhängen, was Sie zu Ihrer Verteidigung vorzubringen haben.«

»Zu meiner Verteidigung?«

»Jawohl, Herr Doktor!«

»Meine Verteidigung gegen was?«

»Gegen die Anklage, Mortimer Tregennis ermordet zu haben.«

Sterndale wischte sich die Stirn mit dem Taschentuch. »Auf mein Wort«, sagte er, »Sie gefallen mir. Verdanken Sie alle Ihre Erfolge dieser wundervollen Kunst des Bluffens?«

»Der Bluff«, sprach Holmes ernst, »ist auf Ihrer Seite, und nicht auf der meinigen. Zum Beweis will ich Ihnen einige von meinen Tatsachen enthüllen, auf denen ich mein logisches Gebäude errichtet habe. Ich will nicht viel aus Ihrer Rückkehr von Plymouth machen, wobei ein Teil Ihres Gepäcks Ihnen nach Afrika davonfuhr; nur soviel sei gesagt, daß erst dieser Reiseaufschub mich veranlaßte, in Ihnen einen der Faktoren zu erblicken, die ich vor allem in Betracht ziehen mußte, wenn ich diese Tragödie aufklären wollte.«

»Ich unterbrach die Reise, weil –«

»Ihre Gründe haben Sie mir schon früher gesagt. Sie sind nicht überzeugend und überdies unzulänglich. Lassen wir das! Sie kamen zu mir, um von mir zu hören, wen ich in Verdacht hätte. Ich verweigerte Ihnen die Antwort, Sie gingen dann zum Pfarrhaus, warteten dort in der Nähe einige Zeit und begaben sich, schließlich in Ihren Bungalow zurück.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich bin Ihnen nachgegangen.«

»Ich habe Sie aber nicht gesehen.«

»Damit müssen Sie rechnen, wenn ich Ihnen nachgehe. Sie verbrachten eine schlaflose Nacht und faßten eine bestimmte Absicht, die Sie am frühen Morgen sich anschickten, in die Tat umzusetzen. Beim Morgengrauen verließen Sie Ihren Bungalow und füllten sich die Taschen mit dem rötlichen Kies, von dem ein Haufen bei Ihrer Gartentür liegt.«

Doktor Sterndale richtete sich heftig auf und starrte Holmes entsetzt an.

»Dann durchmaßen Sie rasch die Meile, die Sie vom Pfarrhause trennte. Sie trugen, beiläufig gesagt, dieselben Tennisschuhe mit gerippter Sohle, die Sie auch jetzt anhaben. Beim Pfarrhaus gingen Sie hinten herum durch den Obstgarten, stiegen über die Hecke und kamen unter die Fenster Mortimer Tregennis’. Es war schon heller Tag, aber alles im Hause schlief noch. Sie nahmen etwas Kies aus der Tasche und warfen ihn gegen Tregennis’ Schlafzimmerfenster.«

Doktor Sterndale sprang auf.

»Ich glaube, Sie sind der Teufel selbst!« rief er aus.

Holmes quittierte das Kompliment mit einem Lächeln. »Sie mußten zwei-, oder dreimal eine Handvoll ans Fenster werfen, ehe Tregennis dort erschien. Sie sagten ihm, er solle herunter kommen. Eilig zog er sich an und kam ins Wohnzimmer. Sie stiegen durchs Fenster zu ihm herein. Es folgte eine kurze Unterredung, während welcher Sie im Zimmer auf und ab gingen. Dann stiegen Sie wieder zum Fenster hinaus, machten es von außen zu, steckten sich eine Zigarre an und warteten auf dem Rasen, was nun geschehen werde. Schließlich, als Tregennis tot war, gingen Sie auf demselben Weg nach Hause, den Sie gekommen waren. Und nun, Herr Doktor Sterndale, wie wollen Sie Ihre Tat rechtfertigen und was waren Ihre Beweggründe dafür? Wenn Sie Winkelzüge machen oder mir die Antwort verweigern, dann gebe ich Ihnen die Versicherung, daß der Fall Sterndale-Tregennis mich nicht weiter mehr beschäftigen und für immer mit meinem Material in andere Hände übergehen wird.«

Aschgrau war das Gesicht unseres Besuchers geworden, als er die Anklage vernahm. Jetzt saß er vornübergeneigt da, den Kopf in seine großen Hände gestützt. Wir schwiegen. Auf einmal richtete er sich auf, zog eine Photographie aus seiner Brusttasche und warf sie auf den rohen Holztisch der Laube.

