Seit einem Jahre war der junge Doktor Leonhard am Gymnasium zu M., einer kleinen thüringischen Fabrikstadt, als Oberlehrer angestellt. Er war aus der Hauptstadt des Ländchens, in der er zuvor drei Jahre unterrichtet hatte, dorthin versetzt worden, weil der alte Professor, der in den beiden Oberklassen Griechisch und Deutsch gelehrt, plötzlich gestorben war und die Schulbehörde zu einem Ersatz niemand geeigneter fand als diesen noch jungen Lehrer, der sich als guter Pädagog bewiesen und nebenbei auch in wissenschaftlichen Arbeiten hervorgetan hatte.
Mit dem Tausch, der ja eine ungewöhnlich rasche Beförderung bedeutete, hatte der junge Mann alle Ursache zufrieden zu sein. Die Stadt, die trotz ihres Aufblühens noch einige Reste der altertümlichen Vorzeit bewahrt hatte, gefiel ihm ausnehmend, sowie auch die waldige Hügellandschaft, die sie umringte, seine Augen mehr ergötzte als die etwas nüchterne Umgebung seines früheren Wohnorts, zumal er ein eifrig landschafternder Dilettant war. Was die neuen Menschen betraf, unter denen er leben sollte, so kamen ihm alle von Anfang an aufs traulichste entgegen, sowohl seine Kollegen als die Schüler, deren Herzen er durch seine heitere und gütige Art in den ersten Stunden gewann. Daß die Gesellschaft ihn sofort als ein schätzenswertes und willkommenes Mitglied begrüßte, war kein Wunder. Er hatte keine Frau mitgebracht, und unter den Müttern heiratsfähiger Töchter war es kein Geheimnis geblieben, daß er außer seinem Gehalt von Hause aus einiges Vermögen besaß, so daß er selbst in den Familien der Fabrikbesitzer sich sehen lassen konnte. Unter den Töchtern vollends entstand ein heftiger Wettbewerb, welcher es gelingen möchte, die Augen des schlanken jungen Herrn auf sich zu ziehen, der sehr hübsch und wohlgesittet war und gar nichts Schulmeisterliches an sich hatte, sondern eher nach einem Künstler aussah. Da es auch herauskam, daß er ein guter Sänger war und seine Lieder selbst am Klavier begleiten konnte, war er in den ersten Monaten dermaßen vergriffen, daß er sich vor Einladungen nicht zu retten wußte und seine Zuflucht dazu nahm, eine wissenschaftliche Arbeit vorzuschützen, für die er sich seine Abende und auch die schulfreien Sonntage freihalten müsse. Daß er sich derart der Gelehrsamkeit befliß, wurde ihm von den jungen Schönen schwer verdacht und als einziger Fehler an dem sonst so »reizenden« Menschen betrachtet, während er bei den Eltern dadurch nur an Hochachtung gewann.
Diese Urteile für und wider kümmerten ihn durchaus nicht, zumal sein Herz allen Lockungen gegenüber freiblieb. In seinen Universitätsjahren hatte dieses Herz eine traurige Erfahrung gemacht, die es in seinem siebenundzwanzigsten Jahre noch nicht ganz hatte verwinden können. Davon war auch auf seinen Zügen ein schwermütiger Schatten zurückgeblieben, der ihnen aber einen eigenen Reiz gab, zumal das Gesicht sich sogleich liebenswürdig aufhellte, wenn ihm freundlich begegnet wurde. Diesem Aufglänzen seines reinen Gemüts, das bei allem Ernst jünger geblieben war als seine Jahre, konnte niemand widerstehen, der nur ein wenig Menschenkenner war, während auch die Jugend, ohne darüber nachzusinnen, das dunkle Gefühl hatte, daß dieser Herr Lehrer nicht zu der sonstigen Klasse gehörte, mit denen Possen zu treiben für eine Art Ehrenpflicht galt.
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Der erste Winter war ohne sonderliche Ereignisse vergangen.
Als das Frühjahr kam und mit ihm die Osterferien, hatte Leonhard ein Ränzel umgeschnallt und sich aufgemacht, Umschau in Berg und Tal zu halten. Unter all den lieblichen und malerischen Gegenden, die er durchwanderte, hatte ihm eines der größeren Dörfer eingeleuchtet, das seitab von der Eisenbahn an einem hellen Flüßchen gelegen und mit Wäldern und Wiesen reichlich ausgestattet war. Am liebsten hätte er hier sofort sich niedergelassen, um nach Beute für sein Skizzenbuch auszugehen. Das wurde ihm durch plötzlich einfallendes Regenwetter vereitelt, und er sah sich gezwungen, die letzten Tage der Vakanz dranzugeben und rasch nach der Stadt zurückzukehren, was in einer kleinen Stunde geschehen konnte.
Bevor er aber fortging, hatte er sich danach umgesehen, wo Gelegenheit wäre, sich zu einer längeren Sommerfrische einzumieten. Da die Bauern schon begonnen hatten, sich auf städtische Gäste einzurichten, fand er bald, was er suchte, bei einer guten und klugen älteren Frau, die vor einem Jahre ihren Mann verloren hatte und nun ein Zimmer für einen Fremden abgeben konnte. Leonhard und seine künftige Wirtin fanden Gefallen aneinander, und alles wurde für die großen Ferien Ende August zwischen ihnen verabredet.
Als diese von Leonhard ersehnte Zeit nun herangekommen war, packte er ein bescheidenes Köfferchen und schickte es nebst einer schlanken Staffelei, dem großen weißleinenen Sonnenschirm und dem Kasten mit dem Gerät für Aquarellstudien nach dem Bestimmungsort voraus, da er selbst zu Fuß nachfolgen wollte. Es war der herrlichste milde Sonnentag, den der scheidende Sommer bescheren konnte, und mit allen Sinnen sog der Wanderer die lachenden Bilder und Duft und Frische des Morgens ein, in der Vorfreude seiner malerischen Ferienarbeiten. Denn es ging ihm wie anderen Dilettanten, daß, so lieb ihm der Umgang mit den jungen Köpfen und seine gelehrten Studien waren, sein ganzes Herz doch nur aufging, wenn er auf seinem Feldstühlchen saß und den Pinsel in seine Wasserfarben tauchte. Wie es kommt, daß uns nur ganz glücklich macht, was wir nur halb können, daß selbst ein Meister irgendeiner Kunst mit Begierde eine andere betreibt, in der er es nie zur Meisterschaft bringt, ist ein Problem, dem hier nicht weiter nachgegrübelt werden soll.
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Draußen in seinem bäuerlichen Quartier wurde er von der Wirtin aufs beste empfangen. Sie führte ihn in das Zimmer, das er bewohnen sollte, dasselbe, in dem ihr Mann früher, da die Dorfgemeinde ihn zu ihrem Bürgermeister oder Schulzen gewählt hatte, seine amtlichen Arbeiten besorgt und Beratungen abgehalten hatte. Ein Aktenschrank, der jetzt leer war, erinnerte noch daran. Es war ein freundliches, nach Westen schauendes Gemach, durch dessen einziges Fenster man auf das alte Dorfkirchlein blickte. Dunkler Efeu hatte es ganz umsponnen, und vor der Tür standen zwei hochwipflige Ulmen, die Leonhard schon beim ersten Besuch sich für sein Skizzenbuch notiert hatte. Sein Köfferchen und das Malgerät waren schon vor ihm eingetroffen. Er ging sogleich daran, auszupacken und sich häuslich einzurichten. Die wenigen Möbel waren sauber, für das Bett bat er sich nur eine leichtere Decke aus, und das Bild des entschlafenen Hausherrn, das an der Wand darüber hing, von einem durchreisenden »Künstler« gemalt, war derart jenseits von gut und schlecht, daß er darüber wegsehen konnte.
Das achtjährige blonde Töchterchen der Wirtin spähte durch die Tür herein. Er rief es zu sich, liebkoste das frische, runde Gesichtchen und ließ sich von dem Kinde in Hof und Stall führen, wo fünf stattliche Kühe und zwei Pferde standen. Zu dem Hause gehörten ein paar Felder und ein großer Besitz an Wiesen, da die Dorfleute hier mehr Viehzucht als Ackerwirtschaft trieben. Die Kleine wußte schon von allem Bescheid, und ihr zutuliches Geplauder ergötzte ihn. Alles in allem sagte er sich, daß er nicht behaglicher in seinen Ferien hätte unterkommen können.
Dann ging es zum Essen in das Wirtshaus, wo er schon damals eingekehrt war und eine Nacht zugebracht hatte. In dem geräumigen Saal, der offenbar erst vor etlichen Jahren angebaut war, fand er schon mehrere Tische mit Sommergästen besetzt, darunter einige ihm bekannte Gesichter, von denen er aber nach einer flüchtigen Begrüßung keine weitere Notiz nahm. Er flüchtete sich in eine einsame Ecke und vermied sorgfältig, nach der Seite hinzublicken, wo Mütter saßen, die mit Töchtern gesegnet waren. Auch übereilte er sein Mahl, um vor ihnen sich entfernen zu können. »Sie müssen mich durchaus in die Kost nehmen, liebe Frau Wittekind,« sagte er, als er wieder zu seiner Hausfrau gekommen war. »Nein, ich werde Ihnen keine Umstände machen. Was Sie selbst mit Ihren Leuten essen, ist mir genügend, und ich bin überhaupt nicht verwöhnt. Aber mit diesen Herrschaften aus der Stadt mich unterhalten zu müssen, verdirbt mir alles ländliche Vergnügen und nimmt mir den Appetit. Viel lieber schwätz’ ich mit Ihnen und meiner kleinen Freundin Susel.«
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Nach einer kurzen Siesta auf dem harten Ledersofa, das jahrelang die schweren Glieder des Bürgermeisters gedrückt hatten, machte er sich auf, Umschau in der Gegend zu halten und nach malerischen Motiven zu spähen.
Die Gegend breitete sich nach Osten ziemlich eben aus, zwischen Büschen und einigen Baumgruppen lagen die meist ansehnlichen Höfe voneinander gesondert, nur an dem gewundenen Ufer des Flüßchens dichter einander benachbart, fast überall ein malerisches Auge durch ihr altertümliches Ansehen und gesättigte tiefe Farben erfreuend. Nach Westen jedoch stieg das Gelände sanft an, und hier stand, die Hügel bekrönend, ein prachtvoller Hochwald, der stundenweit ins Land hinaus sich erstreckte. Langsam wanderte Leonhard, nachdem er einige Punkte auf der Dorfseite gefunden hatte, die er demnächst zu malen gedachte, auf den Forst zu, an dessen Fuß sich ein altes, ansehnliches Haus erhob, nicht von bäuerlichem Zuschnitt, sondern offenbar das Wohnhaus eines Försters. Über der vorderen Tür das mächtige Geweih eines Damhirsches, nach hintenzu ein starker niederer Zaun, der einen kleinen Hof gegen den Fußweg abgrenzte. Kläffende Hunde wurden laut, als Leonhard sich näherte, er sah ein paar schwarze Dackel an die Stäbe heranspringen und die lange Figur eines jungen Menschen sich nähern, offenbar ein Jagdgehilfe, der den Fremden neugierig beobachtete und höflich die Kappe zog, als er gegrüßt wurde.
Leonhard aber hielt sich nicht auf, sondern stieg ruhig weiter. Lange hatte er eine solche Pracht von Buchen und Eichen nicht gesehen, und es fehlten ihm nur die Vogelstimmen, die zu dieser Jahreszeit längst verstummt waren. Nur die Eichhörnchen, die in großer Menge zwischen den Stämmen sich hin und her schwangen, belebten die reglose Stille.
Er saß zuerst eine Weile auf einem Bänkchen zu Füßen einer uralten Eiche, ehe er die Wanderung fortsetzte. Bald hob sich der Boden, und der Weg stieg neben einer Schlucht in die Höhe, in deren Grunde er einen See gewahrte, jetzt, da die Sonne sich schon neigte, tiefschwarz, von Birken und jungen Buchen umstanden. Durch eine Lücke in der waldigen Umfriedung sah man in eine grüne Wiese hinaus, auf der eine Hütte stand, von einem verwilderten Gärtchen umgeben. Das nahm sich in dieser Einsamkeit so eigen aus, daß Leonhard lange stehen blieb und die Blicke an dem Bilde weidete. Er beschloß, gleich morgen hier eine Studie zu machen, wenn die Sonne den Durchblick hinter dem dunklen See vergolden würde. Zunächst trat er dicht an den Rand des Abhangs vor und sah nun, daß ein schmaler Pfad in vielen Windungen an der Stelle hinunterlief, zuweilen durch ein paar hölzerne Treppenstufen unterbrochen. Er unterließ den Abstieg, da es spät geworden war und er nach Hause mußte, wenn er zu der Abendsuppe pünktlich zurück sein wollte »Auf morgen also!« sagte er vor sich hin, brach eine Blume, die ihm zu Füßen aus dem Grase vorsah, und wandte sich zur Umkehr.