»Wegen der da habe ich es getan«, sagte er.

Das Bild zeigte ein schönes weibliches Gesicht. Holmes beugte sich darüber.

»Brenda Tregennis!« rief er aus.

»Ja, Brenda Tregennis«, wiederholte der andere. »Seit Jahren liebe ich sie; seit Jahren lieben wir uns. Das ist das Geheimnis meiner Verborgenheit in Cornwallis, worüber die Leute schon so viel gestaunt und geredet haben. Auf die Weise konnte ich dem einzigen auf Erden, das ich liebte, nahe sein. Heiraten konnten wir uns nicht, denn ich habe eine Frau, die mich vor Jahren verlassen hat, von der ich mich aber wegen der beklagenswerten englischen Gesetze nicht scheiden lassen konnte. Jahrelang wartete Brenda. Jahrelang wartete ich. Auf ein ungewisses, spätes Glück warteten wir.«

Seine ganze Gestalt bebte unter Schluchzen, und er drückte sich die mächtigen Fäuste vor die Augen. Dann riß er sich zusammen und fuhr fort:

»Der Pfarrer wußte davon; wir hatten ihn ins Vertrauen gezogen. Er kann Ihnen sagen, daß sie auf Erden schon ein Engel war. Sie verstehen nun, weshalb er mir das Telegramm schickte und ich zurückkehrte. Was galt mir mein Gepäck, was war mir Afrika, als ich das Schicksal erfuhr, das über meinen Liebling gekommen war! Hier haben Sie die fehlenden Glieder in der Kette Ihrer Schlußfolgerungen, Herr Holmes.«

»Bitte weiter!« sagte mein Freund.

Doktor Sterndale zog aus seiner Tasche eine kleine Tüte und legte sie auf den Tisch. Radix pedis diaboli stand darauf; darunter war ein roter Totenkopf geklebt. Er reichte mir die Tüte. »Soviel ich weiß, sind Sie Arzt, Herr Doktor. Haben Sie schon von diesem Präparat gehört?«

»Wurzel des Teufelsfußes! Nein, davon habe ich nie gehört.«

»Auch vom besten Arzt kann man das kaum erwarten«, sprach er, »denn ich glaube, außer der einen Probe in einem Laboratorium in Buda ist nichts davon in Europa zu finden. Das Präparat hat seinen Weg sonst noch nicht zu uns herübergefunden, weder in die Pharmakopöe, noch in die Literatur über Toxikologie. Die Pflanzenwurzel ist wie ein Fuß geformt, halb von menschlicher Gestalt, halb wie ein Ziegenfuß; daher der Name, den ihm der erste wissenschaftliche Entdecker, ein Missionar, gegeben hat. In gewissen Gegenden Westafrikas wird der Extrakt aus der Wurzel von den Medizinmännern bei Gottesurteilen gebraucht; sie hüten die Teufelswurzel als ein großes Geheimnis. Die kleine Menge hier in der Tüte erlangte ich unter ganz besonderen Umständen bei den Ubanghi-Negern.« Er faltete die Tüte auf, während er sprach, und zeigte uns ein kleines Häufchen rotbraunen Pulvers, ähnlich wie seiner Schnupftabak.

»Bitte zur Sache, Herr Doktor«, mahnte Holmes etwas ungeduldig.

»Ich werde Ihnen alles sagen, wie es sich tatsächlich zugetragen hat, denn Sie wissen schon so viel, daß es durchaus in meinem Interesse liegt, Sie auch den Rest wissen zu lassen. Ich habe Ihnen schon gesagt, in welchen verwandtschaftlichen Beziehungen ich zu der Familie Tregennis stand. Um der Schwester Brenda willen verkehrte ich auch freundschaftlich mit den Brüdern. Früher hatte einmal ein Familienzwist bestanden, irgendeine Geldgeschichte, und Mortimer wurde dadurch den anderen entfremdet; die Verstimmung wurde aber späterhin beseitigt, und ich traf mit Mortimer ebenso wie mit den anderen zusammen. Er war ein schlauer, pfiffiger, im Geheimen Pläne schmiedender Mann, und ich sah Verschiedenes, was mir ihn verdächtig machte; es war aber nicht genügend, um darauf mit ihm zu brechen.