Nach dem sehr einfachen Nachtmahl saß er noch lange auf der Bank vorm Hause, ein Weilchen in der Gesellschaft der Susel und ihres Kätzchens, das ihm zutraulich auf den Schoß gesprungen war, da alle Tiere gleich den Kindern sofort empfanden, daß er ihr Freund war. Als die Kleine zu Bett gegangen war und die Mutter drinnen noch den Besuch einer Freundin hatte, genoß er die laue Nacht mit tausend Sternen in einer wonnigen Einsamkeit und konnte sich erst, da das heisere Glöckchen auf dem Kirchturm elf Schläge tat, entschließen, sein Lager aufzusuchen.
Er war aber früh wieder aus, beeilte sich mit seinem Frühstück, das die Hausfrau ihm ins Zimmer trug, und trat dann, mit seinem Malgerät beladen, den Weg nach dem Fleck im Walde an, den er sich gestern für seine Arbeit ausgewählt hatte. Er fand den Blick auf den See hinab und zu dem Jagdhüttchen hinüber in der Morgenbeleuchtung noch anziehender, freilich auch ein wenig schwerer, da der Grund tief unter seinem Horizont lag und die Perspektive ungewöhnlich war. Aber mit der fröhlichen Sorglosigkeit des Dilettanten, der sich an jede Aufgabe wagt, da ihm die Schwierigkeit nicht voll zum Bewußtsein kommt, ging er flugs an die Arbeit, nachdem er sein Feldstühlchen hingestellt und die Mappe auf einen glatten Baumstumpf gelegt hatte, der ihm gut zu einem Maltisch dienen konnte. Dann kramte er Palette und Farbenkasten aus und ging munter ans Werk.
Es blieb kirchenstill rings um ihn her. Zu den Eichhörnchen, deren es hier, wie er gestern schon bemerkt, eine Menge gab, kam noch ein Reh, das erschreckt, da es seiner ansichtig wurde, die Flucht ergriff. Sonst nichts Lebendiges in der weiten Runde, als fern dann und wann das gedämpfte Kläffen der Dackel im Forsthaus und hoch über ihm der Schrei eines Bussards.
Plötzlich aber – vor ihm, am Rande der Schlucht, wo der schmale Pfad sich hinuntersenkte – ein Mädchenkopf unter einem schwarzen Strohhut auftauchend; gleich darauf die Brust und jetzt die schlanke Gestalt – und neben ihr ein schlanker rotbrauner Jagdhund, der laut aufbellend gegen den Mann hinsprang und erst durch den Ruf seiner Herrin zurückgehalten wurde.
Ein paar Augenblicke standen die beiden jungen Menschen einander stumm gegenüber, da die Überraschung ihnen die Zunge lähmte. Leonhard, der barhaupt gesessen hatte, war aufgesprungen, ohne sich nur einmal zu verneigen. Die Erscheinung des Mädchens auf dem landschaftlichen Hintergrund war eine so liebliche Staffage, daß er sie beinahe gebeten hätte, zehn Minuten stillzuhalten, bis er ihren Umriß auf sein Blatt gebracht hätte Ihr junges Gesicht – sie konnte noch nicht zwanzig Jahre alt sein – hatte, von dem Strohhut verschattet, einen ernsten Ausdruck, trotz der weichen Züge, ihre Gestalt in dem einfachen, lichtblauen Sommerkleid war kraftvoll entwickelt, und da sie ihre Fassung wiedergewann und mit einem leichten Neigen des Kopfes ihren Weg an ihm vorbei fortsetzen wollte, wachte auch er aus seiner Erstarrung auf, verbeugte sich höflich und sagte lächelnd: »Ich habe Sie erschreckt, mein Fräulein. Freilich habe ich keinen Erlaubnisschein, in Ihren herrlichen Wald einzudringen und zu tun, als ob ich hier zu Hause wäre. Aber wenn ich auch etwas stehlen will, was großen Wert für mich hat, Ihr Besitz bleibt Ihnen ungeschmälert Was ich da gemacht habe, ist noch sehr unvollkommen. Wenn Sie aber einen Blick darauf werfen wollen – –«
»Der Wald ist nicht mein Eigentum, sondern gehört dem Fürsten,« versetzte sie, »aber auch der erlaubt jedem, hineinzugehen. Ich begreife sehr gut, daß gerade diese Stelle Sie angezogen hat. Auch ich komme oft hierher, freilich – aus einem besonderen Grunde.«
Das letzte hatte sie mit einem leichten Seufzer gesagt, dessen Ursache er nicht verstand. Er war von seinem Blatt zurückgetreten, um ihr den Blick darauf freizulassen. Sie stand ein Weilchen davor. Dann: »Es ist sehr schön – und sehr traurig. Ich danke Ihnen.«
Sie trat wieder zurück und schien unschlüssig, ob sie noch bleiben sollte.
»Verehrtes Fräulein,« sagte er, »verzeihen Sie, wenn ich Sie noch mit einer Frage belästige – ich bin gestern erst angekommen – sind Sie zur Sommerfrische hier und nicht zum erstenmal?«
»O nein,« erwiderte sie, und ein flüchtiges Lächeln erschien an ihrem ernsten Munde, – »ich gehöre hierher, seit ich denken kann, ich bin die Tochter des Forstmeisters. Bis zu meinem fünfzehnten Jahre hab’ ich von der Welt nichts anderes gesehen als diesen Wald, bis auf ein paar kurze Besuche in der Stadt, die mir gar nicht gefiel, obwohl ich dort freundlich aufgenommen wurde, da eine Tante von mir, die Schwester meines Vaters, dort die Vorsteherin einer höheren Töchterschule ist. Bis dahin hatte ich gar keinen Umgang mit Altersgenossinnen gehabt und – es auch nicht entbehrt, und wie ich nun auf einmal so viele Mädchen kennen lernte, wurde mir gar nicht wohl unter ihnen. Sie waren alle so anders, wußten so viel, was mir neu und ungewohnt war und was mich durchaus nicht erfreute. Da sehnte ich mich bald zu meinen Bäumen zurück, zu meinen Eltern, die ich über alles liebte. Und doch – der Vater wollte, daß ich eine Zeitlang zur Tante kam, um etwas mehr zu lernen, als meine Eltern und der alte Schullehrer mir bisher beigebracht hatten. Da mußte ich, als ich fünfzehn Jahr geworden war, nun doch in die Stadt und gewöhnte mich endlich daran, da mir das Lernen leicht wurde, aber eigentlich froh wurde ich nur, wenn ich an Feiertagen wieder nach Hause durfte.«
Sie hielt plötzlich inne und sah ihn fast erschrocken an, als ob sie es unschicklich fände, einem jungen Herrn, den sie vor zehn Minuten zum erstenmal gesehen, so ausführlich von sich gesprochen zu haben. Ihm aber war die Unbefangenheit, mit der sie das getan, nun gerade sehr liebenswürdig erschienen.
Da sie nun Miene machte, mit einem kleinen Kopfnicken ihren Weg fortzusetzen, sagte er: »Nun, mein Fräulein, da ich den Wald für eine Weile als mir gehörig betrachten möchte, ist es wohl anständig, daß ich Ihrem Herrn Vater meine Aufwartung mache. Glauben Sie, daß mein Besuch gerade jetzt ihm nicht unbequem sein wird?«
»Mein Vater,« versetzte sie, und ein Schatten flog über ihre Augen, »ist krank, er hat wieder einen schweren Gichtanfall. Aber gerade dann ist ihm eine Zerstreuung zuweilen wohltätig, wenn es auch niemand gelingt, ihn im Grunde des Herzens heiter zu stimmen. Sie müssen wissen, vor anderthalb Jahren ist meine Mutter gestorben, das hat er nicht verwinden können. Solange sie lebte, war er der heiterste, glücklichste Mann von der Welt. Als das Unglück dann geschah – ich wurde sofort aus der Stadt zurückgerufen, um noch am Begräbnis teilzunehmen – da erkannte ich ihn nicht wieder. Er war um zehn Jahre gealtert, förmlich zusammengebrochen, oft wie geistesabwesend. Natürlich blieb ich bei ihm, obwohl er erst durchaus wollte, daß ich bei der Tante weiter lernen sollte. Ich hätte es nicht übers Herz gebracht. Wenn ich ihn früher schon über alles geliebt hatte, wie teuer war er mir jetzt erst geworden. O, wenn Sie ihn kennten –«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie verstummte und wandte sich ab.
Alles, was sie sagte, und der schlichte Ton, mit dem sie es vorbrachte, machte einen eigenen Eindruck auf ihn.
»Mein Fräulein,« sagte er, »würden Sie es zudringlich finden, wenn ich Sie bäte, mich gleich jetzt zu Ihrem Herrn Vater zu führen? Ich wollte ohnedies eben mit der Arbeit aufhören. Die Beleuchtung hat sich geändert, auch ist es sehr heiß geworden. Sollte Ihr Papa nicht dazu aufgelegt sein, meinen Besuch zu empfangen –«
»Er hat allerdings heute morgen über heftige Schmerzen geklagt, aber das ist vielleicht wieder vergangen. Jedenfalls will ich ihn fragen.«
Er hatte schon angefangen, seine Malsachen zusammenzupacken. Jetzt schloß er den Farbenkasten und sagte: »Ich bin fertig. Wenn wir nun gehen wollen –«
Sogleich setzten sich die drei in Bewegung, der Hund zwischen den beiden jungen Menschen, als wolle er eine Annäherung verhüten, doch nicht gerade feindselig gegen den Fremden, von dem er sich schon ein Streicheln seines klugen Kopfes nur mit leisem Knurren hatte gefallen lassen. Das Mädchen ging ein wenig voran, Leonhard fiel die Anmut ihrer Bewegungen auf, das Hütchen war ihr in den Nacken gerutscht, eine Fülle braunen Haars hatte sich gelöst und umrahmte in seinem Fall das feine, blasse Gesicht. So gingen sie eine Weile schweigend unter den dichten Buchenzweigen dahin. »Wie herrlich ist Ihr Wald!« sagte er endlich. »Ich begreife Ihr Heimweh. Und doch – im Winter muß es schaurig sein, unter den kahlen Wipfeln sich zu ergehen, außer wenn sie dick verschneit sind.«
»Es ist immer schön hier, nur immer anders, auch für einen Maler. Nur daß es oft nicht angehen würde, sich hinzusetzen, um Studien zu machen.«
»Aber wenn Sie es im warmen Zimmer auch gemütlich haben, die Einsamkeit in den langen Wintertagen muß Ihnen doch zuweilen drückend sein.«
»Nie! Ich habe den Vater, dem zuzuhören ich nie müde werde. Jetzt freilich – seit die Mutter tot ist und er aus seiner Trauer selten wieder einen heiteren Ton findet –, aber ich habe dann die Aufgabe, seine Gedanken abzulenken. Mit anderen Menschen komme ich selten zusammen, der Forstgehilfe ist nicht nach meinem Geschmack, der sitzt auch lieber im Wirtshaus unten und spielt Karten, und die Bauernmädchen – als Kind waren wir oft Spielgefährten; jetzt haben sie nichts im Kopf als ihre dummen Liebesgeschichten und halten mich für hochmütig, weil es mich nicht interessiert. Da unterhalte ich mich lieber mit Waldmann, der ein kluges Tier ist und mein alter Freund.«
Sie beugte sich zu dem Hunde herab und klopfte ihm das glänzende Fell. Leonhard fielen ihre hübschen Hände auf.
Dann waren sie bald beim Forsthause angelangt. Die Dackel sprangen ihr lustig entgegen, und sie hatte für jeden eine kleine Liebkosung, während Waldmann sich nicht zu ihnen herabließ. Aus der Küche, die hinten im Hause lag, trat eine ältliche Magd, der das schwarze Haar über die Stirn hereinfiel, was den trübsinnigen Ausdruck des bräunlichen Gesichts noch verstärkte. Eine Schar schöner Hühner bevölkerte im Hintergrunde den Hof, der sehr reinlich gehalten war, und auf dem Dach des Rückgebäudes girrten bunte Tauben.
»Ich muß doch um Ihren Namen bitten,« sagte das Fräulein lächelnd, »um Sie dem Vater vorzustellen. Ich selbst heiße Huberta, von den Leuten werde ich kurzweg Berta oder das Bertel genannt, von meiner Kinderzeit her. Die Alte da hinten ist mein ehemaliges Kindermädchen Hanne, jetzt unsere Köchin und treue Hüterin des Hauses. – Doktor Leonhard also! Warten Sie einen Augenblick, ich bin gleich wieder bei Ihnen.«
Es dauerte aber ein Weilchen, bis sie auf der Schwelle der Seitentür im Hofe wieder erschien. »Ich habe dem Vater erst zureden müssen,« sagte sie. »Der Gichtanfall ist noch nicht vorüber, er sagte, an einem Lazarus wie er könne niemand was gelegen sein. Da erzählte ich ihm, wie entzückt Sie von unserem Walde seien und wie dankbar Sie ihm sein würden, wenn er nichts dagegen hätte, daß Sie alle Stellen darin, die Ihnen gefielen, in Ihre Mappe eintrügen. Nur von dem, was Sie heute gemalt, müssen Sie ihm nichts sagen. Der See weckt ihm traurige Gedanken.«
Sie trat von der Schwelle zurück, um ihn einzulassen.
Drinnen im Gang legte er sein Gerät auf ein Bänkchen und folgte ihr dann zu der Tür eines Zimmers im Erdgeschoß, durch die er bei dem Herrn des Hauses eintrat.
***
Der Forstmeister, eine Hünengestalt mit einem buschigen, stark angegrauten Haarschopf, saß oder lag vielmehr in einem abgetragenen grauen Jagdrock mit grünen Aufschlägen an einem offenen Fenster, den rechten Fuß dick umwickelt auf einen Stuhl gelegt, aus einer kurzen Pfeife qualmend, eine Zeitung auf dem Schoß, in der er noch eben gelesen hatte. Eine Hornbrille mit großen, runden Gläsern war ihm auf das Blatt gefallen, da er den Oberkörper aus dem Armstuhl mühsam ein wenig erhob, um den Eintretenden, hinter dem die Tochter erschien, höflich zu begrüßen. Sein regelmäßiges, aber bleiches Gesicht, dem man die Krankheit ansah, blickte aus finsteren Augen unter den starken, noch schwarzen Brauen, und ein scharfer Zug blieb an dem blassen Munde. Bei alledem war die Ähnlichkeit der Tochter mit diesem Vater nicht zu verkennen, nur jeder Zug, schon durch die Jugend, gemildert und verfeinert.
»Sie kommen zu einem armen Schächer, Herr Doktor,« rief er Leonhard entgegen, und wenn er Ihnen nichts zu bieten hat, geschieht es nicht aus bösem Willen. Schon seit drei Wochen bin ich wieder auf mein Folterbett gespannt, und wer weiß, wie lang es diesmal dauert. Wenn Sie früher gekommen wären – ich höre, daß Sie den Wald lieben – –, da hätt’ ich mir ein Vergnügen daraus gemacht, Sie zu den schönsten Stellen zu führen, oder gar, wenn Sie Jäger sind – nicht? Nun um so besser. Ein alter, eingefleischter Weidmann haßt nichts mehr als die Sonntagsjäger, die ihm die Böcke weidwund schießen, nein, noch mehr haßt er die hohen Herren, die sich’s behaglich auf ihrer Kanzel machen und sich das Wild zu Dutzenden zutreiben lassen, um dann blind in den Haufen hineinzuknallen. Was ein richtiger Jäger ist, der hat eine Freundschaft mit schönem Wild, der entschließt sich schwer, einen kapitalen Hirsch zu schießen, dem er jahrelang nachgegangen ist, aber endlich muß es doch sein. Na, das können Sie mir nicht nachfühlen. Ich aber werde es ja auch nicht lange mehr erleben. So kann es nicht fortgehen. Wenn ich nicht mehr in den Wald hinaus kann, wird der Fürst mich pensionieren, und in das Haus, in dem ich nun zwanzig Jahre gewohnt habe, zuerst noch als Gehilfe, zieht dann ein anderer hinein. Das zu sehen aber ertrage ich nicht, da suche ich mir ein anderes Quartier, wo ich in der Brunstzeit keinen Hirsch mehr röhren oder am dunklen Morgen keinen Auerhahn balzen höre.«
Die Tochter, die sich, nachdem sie Leonhard einen Stuhl zum Tisch des Vaters hingestellt, in eine Ecke des Zimmers zurückgezogen hatte, sagte jetzt, da der Besucher nichts erwiderte: »Vater! Hast du mir nicht versprochen, so nicht wieder zu reden? Du weißt ja, daß es mir ins Herz schneidet, wenn du mich daran erinnerst, daß du mich einmal verlassen könntest!«
Der Vater warf einen Blick zu ihr hin, und sein Gesicht überflog eine zärtliche Rührung. »Dummes Kind!« brummte er. »Da hören Sie, Herr Doktor, wie das Mädel sich selbst widerspricht. Sie glaubt nämlich auch wie unser Pastor, wer mit diesem Leben zu Ende ist, der komme in eine bessere Welt. Damit wollte mich der alte Seelsorger trösten, als er mich neulich besuchte. Er hat mich freilich verdammt selten unter seiner andächtigen Gemeinde gesehen, wenn er predigte, Sonntags hatte ich gewöhnlich etwas Notwendigeres zu tun, da wurde ihm um mein Seelenheil bange, als er hörte, die Krankheit setze mir besonders arg zu. Und da er ein mitleidiges Herz hat, kam er, mir Trost zu spenden. Wenn es zum Schlimmsten komme, solle ich darum doch nicht klagen, ich käme ja nun in eine bessere Welt. Herr Pastor, sagte ich, finde ich da drüben auch wieder Wald und allerlei Wild darin und gibt mir einer der Engel als Jagdgehilfe eine geladene Büchse, daß ich mich an einen starken Bock heranpirschen kann? – Wo denken Sie hin, sagte der geistliche Herr und wurde ganz rot im Gesicht. Solche irdischen Dinge bleiben ja auf der Erde zurück. Nun denn, sagte ich und konnte mich eines kleinen Lachens nicht enthalten, dann ist die Welt da drüben doch nicht die bessere Welt. Immer nur Choralsingen, dazu tauge ich nicht, ich habe eine rauhe Stimme, wie Sie hören, und käme mir dabei auch wie ein gottloser Tagedieb vor. Da zieh’ ich’s lieber vor, ganz zu schweigen und nichts von mir zu wissen. Er hat noch eine Weile in mich hineingeredet, ist dann sehr betrübt gegangen, da er alle Hoffnung meinetwegen aufgegeben hatte. Hernach hat mich mein eigenes Kind ins Gebet genommen. Sie pflegt den Papa nicht bloß und bürstet und flickt ihm seine Röcke, sondern sie möchte auch jeden Fleck von seiner armen Seele tilgen. Na, ich lasse sie machen, ich kann’ ihr ja sonst nicht viel zuliebe tun, wie sie’s verdiente.«
Er winkte ihr, daß sie zu ihm kommen sollte, sie sah es aber nicht, da sie ihr Tuch vor die überfließenden Augen gedrückt hatte. Noch immer hatte Leonhard kein Wort gesprochen.
»Herr Forstmeister,« brach er endlich die beklommene Stille in dem großen Zimmer, »ich gestehe, daß auch ich von einem jenseitigen Leben mir keine Vorstellung machen kann, und an etwas zu glauben, was mein Verstehen übersteigt, ist nur ein leeres Wort. Aber daß da der Wunsch von der Möglichkeit der Erfüllung träumt, ist ja eine alte Erfahrung, und die Sehnsucht, geliebte Menschen, die einem entrissen würden, wiederzusehen, ist einem zärtlichen Gemüt zu natürlich, als daß man sie bekämpfen sollte. Wenn Ihre Tochter sich auf die Verheißung der ewigen Seligkeit verläßt und ihre Mutter dereinst wiederzusehen hofft –«
Das Gesicht des Forstmeisters verdüsterte sich plötzlich, seine Brauen zogen sich zusammen, mit einer gewaltsamen Gebärde fuhr er vom Sessel auf und setzte den kranken Fuß auf den Boden. Er öffnete den Mund zu einer höhnischen Grimasse und schien ein heftiges Wort auf der Zunge zu haben. Dann sank er mit einem unterdrückten Schmerzenslaut zurück und brachte heiser und mühsam nur hervor: »Verzeihen Sie, Herr Doktor! Es kommt wieder über mich, wenn es so stark zu toben anfängt, kann ich mich kaum beherrschen – ich muß Sie bitten, mich zu entschuldigen – ein andermal, wenn ich Sie nicht überhaupt abgeschreckt habe –«
Leonhard erhob sich, ergriff die zitternde Hand, die der Alte ihm entgegenhielt, stammelte etwas von einem Wunsch, der Anfall möchte rasch vorübergehen, und verließ das Zimmer, der Tochter nur einen Abschiedsgruß hinüberwinkend.
***
Er hatte den Hausgang rasch durchschritten, seine Malsachen wieder an sich genommen und die Tür, durch die er hereingekommen war, erreicht, als er den leichten Schritt des Mädchens hinter sich hörte.
»Wie bedauere ich,« hörte er sie flüstern, »daß Sie meinen armen Vater in solcher Aufregung verlassen mußten! Er ist leider so reizbar, der kleinste Anlaß genügt, seine Stimmung aus dem Hellen ins Dunkle umschlagen zu machen. Besonders der Gedanke an ein Wiedersehen, selbst mit meiner Mutter, die er so sehr geliebt hat – ich begreife nicht, warum, aber ich habe es selbst erfahren, als ich einmal ganz arglos davon anfing. Ihnen aber möchte ich nun danken, daß Sie meine Partei genommen haben, obgleich Sie selbst – wie Sie andeuteten – nicht daran glauben.«
Sie waren in den Hof hinausgetreten und standen einen Augenblick einander gegenüber.
»Liebes Fräulein,« sagte er und blickte in ihr schönes, von innerer Bewegung getötetes Gesicht, »ich kann Ihnen keine entschiedene Antwort geben. Während vieler Jahre habe ich mich bemüht, den Schleier, der diese Geheimnisse verhüllt, zu heben. Sie kennen das Schillersche Gedicht von dem Jüngling zu Sais. So ist es mir ergangen. Zum Glück habe ich nicht Theologie studiert, sondern Philologie und Geschichte, und bin somit nicht verpflichtet, über das, was hinter dem Vorhang liegt, Rechenschaft zu geben. So erwarte ich das, was kommen soll, ruhig, jetzt sogar auch ohne Neugier. Ich habe meine Eltern früh verloren. Soll ich sie einmal wiedersehen, wird das ein freudiges Erlebnis für mich sein, da ich ihnen lange nicht genug gedankt habe für alles Liebe und Gute, das sie an mir getan. Bleiben sie mir ewig entschwunden, habe ich mich drein zu ergeben, und da ich dann wohl nichts mehr emp finden werde, wird es mir kein Kummer sein. Ich meine, damit muß ich mich zufrieden geben.«
»Ich kann es nicht!« sagte sie und sah mit einem schwärmerischen Blick vor sich hin. »Das jetzige Leben hätte seinen besten Wert für mich verloren. Aber das will ich für mich behalten. Sie wissen, wie es in der Bibel heißt: ›Glaube und Hoffnung – die Liebe aber ist das Höchste‹, und solange ich meinen Vater habe –«
Sie drückte ihm die Hand und entschlüpfte ihm rasch wieder ins Haus hinein.
*
Als er von Waldmann sich im Hof verabschiedet hatte und aus der Tür des Stakets herausgetreten war, blieb er noch stehen und sann über das eben Erlebte nach. Dann hörte er aus dem Kirchlein unten die Glocke heraufläuten – zwölf Schläge, und es fiel ihm ein, daß er seiner Hausfrau versprochen hatte, an ihrem häuslichen Essen teilzunehmen. Eilig legte er den Weg zurück, die Frau aber trat ihm im Hausgang entgegen und lachte, da er sich wegen der Verspätung entschuldigte. Sie hätten gar nicht auf ihn gewartet, es ginge nicht an, daß er in der Küche mit ihnen speise, auch sei er doch bei aller Genügsamkeit etwas anderes gewöhnt als ihre ländliche Kost, die man nur vertrage, wenn man auf dem Felde und im Kuhstall gehörig geschafft habe. Er müsse ohnehin mit ihrer Kochkunst vorlieb nehmen.