Eines Tages, es ist erst wenige Wochen her, kam er zu mir in meinen Bungalow, und ich zeigte ihm einige von meinen afrikanischen Kuriositäten, unter anderem auch dieses Giftpulver, und ich erzählte ihm von seinen merkwürdigen Eigenschaften, wie es diejenigen Gehirnzellen in Erregung bringt, in denen das Furchtgefühl seinen Sitz hat, und wie entweder Wahnsinn oder Tod das Schicksal des unglücklichen Negers ist, der von dem Medizinmann seines Stammes gezwungen wird, sich dem Gottesurteil zu unterwerfen. Auch sagte ich ihm, wie unbekannt das Gift in Europa ist, und daß die ganze europäische Wissenschaft es in keinem Falle praktischer Anwendung würde nachweisen können. Wie er mir das Gift wegnahm, weiß ich nicht, denn ich habe das Zimmer nicht verlassen, solange er dort war; er muß es mir aber damals genommen haben, während ich Glasschränke aufschloß und in Koffern herumsuchte und so weiter. Ich erinnere mich, wie er mit Fragen in mich drang in bezug auf die Menge und die Zeitdauer, die erforderlich seien, um die von mir geschilderte Wirkung zu erzielen. Damals ließ ich mir nichts davon träumen, daß er ganz persönliche Gründe und Absichten hatte, um mich derart auszufragen.

Ich dachte nicht mehr an die Sache, bis ich in Plymouth das Telegramm des Pfarrers Roundhay erhielt. Der Schurke Mortimer hatte damit gerechnet, daß ich bereits in See gegangen sei, ehe ich von der Tragödie unterrichtet sein konnte, und daß ich wohl für Jahre in Afrika so gut wie unerreichbar sein würde. Aber auf das Telegramm hin kam ich sofort zurück. Sobald ich die Einzelheiten erfuhr, war ich mir natürlich sofort darüber klar, daß mein Giftpulver angewandt worden war. Ich suchte Sie auf, Herr Holmes, in der Hoffnung, Sie hätten vielleicht irgendeine andere Erklärung gefunden, aber eine andere Ursache als den Teufelsfuß konnte es ja gar nicht geben! Ich war überzeugt, daß Mortimer Tregennis der Mörder sei; daß er aus Geldgier und vielleicht mit dem Gedanken, daß wenn alle seine Geschwister wahnsinnig würden, er der einzige Hüter und Verwalter ihres gemeinsamen Besitzes würde, das Giftpulver gegen sie angewandt hatte. Für mich stand es fest, daß Mortimer zwei seiner Brüder um ihren Verstand und seine Schwester um ihr junges Leben gebracht hatte, sie, die ich geliebt habe und die auch mich geliebt hat. Das war Mortimers Verbrechen; was sollte seine Strafe dafür sein?

Sollte ich die Behörden benachrichtigen und das Gesetz gegen ihn anrufen? Wo hatte ich Beweise? Ich wußte, daß alle Tatsachen wahr waren, aber würde es mir gelingen, eine Geschworenenbank von cornischen Landleuten durch solche ›afrikanischen Zaubergeschichten‹ zu überzeugen? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich durfte aber einen Mißerfolg, das heißt einen Freispruch Mortimers nicht riskieren. Meine Seele schrie nach Rache. Ich habe Ihnen schon gesagt, Herr Holmes, daß ich einen großen Teil meines Lebens außerhalb und jenseits der Gesetze gelebt habe, und daß ich mir schließlich selber Gesetz wurde. Ich wurde mir jetzt Gesetz gegen den Mörder. Ich beschloß, daß dasselbe Schicksal, das er gegen seine Geschwister herbeigeführt hatte, zur Strafe von ihm geteilt werden sollte. Entweder das, oder, wenn es mißlang, – dann mußte ich ihn mit eigener Hand richten. In ganz England gibt es sicherlich in diesem Augenblick keinen Mann, der weniger Wert auf sein Leben legt, als ich, wie ich hier vor Ihnen stehe.