Sie ging ihm voran in sein Zimmer, wo sein Tisch sauber gedeckt war, und trug ihm dann das Essen auf, setzte sich auch ihm gegenüber und plauderte zutraulich mit ihm, wo er gewesen sei und ob er was gemalt habe. Er erzählte ihr seinen Morgen und zeigte ihr das angefangene Blatt und was sich dann begeben hatte.
»Ja, ja, die Bertel,« sagte sie, »nein, so darf man sie nicht mehr nennen, nur bis sie groß wurde, jetzt ist sie Fräulein Huberta. Ein wunderlicher Name, und sie mag den alten auch lieber hören. Mit dem See aber ist’s eigen, vor dem graut ihr eigentlich, und doch zieht es sie zu ihm hin. Sie wissen doch, daß ihre Mutter sich darin ertränkt hat?«
»Nein. Nur daß ihre Mutter gestorben ist und sie seitdem beim Vater lebt und nur für ihn.«
»Das weiß Gott, sie würde auch für ihn sterben, wenn es nötig wäre; es gibt keine treuere und herzlichere Tochter. Das zeigt sich auch in ihrer Trauer um die Mutter, die nie aufhört. In den anderthalb Jahren, seit das Unglück geschehen ist, hat sie keine Kirchweih, kein Tanzvergnügen besucht, obwohl sie gar nicht stolz ist und mit den Dorfmädchen, mit denen sie als Kind gespielt hat, noch gerne plaudert, wenn sie ihr begegnen. Es gibt auch unter den jungen Burschen keinen, der nicht für sie durchs Feuer ginge. Aber die Mutter liegt ihr beständig im Sinn.
Es war auch eine besondere Frau, wie ich sonst keine gesehen habe. Sie war sehr schön und noch nicht viel über zwanzig, als sie ins Forsthaus kam, kurz nachdem sie geheiratet hatte, und sie gefiel jedermann, aber so recht ein Herz konnte man nicht zu ihr fassen, und sie fragte auch nichts danach. Denn Sie müssen wissen, Herr Doktor, sie war eine Adlige, aber die Familie war heruntergekommen und hatte nichts dagegen, daß der Forstmeister sie freite. Sie selbst – obwohl sie stolz war – es war doch nicht bloß, um versorgt zu werden, daß sie ihn nahm. Er war ein schöner Mann, man kann’s ihm jetzt noch ansehen, na, und verliebt! Ein Herz von Stein hätt’ es schmelzen müssen. So lebten sie ganz glücklich miteinander, und wie erst das Kind gekommen war, da blieb ihr wohl nichts zu wünschen. So die ersten fünf, sechs Jahre. Dann aber fing sie an, etwas Abwechslung und Unterhaltung zu entbehren, und wurde schwermütig. Zu uns hatte sie noch das meiste Vertrauen, und ich suchte ihr’s auszureden. ›Ja, Mutter Wittekind,‹ sagte sie und seufzte, ›Ihr wißt nicht, daß es noch ein ander Leben gibt als hier in der Wildnis und auf Eurem Gehöft, und mein Mann, der’s weiß, lebt nur für seinen Wald und die Jagd. Wer aber wie ich draußen in der großen Welt ausgewachsen ist –‹
Dabei blieb sie, und ich bemühte mich auch, sie zu verstehen, sagte aber, wem der Herrgott ein solches Kind beschert habe, und dergleichen mehr. Dann zog sie das Bertchen ans Herz und küßte es, aber die Tränen flossen ihr aus ihren schönen schwarzen Augen. Die Tochter hat ihre grauen vom Vater, dem sie überhaupt mehr ähnelt als der Frau Mama. Und sie begriff schon früh, was der fehlte, und wie sie erst ins Backfischalter kam, tat sie, was sie konnte, die Mutter aufzuheitern. Der Forstmeister aber, der seiner Frau das Blaue vom Himmel hätte herunterholen mögen, gab ihr Erlaubnis, jedes Jahr eine Reise zu machen, nach Dresden zu ihren Verwandten oder nach Berlin oder an die See. Das Kind sollte sie mitnehmen, das weigerte sich aber und wollte den Vater nicht allein lassen.
Dann, als sie fünfzehn geworden war, gab der Vater die Berta in die Schule, zu seiner Schwester, das hat sie Ihnen ja erzählt, auch daß sie sich in der Stadt unglücklich fühlte, je mehr, je melancholischer die Mutter wurde, die sie so gern mit ihrer Liebe aufgeheitert hätte. Im letzten Jahre vollends, da sah es zuweilen aus, als ob die Frau hintersinnig werden sollte. Man sprach allerlei. Damals war ein Forstgehilfe im Hause, ein verwegener Mensch, schmuck und flott von Ansehen, aber mit einem Geschau, das keinen guten Charakter verriet. Allen Dirnen im Dorf stellte er nach und alle ihm, und eine hatte er richtig ins Unglück gebracht, man konnte es ihm aber nicht nachweisen, daß er des Kindes Vater sei, und sie hielt den Mund.
Nun, eines Tages erfuhr man, daß der Forstmeister ihn Knall und Fall entlassen hatte. Warum, kam nicht heraus. Die alte Hanne im Forsthaus war stumm wie das Grab. Acht Tage später aber zog man die Forstmeisterin tot aus dem See.«
***
Die gute Frau stand mit einem Seufzer auf, trug Schüssel und Teller hinaus und kam mit einem Körbchen wieder, in dem ein paar schöne Pfirsiche und Birnen lagen.
»Die müssen Sie versuchen, Herr Doktor. Es sind die ersten, die an unseren Spalieren im Garten reif geworden sind. Die Nachbarn beneiden uns darum. Vielleicht aber sind sie noch nicht ganz so süß, wie sie in acht Tagen sein werden«
Leonhard blickte zerstreut auf die Früchte und nahm mechanisch einen der Pfirsiche. »Hat die Tochter das alles erfahren?« fragte er.
»Das von dem Selbstmord konnte ihr nicht verschwiegen werden. Weil sie den Trübsinn der Mutter kannte, fand sie die Tat, die ihr grauenhaft war, doch begreiflich. Das andere, das mit dem Forstgehilfen, verschwieg man ihr. Sie hatte ihn auch nicht gekannt, da er seinen Dienst erst nach Weihnachten angetreten hatte, als sie schon wieder auf der Schule war. O, das arme liebe Mädchen, ich kann nicht sagen, wie sie mich erbarmt. Jetzt auch, weil sie den Gram des Vaters mitansehen muß, der wie ganz zerbrochen war, so daß der Doktor eine Weile für seinen Verstand fürchtete. Daß er dann die Gicht bekam, wurde fast wie ein Glück angesehen. Seine grimmige Laune und Bitterkeit erklärte man sich nun aus seinen Körper schmerzen. Aber der Tochter wurde dadurch eine neue Last auferlegt. Wie soll das noch werden? Wie lange wird sie noch so von aller Welt abgeschieden neben dem Kranken hinleben und ihre Jugend versäumen müssen! Und keine könnte einen Mann, der sie liebte, so glücklich machen wie sie.«
Die Hausfrau wurde vom Knecht abgerufen, der in einer Wirtschaftssache sie etwas zu fragen hatte. Leonhard blieb noch am Tisch sitzen, die schöne dunkle Frucht in der Hand, die er nach einer Weile versonnen in das Körbchen zurücklegte. Ein bitterer Geschmack war auf seiner Zunge, die von nichts Süßem gereizt wurde. Was war über ihn gekommen? –
Zuletzt stand er auf, nahm seinen Hut und ging ins Freie. Er wanderte langsam durch das ganze Dorf, hielt sich aber an keiner der Stellen auf, die ihm gestern besonders aufgefallen waren. Denn das Bild des Mädchens stand beständig vor seinem inneren Auge und vor seinem Geist ihr Schicksal, das ihm eben erzählt worden war. Als das letzte Gehöft hinter ihm lag und die Straße nun am Waldrand hinlief, kam er bald zu einer Mühle, die sehr malerisch am Flusse lag und ihn zuerst wieder aus seiner Träumerei aufweckte. Er umging sie von allen Seiten, setzte sich endlich auf eine Bank, von der aus er den günstigsten Blick hatte, und zog ein kleines Skizzenbuch aus der Tasche, das er immer bei sich trug. Wenigstens mit ein paar Strichen wollte er das Bild festhalten. Doch ehe er noch den Bleistift angesetzt hatte, ließ er das Büchlein auf seine Knie sinken und starrte gedankenvoll vor sich hin.
So saß er wohl eine Stunde. Endlich schien ihm all sein Bemühen, der Natur ihre Reize abzustehlen, ein törichtes und unerquickliches Beginnen, und er steckte das Buch wieder ein. »Huberta!« sagte er tiefsinnig. Wer ihr nur helfen könnte! – Es war das so plötzlich mit Macht über ihn gekommen, weil seit jenem Jugenderlebnis – jene erste Liebe war ihm durch den Tod entrissen worden – kein weibliches Wesen einen tieferen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Nun empfand er, daß etwas in sein Leben getreten war, das mehr für ihn bedeuten sollte als ein flüchtiges Abenteuer. Und doch konnte er sich nicht erklären, was diesem stillen, traurigen Mädchen, das keine berückende Schönheit besaß und keine blendenden geistigen Gaben, diese geheime Macht über ihn gab, die seine Gedanken immer wieder zu ihr zurückzog.
***
Nachdem er noch lange ziellos herumgeschweift und der Tag ihm unlustig und unfruchtbar vergangen war, kam er endlich spät nach Hause, war aber nicht dazu aufgelegt, wie gestern abend mit Susel und ihrem Kätzchen noch eine Weile zu schwatzen, sondern ging gleich in sein Zimmer und bat die Hausfrau nur noch um etwas Brot und eine Schüssel Milch. Dann ging er früher als sonst zu Bett, um dem Gewühl seiner Gedanken zu entrinnen.
Später als sonst erwachte er und rüstete sich eilig zum Aufbruch, so wenig er hoffen konnte, droben im Walde schon jetzt dem Mädchen wieder zu begegnen. Indessen ging er, obwohl ohne besonderen inneren Trieb und Eifer, an dem bekannten Platz wieder an die Arbeit, die er auch ohne Pause ein paar Stunden fortsetzte, dabei immer auf den Weg hinter seinem Rücken hinunterhorchend und jeden Augenblick in der Erwartung, über den Rand des Abhangs ein schwarzes Strohhütchen auftauchen zu sehen und daneben den glatten braunen Kopf eines Jagdhundes mit blanken dunklen Augen.
Doch von keiner Seite kam, was er sehnlich erwartete.
Als es endlich gegen Mittag ging, erhob er sich, warf noch einen Blick auf das beinah vollendete Blatt und verschloß es in der Mappe, ohne sonderliche Freude. Denn er hatte nun wohl eingesehen, wie weit er hinter der schweren Aufgabe zurückgeblieben war. Überhaupt – was kam bei der ganzen Pfuscherei heraus? Diesmal höchstens bewahrte er dadurch die Erinnerung an ein vielleicht folgenschweres Erlebnis.
Er ging dann langsam mit seiner getäuschten Hoffnung den Waldweg hinab, doch an dem Försterhause vorüberzugehen gewann er nicht über sich. An der Gittertür blieb er stehen und spähte in den Hof hinein. Doch weder Waldmann noch die Dackel begrüßten ihn, und kein Mensch ließ sich blicken. Da klinkte er das Pförtchen auf und ging an der Hoftür vorbei nach der Küchentür, aus der er gestern die Hanne hatte treten sehen.
Auf sein Anklopfen öffnete ihm die Alte und sah ihm verwundert ins Gesicht. Doch wurde ihr Ausdruck sofort freundlicher, als sie ihn erkannte.
Er komme nur, sich nach dem Befinden des Herrn Forstmeisters zu erkundigen, der gestern, da er ihn besucht, einen so heftigen Anfall gehabt. Er hoffe, er sei bald vorübergegangen.
Sie nickte. So habe sich’s verhalten. Zum Glück sei der Doktor aus der Stadt gekommen, der alle acht Tage sich nach dem Herrn umsehe; der habe ein neues Mittel mitgebracht, das habe den Schmerz bald beruhigt, und die Nacht sei dann gut verlaufen. Ob der Herr nicht eintreten wolle?
Heute nicht. Vielleicht werde er sich morgen erlauben, nachzufragen, ob ein Besuch willkommen sei. Er bitte an den Herrn seine Empfehlung und einen Gruß an Fräulein Huberta zu bestellen.
Gerade da er ihren Namen aussprach, trat das Mädchen selbst in die Küche. Eine leise Röte überflog ihr blasses Gesicht, als sie Leonhard erblickte.
»Sie sind es!« rief sie. »Waldmann hat Ihren Schritt erkannt. Wollen Sie nicht eintreten?«
Er wiederholte, weshalb er gekommen sei. Sie berichtete etwas ausführlicher, was Hanne ihm schon gesagt hatte.
Dabei war er über die Schwelle getreten und hatte einen Blick über die blanken Kessel und Kasserolen und den sauberen Herd geworfen. »Sie haben’s so hübsch hier!« sagte er und sah, wie die harten Züge der alten Magd von befriedigtem Stolz leuchteten. »Ja, meine Hanne« nickte das Fräulein ihr zu. »Wenn ich die nicht hätte. Ich bedaure nur, daß ich Ihnen nicht zeigen kann, was für eine Köchin sie ist. Aber der Vater mag während des Essens nicht sprechen. Wenn Sie ihn aber wieder einmal besuchen wollten – morgen nachmittag vielleicht – er hat sich sehr erfreut über Ihr gestriges Kommen geäußert, heute nur hat er keine Zeit, da er einen Bericht an das Forstamt zu machen hat.«
»Wenn ich Ihrem verehrten Vater nur etwas zu bieten hätte in meiner Unterhaltung,« versetzte Leonhard. »Unsere Berufe liegen aber so weit auseinander, und höchstens kann ich ihn damit belästigen, wenn ich ihn meine Unkenntnis der gemeinsten Weidmannsbegriffe erfahren lasse.«
Sie sann einen Augenblick. »Vielleicht spielen Sie Schach. Dann könnten Sie ihm zuweilen ein Stündchen seiner langen Muße vertreiben.«
»Wie gern!« rief er. »Das Schachbrett ist ein Feld, auf dem wir uns verständnisvoll begegnen können, und da er mir wahrscheinlich überlegen ist, mach’ ich ihm das Vergnügen, Siege zu gewinnen. Wenn es Ihnen recht ist, frag’ ich morgen nachmittag wieder an. Heute darf ich Ihre Essenszeit nicht stören. Also auf Wiedersehen!«
Er schüttelte ihr die Hand, nickte der Hanne freundlich zu und entfernte sich rasch.
»Was für ein lieber Herr!« brummte die Alte vor sich hin. »Wenn der immer hier draußen bliebe! So einen könnten wir brauchen.«
Das Mädchen sagte nichts. Die treue Alte kannte aber jeden Zug in ihrem Gesicht und dachte ihr Teil, doch war es nur halb das Rechte.
***
Dies zweite Begegnen hatte in Leonhards Innerem eine Stimmung bewirkt, die von der gestrigen Unruhe und Verworrenheit weit verschieden war. Wieder hatte die Anmut der Erscheinung und der schwermütige Hauch, der über des Mädchens Wesen lag, ihn völlig eingenommen, aber während ihm gestern gewesen war, als habe sich in ihr ein Schicksal ihm offenbart und ihm ständen große Entscheidungen bevor, trug er heute ihr reizendes Gesicht nur wie ein anziehendes Bild mit sich fort, dessen Besitz ihm für immer versagt sein würde.
So blieb es ihm den ganzen Tag gegenwärtig, auch am Nachmittag, wo es ihn jetzt nicht störte, als er wieder zu der Mühle am Fluß gewandert war und nun anfing, den alten Kasten und den laubigen Hintergrund zu zeichnen. Es glückte ihm sehr nach Wunsch, und er verbrachte den Rest des Tages in der heitersten Stimmung.
Als er aber am nächsten Nachmittag zu dem Besuch beim Forstmeister aufbrach, fühlte er doch eine leichte Beklommenheit, als wenn er sich fürchte, den Blick des ernsten Mädchens auszuhalten. Das verging jedoch bei dem ersten Wort, mit dem sie ihn im Hausgang begrüßte. Der Vater sei sehr wohl und freue sich, ihn zu sehen.
Wirklich fand er die mächtige Gestalt des Mannes aufrecht stehend vor einem Gewehrschrank, aus dem er eine schöne, nagelneue Jagdbüchse herausgenommen hatte, um sie, wie es schien, zu untersuchen. Er hatte den kranken Fuß in einem weiten Filzschuh und noch mit einer Binde umwickelt, sonst aber war er in einer eleganteren Joppe als das erstemal, das dicke Haar aus der Stirn gekämmt und ein seidenes Tuch um den Hals geknüpft.
Mit denselben finsteren Augen blickte er dem Eintretenden entgegen, aber der ausdrucksvolle Mund unter dem kurzgehaltenen Schnurrbart bemühte sich zu lächeln.
»Sie finden mich bei einer unheimlichen Beschäftigung, Herr Doktor,« brachte er in seinem rauhen Ton hervor. »Ich prüfe die Waffe, mit der ich einem alten Freunde das Lebenslicht ausblasen will. Nein,« fuhr er fort, da er Leonhards bestürzte Gebärde sah, als ob er einem Fieberkranken gegenüberstände, »erschrecken Sie nicht, es soll kein Mensch erschossen werden, nur ein Tier, das ich zwar beinah so lange kenne, als ich hier bin, und zur Strecke zu bringen mich nie entschließen konnte. Jetzt aber muß es doch sein, um ihm Schlimmeres zu ersparen. Es ist der Stolz meines ganzen Reviers, ein Prachthirsch von zweiundzwanzig Enden, und war so vertraut zu mir, daß er dicht an mich herankam, wenn wir uns begegneten, deshalb habe ich mich nie entschließen können, ihn zu schießen, trotz seiner prachtvollen Trophäe. Der Fürst aber hat mich wissen lassen, daß er nächstens Jagd halten und auch einen anderen hohen Herrn mitbringen werde. Dem kann er nur mit dem Besten, was ich aufzuweisen habe, aufwarten, und das ist dieser mein alter Freund. Da aber der gnädige Herr ein miserabler Schütze ist, wird er’s mit dem edlen Tier nicht gnädig machen und statt eines richtigen Blattschusses ihm irgendwo eine elende Kugel beibringen. Davor muß ich ihn denn doch bewahren.
Nun aber genug vom edlen Weidwerk, was für den gelehrten Herrn so interessant ist, wie’s Griechisch für mich. Es hat mich sehr gefreut, daß wir uns wenigstens auf dem Schachbrett in der gleichen Liebhaberei begegnen. Kommen Sie. Wir wollen gleich ans Werk gehn. Ich habe lange nicht gespielt. Denn die Lektionen, die ich meinem ganz talentlosen Mädel gegeben habe, können als ein wirkliches Spiel nicht gerechnet werden.«
Ein großes, vom Alter gebräuntes Schachbrett stand auf einem Tischchen am offenen Fenster, durch das man in den Wald hinaussah. Vögel schwirrten draußen in den Zweigen, man hörte die Stimme eines Knechtes, der bei irgendeiner Arbeit ein Liedchen sang, und Waldmann, nachdem er den Gast als alten Bekannten mit einem traulichen Knurren begrüßt hatte, war zu seinem Kissen im Winkel zurückgeschlichen und schnarchte bald wieder behaglich. Als die beiden Männer an ihrem Tischchen Platz genommen hatten, kam auch die Tochter herein, setzte sich mit einer Handarbeit hinter den Vater und gab sich Mühe, sein Spiel zu verstehen. Keines sprach ein Wort. Und nach einer Weile stand Huberta auf, ging leise hinaus und kam dann wieder mit einem Brett, auf dem eine Flasche Wein und zwei Gläser standen, eins davon mit Milch gefüllt, das sie dem Vater hinstellte.
»Da sehen Sie, wie ein armer Gichtkrüppel seinen Durst stillen muß,« sagte der Forstmeister mit einem dumpfen Lachen. »Doch trotz meines Neides gönne ich Ihnen einen besseren Trunk. Es ist ein bescheidener Pfälzer, aber aus einer guten Quelle, und ‘s ist schade um ihn, daß er so ungenossen ablagern muß. Kommen Sie –« und er schenkte ihm ein – »stoßen wir an– aber nein! Mit Milch stößt man nicht an. Ich trinke dennoch auf Ihr Wohl. Und nun sind Sie am Zuge.«
Dann spielten sie weiter, noch zwei Stunden lang. Sie waren einander ziemlich gleich an Geschicklichkeit, die erste Partie wurde remis, bei der zweiten war Leonhard absichtlich etwas unachtsam, um seinem Gegner die Freude des Gewinnens zu lassen. Als er dann ausbrach, schüttelte ihm der Alte herzlich die Hand. »Hab’s wohl gemerkt, daß Sie nicht so recht mehr gezielt haben, um meine Dame zu Fall zu bringen, das gilt aber nicht ein nächstes Mal. Geschont zu werden verbitt’ ich mir. Übrigens schönen Dank und lassen Sie mich Ihnen bald Revanche geben.«
***
Es war ihm so wohl gewesen in dieser Stunde bei diesen beiden Menschen, die er erst seit gestern kannte und zu denen ihn doch ein Gefühl herzlicher Freundschaft hinzog, daß er den alten Herrn am liebsten gleich den nächsten Tag beim Wort genommen hätte. Doch sagte er sich, es möchte wohl nicht schicklich sein, sich so bald wieder einzufinden, und er müsse wenigstens den nächsten Tag überschlagen. Als er aber am folgenden Morgen an seinem Fenster saß und eben angefangen hatte, das Kirchlein in seinem dichten Efeukleide und die beiden Ulmen davor zu malen, trat der Knecht des Försterhauses bei ihm ein und bestellte ihm mit einer Empfehlung des Herrn, er sei heute nachmittag nicht zu Hause, wenn der Herr Doktor aber gegen sieben zum Nachtessen sich einfinden wolle, werde es dem Herrn Forstmeister sehr angenehm sein.
So geschah es denn, daß er abends die Schüssel mit saurer Milch, die seine Hausfrau für ihn bereit hielt, im Stich ließ und in der ersten Dämmerung den Weg nach dem Haus am Waldrand wieder einschlug.
Er fand den Forstmeister in seinem Zimmer in Gesellschaft eines jungen Mannes, den er ihm als seinen Gehilfen Herrn August Born vorstellte. Mit dem sei er den ganzen Nachmittag im Wald herumgegangen, die Bäume auszusuchen und zu bezeichnen, die demnächst geschlagen werden sollten, und habe sich gefreut zu sehen, daß sein kranker Fuß, allerdings mit einiger Beschwerde, wieder Dienst tun konnte. Dafür wolle er sich gegen die Regel heut abend mit einem Glase Wein belohnen. »Sie wissen, Herr Doktor, wie es heißt:
Ich trinke mein Weinchen
Und leide mein Peinchen.
Nun, so arg wird es ja nicht gleich wieder werden.« Die eigentliche Belohnung gebühre aber Herrn Born, der sie heute abend traktiere. Er sei noch kein ganz ausgelernter Jäger, aber ein Meister im Fischen, und aus dem Forellenbach, der ganz in der Nähe sich in den Fluß ergieße, habe er heute morgen ein Gericht Fische geholt, das sogleich verspeist werden solle.
Damit öffnete er die Tür zu einem Nebenzimmer, in dessen Mitte ein zierlich gedeckter Tisch mit blanken Schüsseln und Tellern und silbernen Bestecken sich zeigte, auf den Schüsseln allerlei kalte Speisen, dazu einige Weinflaschen und von der Decke herabhängend eine brennende Lampe, da das Gemach nur zwei kleine Fenster hatte und von der Abendsonne nur mäßig erleuchtet wurde. Eben als die Herren sich gesetzt hatten, öffnete sich die gegenüberliegende Tür, und die Tochter des Hauses trug eine dampfende Schüssel herein, auf der mit Petersilie geschmückt die schlanken, rotbetupften Fischlein lagen. Sie begrüßte die jungen Männer mit leichtem Neigen des Kopfes, der aber auch jetzt, da sie anmutig ihrer hausfraulichen Pflicht waltete, seinen erregten Ausdruck nicht verlor. Erst als die andern, denen sie die Schüsseln herumreichte, sich bedient und sie die Gläser vollgeschenkt hatte, setzte sie sich auf ihren Platz neben dem Vater und nahm den kleinsten Fisch und ein Kartöffelchen auf ihren Teller.