Nun habe ich Ihnen alles gesagt. Alles übrige haben Sie ja selbst schon herausgefunden. Es ist richtig, wie Sie sagen, daß ich nach einer schlaflosen Nacht früh morgens von meinem Bungalow aufbrach. Ich sah die Schwierigkeit voraus, ihn allein, ohne die übrigen Hausbewohner, zu wecken, und steckte mir von dem Kieshaufen, den Sie erwähnt haben, die Taschen voll, um damit an sein Fenster zu werfen. Er kam in das Wohnzimmer herunter und ließ mich durchs Fenster einsteigen. Ich schleuderte ihm meine Anklage ins Gesicht. Ich erklärte ihm, daß ich als Richter und Nachrichter vor ihm stehe. Der Wicht fiel ganz in sich zusammen und sank in einen Stuhl beim Anblick meines Revolvers. Ich glaube, er war vor Angst und Schrecken halb ohnmächtig. Ich zündete die Lampe an, schüttelte oben auf den Rauchfänger etwas von dem Pulver und wartete draußen vor dem Fenster, entschlossen, ihn niederzuschießen, falls er den Versuch machen würde, an die frische Luft zu gelangen. In weniger als fünf Minuten aber war er tot. Mein Gott! Wie er starb! Aber mein Herz war hart wie Stahl, denn er litt nichts, was mein unschuldiger Liebling nicht vor ihm gelitten hatte. Nun wissen Sie alles, Herr Holmes. Vielleicht würden Sie selbst in meiner Lage ebenso gehandelt haben. Sie haben mich jetzt in der Hand; Sie mögen tun oder lassen, was Sie für recht halten. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, lebt kein Mensch auf Erden, dem der Tod weniger schrecklich sein kann als mir.«

Stillschweigend saß Holmes eine Weile da.

»Was haben Sie für Absichten oder Pläne?« fragte er schließlich.

»Ich wäre nach Zentralafrika gegangen, um mich dort zu vergraben. Meine Forschungsarbeit daselbst ist erst zur Hälfte durchgeführt.«

»Gut, dann gehen Sie und führen Sie auch die andere Hälfte durch«, sagte Holmes. »Ich wenigstens habe nicht die Absicht, Sie daran zu hindern.«

Doktor Sterndale erhob sich zu seiner vollen Größe, verbeugte sich gemessen und schritt wortlos von dannen. Holmes zündete seine Pfeife an und reichte mir seinen Tabaksbeutel.

»Die Verbrennung eines Giftkrautes, das weniger gefährlich ist, wird eine angenehme Abwechslung sein«, sagte er. »Ich glaube, auch du, Watson, bist der Ansicht, daß hier ein Fall vorliegt, den wir besser auf sich beruhen lassen. Unsere Nachforschungen haben wir unabhängig von anderen durchgeführt, und ebenso unabhängig soll jetzt auch unser weiteres Verhalten sein. Oder würdest du den unglücklichen Mann anzeigen?«

»Unter keinen Umständen«, antwortete ich sofort.

»Ich habe nie geliebt, Watson, aber wenn ich geliebt hätte und wenn die Frau, die ich liebte, solch ein Ende gefunden hätte, so würde ich wahrscheinlich ebenso gehandelt haben wie unser gesetzloser Löwenjäger es getan hat. Wer weiß!«

Wieder sah Holmes schweigend da; er hüllte sich in Rauchwolken.

»Ich will deinem Verstand nicht zu nahe treten«, sagte er endlich, »indem ich dir erkläre, was ganz offensichtlich ist. Einige Stückchen Kies auf dem Fenstersims wurden für mich zum Ausgangspunkt. Solcher Kies war sonst nirgends bei dem Pfarrhause oder überhaupt in der Nähe zu finden. Erst nachdem meine Aufmerksamkeit sich auf Doktor Sterndale und seinen Bungalow gerichtet hatte, erfuhr ich, wo der Kies herstammte. Die am hellen Tage brennende Lampe und die Überreste des Pulvers auf dem Rauchfänger bildeten weitere Glieder einer logischen Gedankenreihe. Und nun, mein lieber Watson, wollen wir den ›Cornischen Schrecken‹ ganz aus unserem Bewußtsein austilgen und mit einem reinen Gewissen erneut uns dem Studium der chaldäischen Sprachwurzeln hingeben, die sich gewiß in dem cornischen Zweig des großen keltischen Sprachstammes nachweisen lassen.«