Der Forstgehilfe, ein schüchterner Juvenil mit blondem Haar und einem fast unsichtbaren Bärtchen auf der Oberlippe, war, als sie eintrat, dunkelrot geworden, hielt dann aber, als er ihr gegenüber saß, die Augen unverwandt auf seinen Teller gesenkt und aß sehr langsam, was der Forstmeister ihm vorgelegt hatte. Auch Leonhard fühlte sich ein wenig beklommen, so daß der Vater die Kosten der Unterhaltung fast allein trug. Er erzählte von seinen Voreltern, die sämtlich sich der Jägerei beflissen hatten, vor allen von seiner Großmama, einer sehr stattlichen Frau, von der auch ihre Urenkelin, seine Tochter den ungewöhnlichen Namen Huberta bei der Taufe erhalten habe. Beim Taufschmause sei der Rücken eines Rehbocks aufgetragen worden, den sie tags zuvor zu diesem Zweck selbst geschossen habe. Ihr Sohn sei aus der Art geschlagen und habe Kaufmann werden wollen, das habe sie durchaus nicht gelitten und gedroht, ihn zu enterben, wenn er nicht auch den grünen Rock anziehe wie alle Roberts. Wenn nun er, Justus Roberts, trotzdem ein passionierter Jäger geworden sei, habe er das von der Großmama, deren besonderer Liebling er gewesen.
Er erzählte weiter, auch in der Familie des jungen Forstgehilfen sei das Jägerblut erblich, und fragte dann Leonhard nach seiner Herkunft. Er sei eines Kupferstechers Sohn, erwiderte der, und wäre beinah dem Vater in seiner Kunst gefolgt, dann aber habe er sich im Gymnasium zu den alten Griechen bekehrt und wohl daran getan; denn obwohl auch er ein wenig erblich belastet sei, hätte er’s doch zu voller Künstlerschaft nicht gebracht und sein bißchen Pfuscherei nur für etwas Besseres gehalten als Kegelschieben und Skat.
Zu alledem hatte das Mädchen kein Wörtchen beigesteuert, ihre stille Gegenwart aber war doch so erfreu lich, daß ihr Schweigen nicht als drückend empfunden wurde. Erst als der Alte sich ein viertes Glas einschenken wollte, nahm sie es ihm mit einem Scherz aus der Hand und erinnerte ihn an die strenge Verordnung des Doktors.
Sie hob dann eigenmächtig die Tafel auf und öffnete die Tür nach dem Wohnzimmer. Was Leonhard gezeichnet habe, fragte sie und bat ihn, doch die Skizze der Mühle mitzubringen. Dann wandte sie sich an den Gehilfen und bat ihn, dem Herrn Doktor doch einmal gewisse besonders schöne Stellen im Park zu zeigen, vielleicht fände er was für seine Kunst. Der Jüngling verneigte sich errötend und wurde dann von seinem Prinzipal entlassen. »Gehen Sie nur,« sagte der mit einem gutmütigen Lächeln, »ich weiß ja doch, es brennt Ihnen unter den Sohlen, daß Sie ins Wirtshaus kommen zu den schönen Fräuleins aus der Stadt, und wir hier setzen uns noch ein Stündchen zu unserm Schach. Der Herr Doktor wird es nicht schwer haben, mich matt zu machen, denn wenn ich ein paar Gläser Wein im Kopf habe, kann ich manchmal den König nicht gleich von einem Bauern unterscheiden.«
Sie spielten bis tief in die Nacht hinein. Als es zehn schlug, stand die Tochter auf, die mit ihrer Näherei schweigend bei ihnen gesessen, sagte dem Vater ein Wort ins Ohr, gab Leonhard eine Hand zur guten Nacht und verließ dann das Zimmer.
»Wissen Sie, was für ein Geheimnis sie mir noch zugeflüstert?« sagte der Alte, da die Tür hinter ihr sich geschlossen »Sie habe die zweite, noch halbvolle Weinflasche weggestellt und beschwöre mich, sie nicht zu suchen. O das kluge Kind! Sie weiß, daß sie mit einem zärtlichen guten Wort alles bei mir erreichen kann!«
***
Ein paar Tage später, während deren es nicht zu einer Schachpartie gekommen war, da Leonhard sich bescheiden zurückhielt, trat am Nachmittag der Forstgehilfe bei ihm ein und fragte, ob er Lust zu der Umschau im Forst habe, zu der Fräulein Huberta geraten hatte. Am Morgen war ein starkes Gewitter niedergegangen und hatte die Hundstagshitze wohltätig gekühlt.
Leonhard war sogleich bereit. An dem jungen Menschen mit dem blonden Mädchengesicht hatte er Gefallen gefunden, obwohl er noch kaum seine Stimme gehört hatte. Auf seine Frage, wie es dem Forstmeister gehe, hatte er erfahren, daß er viel zu schreiben gehabt, doch nicht über Schmerzen geklagt habe.
Dann gingen sie ziemlich schweigsam dem Walde zu und stiegen unter den vom Regen noch tropfenden Bäumen den bekannten Weg an der Schlucht hinauf, bis er sich nach Westen wandte und zu einem Bezirk führte, der fast nur von alten Eichen bestanden war. Leonhard gab sich alle Mühe, den einsilbigen Gefährten beredter zu machen, fragte nach den Eltern und Geschwistern und seiner Schulzeit, erhielt aber nur die notdürftigsten Antworten, auch als er sich nach dem Wildstand erkundigte und den Hofjagden. So waren sie über eine Stunde gegangen, und so schön der Park war, hatte der Umblick doch wenig gezeigt, was ein Malerauge anregen konnte. Erst ganz am Ende kamen sie auf einen freien Platz, von dunklem Nabelholz umstanden, wo aus einem moosigen Felsen ein Quell vorsprang und durch eine rostige Röhre sich in einen breiten Steintrog ergoß, um den viele Vögel saßen, die ihre Schnäbel netzten oder die Flügel eintauchend sich kühlten. Ein eiserner Becher hing an der Röhre, Leonhard tauchte ihn in das Wasser und erquickte sich an dem kalten Trunk.
»Kommen Sie, lieber Herr Born,« sagte er dann, »wir wollen ein wenig rasten. Setzen wir uns dort auf die Bank, es ist schön hier, ich werde wohl wiederkommen und eine Skizze von dem Brünnchen machen.«
»Noch schöner ist’s im Winter,« versetzte der andere, »wenn wir hier die Hirsche und Rehe füttern an großen Raufen und rings alles tief verschneit ist. Der Brunnen aber friert nicht ein.«
Er blieb vor der Bank stehen, als wage er nicht, sich zu dem Fremden zu setzen.
»Lieber Freund,« fing Leonhard wieder an, »Sie müssen mir eine Frage erlauben: warum sind Sie so trübsinnig? Sie sind jung, ein schmucker junger Mann, in einem Beruf, den Sie selbst gewählt haben, das Leben liegt weit und lachend vor Ihnen, was ist es, das Ihnen das Herz schwer macht? Ich habe Sie noch kein einziges Mal lachen sehen. Sind Sie etwa unglücklich verliebt? Der Forstmeister sprach scherzend von den Stadtfräuleins, denen Sie im Wirtshaus unten die Cour mache. Oder sind Sie mit Ihrer Stellung im Hause nicht zufrieden?«
Eine dunkle Röte übergoß das Gesicht des jungen Menschen. Er schüttelte lebhaft den Kopf.
»Ich kann mir keinen besseren Vorgesetzten wünschen als den Herrn Forstmeister,« sagte er, zu Boden blickend. »Und doch, ich möchte fort, je eher je lieber.«
»Fräulein Huberta –?« warf Leonhard hin – –
»Fragen Sie mich nicht, Herr Doktor,« stammelte der andere – »oder nein, da Sie’s doch einmal erraten haben – es ist ja auch natürlich – Sie werden es begreifen, täglich sie sehen müssen und sich sagen, daß es Wahnsinn wäre – ein solches Wesen und ich, der ich nichts bin, nie etwas sein werde, was mich berechtigte zu hoffen – es geht über meine Kraft!«
Er war auf die Bank gesunken und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte Leonhard in einer seltsamen Bewegung: »Ich kann Sie gut verstehen. Sie brauchen sich dieses Gefühls wahrlich nicht zu schämen. Haben Sie jemals etwas davon gegen das Fräulein durchblicken lassen?«
»Nie mit einem Wort! Wie können Sie denken? Aber wissen muß sie es doch, klug wie sie ist, und welche lächerliche Figur mach’ ich in ihren Augen! Und in meinen eignen, daß ich, wenn es mir zu schwer wird, mein Herz gegen niemand ausschütten zu können, meinen Schmerz in Versen klage, obwohl ich weiß, daß ich kein Dichter bin. Wär’ ich’s, so hätt’ ich wenigstens den Trost, durch mein Elend berühmt zu werden. So aber sag’ ich mir nur: ›Du bist ein Narr!‹ und darauf reimt sich nichts!«
Er vergrub das Gesicht in beide Hände, dann sprang er plötzlich auf und sagte: »Ich danke Ihnen, Herr Doktor, daß Sie mir einmal die Zunge gelöst haben. Aber nun lassen Sie mich für immer davon schweigen und uns den Rückweg antreten. Ich habe noch von meinem Chef die Order für morgen zu holen.«
Auch Leonhard erhob sich, und die beiden, die sich in dem gleichen Schicksal gefunden hatten, gingen einträchtig nebeneinander durch den Park zurück. Diesmal war Leonhard der Schweigsamere, während der andere, trotz seines Vorsatzes, nicht mehr auf das Thema zurückzukommen, unaufhörlich sich in leidenschaftlichen Reden erging und immer wieder eine der Gaben und Tugenden rühmte, durch die das Fräulein sein Herz erobert und für alle Zeit an sich gefesselt habe.
***
Als sie sich getrennt und Leonhard sein Haus wieder erreicht hatte, saß er lange in tiefes Brüten versunken auf seinem Stuhl am offenen Fenster, und das Töchterchen der Hausfrau, das hereinspähte, konnte nicht wie sonst einen einladenden Blick von ihm erhaschen. Jedes Wort des unglücklich Liebenden hatte die Glut in seinem Herzen, die er sich nicht hatte über den Kopf wachsen lassen wollen, hell angefacht; er schämte sich fast, daß ein anderer hatte aussprechen müssen, was er gefühlt und wie wert sie der überschwenglichsten Gefühle sei. Nur daß es in ihm nicht so hoffnungslos aussah wie in dem Herzen jenes anderen, da er durch ihre Schwermut hindurch manchmal einen Ton zu hören geglaubt, der eine freundliche Erwiderung seiner stillen Werbung um ihr Herz anzudeuten schien. Zugleich sagte er sich, daß er ihr doch noch zu wenig nahe gekommen sei, um auf eine ernstere Zukunftsaussicht rechnen zu dürfen. So blieb nichts übrig, als sich in Geduld zu fassen und seinem Genius zu vertrauen.
Gleich am nächsten Tage, als er gekommen war, um wegen einer Schachpartie anzufragen, kam er, da der Forstmeister noch eine Abhaltung hatte, in ein längeres Gespräch mit dem Mädchen, das sich zufällig an ein Zitat aus einem Goetheschen Gedicht anknüpfte. Er erfuhr, daß sie in der klassischen Poesie ziemlich zu Hause war, da sie die Bücher bei der Tante in der Stadt gefunden und fleißig darin gelesen hatte, ohne jede Anleitung. Um so wertvoller waren ihm ihre Bemerkungen, die sie ruhig vorbrachte, als die Eindrücke einer ungebildeten jungen Seele, die aber doch ein Recht hätte, ihre Empfindungen sich einzugestehen. Oft überraschte ihn die sinnige Betrachtung über gewisse Lebensanschauungen, meist auf der dunklen Seite der Resignation, während jugendliche Schwärmerei, zumal Liebesträumerei, ihr fremd zu sein schien.
Das beschäftigte ihn noch weiter, als er schon dem Vater gegenüber am Schachbrett saß, so daß er unachtsam spielte und eine Partie nach der anderen verlor. Huberta saß wie immer mit ihrer Arbeit schweigend dabei, der Hund lag neben ihr und rührte sich nur, wenn draußen am Hause sich ein Geräusch vernehmen ließ; dazu tickte die alte Schwarzwälder Uhr in ihrem dumpfen Gange. Leonhard war zumute, wie wenn er einen Traum träume, aus dem zu erwachen ihn das Leben kosten würde.
Auch sie schienen jetzt bereits zu empfinden, daß dieser Fremde notwendig zu ihnen gehöre. Wenigstens wurde er schon nach einer Woche wie ein Hausfreund behandelt, der jahrelang bei ihnen aus und ein gegangen wäre. Nicht zuletzt von der Hanne. Sie fand immer einen Vorwand, ihm im Hause zu begegnen und ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Ja auch der Forstgehilfe kreuzte geflissentlich im Hofe seinen Weg, sprach ihn selten an, grüßte ihn aber mit einer Miene wie den Hüter eines Geheimnisses, das zu bewahren er ihm immer wieder auf die Seele binden müsse.
***
Etwa drei Wochen waren so vergangen, die Hälfte von Leonhards Ferien. Da kam er eines Abends später als sonst nach Hause. Er war im Försterhause zum Nachtessen geblieben, da der Alte eine interessante Partie, die sich in die Länge zog, nachher noch zu Ende spielen wollte.
Auf seinem Tische lag ein Brief von einer fremden Hand. Ein Arzt in Weimar schrieb ihm, sein Onkel, der seit einer Reihe von Jahren dort lebte, sei schwer erkrankt, und da es vielleicht zu Ende mit ihm gehe, wünsche er den Neffen, seinen einzigen Verwandten, noch einmal zu sehen.
Dieser Onkel, ein Bruder seines Vaters, hatte, solange er als Knabe noch im Elternhause lebte, unter einem Dache mit ihnen gewohnt und seinem Neffen viel Liebe und Güte bewiesen. Er war seines Zeichens ein Musiker, spielte verschiedene Instrumente, doch keines in solcher Vollkommenheit, daß er als Virtuos sich hätte hören lassen können. So komponierte er auch zu seinem eigenen Vergnügen und dem einiger Freunde, die, besonders wenn sie dichteten, Wert darauf legten, von ihm komponiert zu werden. Musikstunden, die er gab, trugen ihm gerade so viel ein, daß er im Hause des Bruders Wohnung und Essen selbst bestreiten konnte. Dann heiratete er eine noch junge Witwe, in deren Singen er sich verliebt hatte und die ihm ein ziemlich ansehnliches Vermögen zubrachte.
Als sie nach einem Jahr im Wochenbett starb, konnte er es in den alten Verhältnissen nicht aushalten, sondern siedelte nach Weimar über, wo er sehr zurückgezogen lebte, nur mit der Komposition einer Oper beschäftigt, zu der er den Text selbst gedichtet hatte. Als sie endlich fertig geworden war, konnte er sich der Vollendung seines Lieblingswerkes nicht erfreuen. Sie wurde von der Weimarer und einigen anderen Bühnen abgelehnt, hauptsächlich des Textes wegen.
Das hatte er sich dermaßen zu Gemüte gezogen, daß die Aufregung ein altes chronisches Leiden heftig verschlimmerte und sein Leben in Gefahr brachte.
Leonhard hatte diesen Onkel sehr geliebt und ihn auch einmal in seiner Weimarer Einsiedelei besucht. Zu seinem Kummer, ihn jetzt verlieren zu sollen, kam noch der Schrecken, daß nun an keine Fortsetzung seiner Idylle im Forsthause zu denken sei. Denn schwerlich, auch wenn es mit dem Onkel rasch zu Ende gehe, werde er als natürlicher Testamentsvollstrecker und alleiniger Erbe so bald von Weimar loskommen.
Er mußte sich aber in das Unvermeidliche ergeben, brachte seiner Hausfrau die Nachricht und bat sie, auf morgen früh einen Wagen in die Stadt zu besorgen, von wo er erst mit der Bahn weiterfahren konnte. Sein Köfferchen war bald gepackt, sein Malzeug desgleichen. Nur das Blatt mit dem Dorfkirchlein und den Bäumen davor tat er nicht in die Mappe. An Schlaf aber war nicht zu denken.
Doch konnte er am andern Morgen nicht vor einer gewissen Zeit seinen Abschiedsbesuch im Forsthause machen, da er wußte, daß der Forstmeister, wenn nachts die Gicht sich spüren ließ, meist nicht vor neun Uhr aus dem Bette kam.
Als es dann soweit war und sein Wägelchen auch schon bei ihm vorfuhr, ging er in trübseliger Stimmung den schweren Gang und fand seine Freunde beim Frühstück Der Vater nahm die Nachricht mit sichtbarem Bedauern auf, knüpfte aber die Hoffnung daran, den werten Gast trotz alledem bald wiederzusehen. Das Mädchen war tief erblaßt, hatte aber kein Wort vorgebracht. Auch als er sich verabschiedet hatte und das Zimmer verlassend sagte, er müsse noch der Hanne lebewohl sagen, flüsterte sie: »Ich komme noch hinaus!«
Die treue alte Seele, die er in der Küche traf, konnte vor Rührung nicht sprechen, so daß er sich eilig von ihr losmachte, nachdem er vergebens versucht hatte, ihr ein Goldstück in die Hand zu drücken. Im Flur draußen stand Huberta. Er hatte das Blatt mit der Kirche in einer Rolle mitgebracht und sagte, es ihr vorhaltend: »Wollen Sie es behalten, teures Fräulein, um zuweilen, wenn Sie einen Blick darauf werfen, an mich zu denken?«
Sie antwortete nicht sogleich, sondern betrachtete das Bild, das sie in beiden Händen hielt. »Es ist schön,« sagte sie dann. »Ich danke Ihnen. Aber um zuweilen an Sie zu denken, brauchte ich kein äußeres Zeichen. Ich werde nie vergessen, was Sie an meinem Vater getan haben, für den Sie ein wahrer Freund geworden sind.«
Er sah in großer Bewegung auf ihr Gesicht herab, wie sie vor ihm stand, die Augen auf das Kirchlein geheftet.
»Nur Ihres Vaters wegen?« sagte er. »Nicht auch ein wenig um meinetwillen?«
»Wie können Sie so fragen!« erwiderte sie leise. »Sie haben doch fühlen müssen, daß Sie uns wert geworden sind. Ich hab’ es ja wohl empfunden, daß auch ich Ihnen nicht gleichgültig geblieben bin, aber eben darum –«
Sie stockte und suchte ihre Verwirrung zu verbergen, indem sie das Blatt sorgfältig zusammenrollte.
»Nicht gleichgültig!« rief er. »O, mein teures Fräulein, es kann Ihnen nicht entgangen sein, welch ein Wort mir mehr als einmal auf den Lippen schwebte, wenn ich Ihnen gegenüberstand, und wie alles, was ich vom ersten Augenblick an in Ihnen erkannt hatte, sich stürmisch zum Herzen drängte. Ich war nicht so kühn, mir einzubilden, etwas wie das, was Sie mir geworden waren in diesen kurzen Wochen, könne auch in Ihnen sich regen. Aber daß es ganz und für immer hoffnungslos sein müsse, das zu glauben konnte ich nicht über mich gewinnen, und wenn ich nun nicht so plötzlich von Ihnen losgerissen würde –«
Sie sah voll zu ihm auf. »Teurer Freund,« sagte sie mit bewegter Stimme, »es wäre unrecht, in dieser letzten Stunde uns nicht Wahrheit zu gönnen. Ich will es Ihnen nicht verhehlen, daß auch Sie mir sehr wert geworden sind, mehr als irgend ein jüngerer Mann, der mir je begegnet ist. Und dennoch – ich darf Ihnen keine Hoffnung machen, die ich nicht zu erfüllen imstande wäre. Auch wenn, was ja kommen muß, mein geliebter Vater, den ich nie verlassen würde, vor mir stürbe, könnte ich keinem Manne angehören, da ich keinen glücklich machen würde. Ich lebe nur halb in dieser Welt, mit allen Gedanken und Wünschen schon hier in einer besseren Welt, und niemand, auch Sie nicht, würden mein inneres Leben verstehen und teilen. Jedem aber, den ich liebte, würde ich eine heiterere Frau wünschen, als er an mir hätte. Daß ich Ihnen dies alles sage, nehmen Sie als einen Beweis herzlicher Freundschaft, suchen Sie aber nicht, mich darin irrezumachen. Es würde Ihnen nicht gelingen und uns diese letzte Stunde nur schwerer machen.«
Sie reichte ihm die Hand und sah ihm ernst ins Gesicht. Er sah, wie ihre Augen feucht wurden und ihr Mund zuckte. Dann wandte sie sich rasch ab, und ohne noch ein Wort vorzubringen, entfernte sie sich über den Flur und trat in das nächste Zimmer.
***
In der schmerzlichsten Bewegung hatte er das Haus verlassen.
Ihr offenes Geständnis, daß auch sie eine Neigung zu ihm fühle, hatte ihn freilich tief beglückt, doch nicht völlig überrascht, da er längst im stillen zu bemerken geglaubt hatte, sie sei ihm herzlich zugetan. Daß sie ihm aber jede Hoffnung auf eine Erfüllung seiner Wünsche abschnitt, berührte ihn um so schmerzlicher, weil er fühlte, wie unerbittlich ernst sie es damit meinte und daß an eine Änderung ihres Entschlusses nicht zu denken war.
So fuhr er in einer trostlosen Dumpfheit auf der heiteren Straße nach der Stadt dahin und kam sich wie ein Abgeschiedener vor, dem nichts von all dem Schönen des lachenden Morgens mehr gehörte. Auch in seiner Wohnung, wo es ihm sonst zwischen seinen Büchern und Bildern behaglich gewesen war, überkam ihn eine öde, beklommene Stimmung, als ob er nicht begriff, wie ein lebendiger Mensch zwischen diesen engen vier Wänden atmen könne. Er hielt sich nur so lange darin auf, bis er sich seines überflüssigen Gepäcks entledigt und einen schwarzen Anzug in den Koffer getan hatte, und eilte dann, nach dem Bahnhof zu fahren.
Auch auf der Weiterreise fiel der Druck nicht von ihm. Er hatte auf seinem Tisch ein inzwischen angekommenes Buch gefunden und unbesehen eingesteckt. In dem las er, in die Ecke seines Coupés gedrückt, ohne recht zu wissen, was er las. Erst am Ziel der Reise, als er bei dem Onkel eintrat, der sich auf seinem Bette mit freudestrahlendem Gesicht aufrichtete und dem geliebten Neffen »moriturus te salutat!« entgegenrief, wurde er wieder für einen Eindruck der Wirklichkeit empfänglich.
Die Freude, die sein Kommen dem Kranken machte, rührte ihn tief. Sie plauderten miteinander bis weit über Mitternacht, zum Schrecken der Pflegeschwester, die immer vergebens ihr Schlafmittel dem Patienten aufbringen wollte.
Als Leonhard endlich, nachdem sie hundert Erinnerungen aus alten Tagen getauscht hatten, sich zurückzog, konnte er nicht glauben, daß dieser noch so regsame Geist so bald in Nacht versinken würde.
Auch schien am anderen Morgen, als der Arzt kam, eine Besserung eingetreten, die den erfahrenen Beobachter freilich nicht täuschte. Der Kranke verlangte aufzustehen, tastete sich wankend ins Nebenzimmer, wo der Flügel stand, und begann, dem Neffen die Ouverture seiner Oper vorzuspielen, brachte es aber nicht über zehn Minuten und sank dann halb ohnmächtig auf den Stuhl zurück, so daß er wieder ins Bett gebracht werden mußte.
Gleichwohl glomm das Lebensflämmchen noch vierzehn Tage leise fort, loderte sogar zuweilen plötzlich auf und verlosch endlich für immer in einer Nacht, nachdem der Neffe eben die traulichsten Worte von den erblaßten Lippen vernommen hatte.
Der tiefe, warme Schmerz, den er über den Verlust des trefflichen Mannes empfand, hatte alle andere Schwermut in seiner Seele gebändigt. Er konnte, als er die Trauerkunde nach dem Forsthaus meldete, die Namen der beiden ihm so teuren Menschen ohne Bewegung niederschreiben, und während er die traurigen letzten Pflichten vollzog und den Nachlaß ordnete, traten die Ereignisse seiner Ferienwochen so weit in den Hintergrund, daß er sich selbst nicht begriff, wie er auf einmal so leichtherzig über das Schwerste hinweggekommen war. Sogar der Kondolenzbrief des Forstmeisters– nur wenige, aber herzlichwarme Worte, denen die Tochter eine kurze Nachschrift hinzugefügt hatte – regten sein altes Gefühl nicht wieder auf; er legte das Blatt mit einem stillen Seufzer beiseite.
***
Seine Geschäfte als Testamentsvollstrecker hielten ihn nicht lange auf. Dennoch ging der Rest seiner Ferien darüber hin, und er mußte zu seiner Schule zurück.
Seine Primaner waren betroffen, den verehrten Lehrer, dessen frischer Geist sie sonst belebt und angeregt hatte, nun so verwandelt wiederzusehen, als wenn sich eine Wolke herabgesenkt hätte, die ihm Stirn und Augen verschattete.
Auch seinen Kollegen und Bekannten fiel die Veränderung auf, sie schoben es aber auf die Trauer um den Oheim und erfuhren überdies, daß er fleißig an einem Buch arbeite, der Schulausgabe einer Tragödie des Äschylus, die er schon früher begonnen hatte. Er fand es unverantwortlich, seinen jungen Schülern die Lektüre dieser hohen Dichtungen der Alten nicht so weit zu erleichtern, daß sie einen wahren Genuß davon hätten, sondern ihnen durch mühsames Auf schlagen des Wörterbuchs und grammatische Peinlichkeiten ihn zu verkümmern. So sollten sie die Poesie in die Hand bekommen mit allem notwendigen sprachlichen Rüstzeug glossiert, um frisch ans Lesen und Übersetzen zu gehen.
Diese willkommene Tätigkeit half ihm dazu, eine gleichmütige Stimmung zu gewinnen, die freilich von jeder Freudigkeit weit entfernt war. Um sich nicht wieder zu melancholischen Rückblicken verleiten zu lassen, hatte er es auch vermieden, den Gruß des Forstmeisters an seine Schwester, den er ihm beim Abschied aufgetragen, zu bestellen. Er wußte, daß die gute Dame, die ledig geblieben war und, wie schon gesagt, in dem Städtchen eine höhere Töchterschule leitete, wegen ihres trefflichen Charakters sehr beliebt war. Da sie den Namen ihres Bruders hatte, hörte er sie zuweilen nennen. Auch begegnete er ihr hin und wieder auf der Straße, und obwohl sie eine kleine, zierliche Figur hatte, waren ihre Züge doch denen des Bruders so ähnlich, daß Leonhard sie sofort erkannte. Um so beflissener wich er ihr aus.
So verging das alte Jahr, das neue brach an, ohne in Leonhards Leben irgend etwas Neues zu bringen. Die Familien, die ihn so gern in ihren Kreis gezogen hätten, jetzt um so mehr, da man erfahren hatte, daß er der einzige Erbe des wohlhabenden Oheims gewesen, dem er so pietätvoll nachtrauerte, hatten es längst aufgegeben, sich um ihn zu bemühen. Sein Buch war fertig geworden und er beschäftigte sich mit den Korrekturen und der Umschau nach einer neuen Arbeit. Da brachte ihm eines Morgens im Januar die Frau, bei der er wohnte, eine Nummer des Lokalblattes, das er selbst nie las, und deutete auf die Todesanzeige eines Mannes, dessen Namen sie von ihrem Hausgenossen gehört hatte, da er im Sommer seiner Erwähnung getan: Forstmeister Roberts.
Leonhard erschrak heftig. Zugleich mit dem Schmerz über das jähe Hinscheiden des wackeren Freundes hatte er ein bitteres Gefühl, daß das Mädchen es einem Zeitungsblatt überlassen hatte, ihm die Nachricht mitzuteilen, die eine so tiefgreifende Umgestaltung ihres Lebens bedeutete. Sofort setzte er sich hin und schrieb an Huberta einen Brief voll wärmster Teilnahme, in dem er sich aber hütete, seine Betrübnis auszusprechen, daß sie in solchem Maße die Trennung von ihm durchführen wollte, um ihm nicht auch ein geschriebenes Wort zu gönnen bei einem so schmerzlichen Anlaß.
Ein paar Tage vergingen in sehnlicher Erwartung einer Antwort. Als sie ausblieb, ging er mit sich zu Rate, ob er hinausfahren sollte, von ihr selbst zu hören, wie sie über ihre Zukunft dachte. Auch das verwarf er; er sagte sich, daß ein erstes Wort nach ihrem damaligen Abschiede von ihr kommen müsse, zugleich, wie unwahrscheinlich es sei, daß sie sich dazu entschließen würde. Dann dachte er einen Augenblick daran, die Tante zu besuchen, ihr sein Beileid auszusprechen und dabei sich nach der Nichte zu erkundigen. Doch wie sollte er es erklären, daß er Monate hatte vergehen lassen, ohne den Gruß ihres Bruders auszurichten?
So mußte auch das unterbleiben.
Doch die Ungewißheit in betreff ihres Ergehens wurde von Woche zu Woche unerträglicher.
Am Gründonnerstag, dem ersten Tag der Osterferien, tat er einiges Unentbehrliche in eine Reisetasche, ließ ein Wägelchen holen und fuhr nach dem Dorf hinaus.
Als er vor dem Hause der Frau Wittekind vorfuhr, trat die Hausfrau aus der Tür und begrüßte ihn mit freudiger Überraschung
»Das ist schön, Herr Doktor, daß Sie sich einmal wieder bei uns sehen lassen! Hoffentlich bleiben Sie ein paar Wochen. Ihr Zimmer steht noch, wie Sie’s verlassen haben«
Er schüttelte ihr herzlich die Hand. Es sei ganz ungewiß, ob er bleibe. Es hänge nicht von seinem Willen ab, sondern wie er’s im Forsthause finde.
»Da steht’s traurig, Herr Doktor. Daß der Herr Forstmeister gestorben ist, haben Sie ja wohl aus der Zeitung erfahren, oder man hat’s Ihnen geschrieben. Aber Fräulein Bertel – die hat sich den Tod ihres Vaters so zu Herzen genommen, daß sie gleich nach dem Begräbnis schwer krank geworden ist. Was es eigentlich war, hat auch der Doktor nicht sagen können, jedenfalls ist ihr der Kummer ans Herz getreten, und da hat sie eine Woche so gelegen, ohne zu reden, und nur wenig gegessen, höchstens etwas Milch getrunken. Bis dann endlich die Fräulein Tante aus der Stadt gekommen ist, die hat sie mit sich genommen; denn der Doktor hat gesagt, er müsse sie beständig unter seinen Augen haben. Das war vor vier, fünf Wochen, und seitdem soll sich’s gebessert haben, aber ob sie’s je ganz verwinden kann, sei die Frage, hat der Doktor gemeint. Das arme Ding! So jung, und lebt schon nicht mehr auf der Welt.«
»Wer ist im Hause geblieben? Die Hanne ist wohl mit in die Stadt?«
»Sie hat es gewollt, aber das Fräulein hat es nicht zugegeben, und die Tante hat ja auch selbst ihre Dienerschaft. Sie werden sie also vorfinden, denn der Nachfolger des Herrn Forstmeisters ist gleich, nachdem die Tochter fort ist, eingezogen, ein lediger Herr, der die Hanne natürlich sehr brauchen kann. Sie dauert einen auch. Sie ist sehr zusammengegangen.«
***
Leonhard ließ den Wagen warten und machte sich sogleich auf den Weg nach dem Forsthaus. Er fand im Hof den Forstgehilfen, der sich sehr freute, ihn wiederzusehen, und auch Waldmann begrüßte seinen guten Freund mit freudigem Bellen und Wedeln. Er werde nicht lange im Hause bleiben, sondern eine andere Stelle suchen, sagte der junge Mann, und sein Gesicht nahm wieder den gewohnten kummervollen Ausdruck an. Sein neuer Vorgesetzter behandle ihn gut, aber es sei doch nicht der alte Herr, und dann – er werde die Erinnerung nicht los, wenn er auch nicht mehr Gedichte mache.
Leonhard entschuldigte sich, daß er damals ohne Abschied von ihm gegangen, drückte ihm die Hand und wandte sich dann der Küche zu, auf deren Schwelle soeben die alte Hanne erschien.
Mit einem Schreckensschrei, wie wenn sie am hellen Tage ein Gespenst sähe, fuhr sie zurück und mußte sich am Türpfosten halten. Auch als er zu ihr hingestürzt war, bebte sie noch am ganzen Leibe und streckte die Hände wie abwehrend gegen ihn aus.
»Was ist Ihnen, liebe Hanne?« rief er. »Warum entsetzen Sie sich vor einem alten Freunde? Ich habe doch einmal sehen müssen, wie es hier steht, und von Frau Wittekind schon gehört, daß Sie hier allein geblieben sind. Wenn Sie wüßten, wie das alles mir nahe gegangen ist!«
Sie hatte sich indessen beruhigt, wischte sich mit der Schürze die Augen, aus denen noch immer Tränen rannen, und ergriff seine Hand, um ihn hineinzuziehen. »Nicht hier!« brachte sie heiser hervor. »Kommen Sie in meine Stube, Herr Doktor! Ich muß Ihnen erklären –«
Er folgte ihr durch die wohlbekannte Küche in ein kleines Zimmer nebenan, dessen Tür sie sorgfältig hinter sich verschloß, immer mit einer sonderbaren Gebärde von Ängstlichkeit. Drinnen standen ihr Bett und ein paar alte Möbel, auch ein schmales Sofa, worauf er sich setzen mußte. Sie selbst ließ sich wie tödlich erschöpft auf das Bett sinken.
»O lieber Herr,« fing sie hastig an, »Sie wundern sich, daß ich so erschrocken bin, als ich Sie gesehen habe. Aber alle meine Sünden sind mir plötzlich wieder aufs Herz gefallen, denn daß es so traurig geworden ist, daß mein Kind, die Bertel, nichts mehr von mir wissen will – das ist ja allein meine Schuld. Kein Mensch weiß es, doch vor Ihnen will ich’s nicht verbergen, denn Sie sind vielleicht imstande zu helfen, weil ich wohl gesehen habe, daß das Kind großen Respekt vor Ihnen hat. Aber nun denken Sie, wie das kam. Wie wir den guten Herrn begraben hatten – das Kind hatte keine Träne geweint, seit er gestorben war, und wie sie die drei Schaufeln Erde ihm auf den Sarg warf, stürzte ihr plötzlich ein dicker Strom aus den Augen, und sie wäre umgefallen, wenn ich sie nicht aufgefangen hätte – nun, wir gingen also vom Friedhof weg durch das dichte Menschengewimmel, und keiner wagte sie anzureden, so jammerte sie das Kind in seinem tiefen Gram – sie sprach aber auch mit mir kein Wort, und wie wir zu Hause waren in der Stube des Herrn, setzte sie sich in seinen Stuhl und schloß die Augen, und ich stand ihr gegenüber am Fenster, und bloß, damit mir das Schweigen nicht das Herz abdrückte, sagte ich endlich: ›Was werden wir nun anfangen?‹ Kaum hatt’ ich’s gesagt, kam’s mir selbst wie etwas Dummes vor. ›Anfangen?‹ sagte sie. ›Kann man denn noch etwas anfangen, wenn alles Leben zu Ende ist?‹
›So mußt du nicht reden,‹ sagte ich und streichelte ihren Arm. ›Du bist so jung, du wirst noch viel erleben und auch anderes Schweres überleben, wie wir Menschen alle‹ – und was ich sonst noch an einfältigen Reden an sie hinsprach. Aber sie schüttelte den Kopf.
›Schade,‹ sagte sie, ›daß ich nicht katholisch bin, da könnte ich in ein Kloster gehen. Jetzt kann ich nur im Geist bei meinen Lieben fortleben und sie beneiden, daß sie beieinander sind, bis ich selbst sie wiedersehe. Wenn ich denke, wie glücklich der Vater ist, daß er die Frau wiederfinden durfte, deren Tod ihm das Herz gebrochen hat –‹
Und da, wie ich wieder hören mußte, daß sie immer noch an der Mutter hing und nichts heftiger wünschte, als auch wieder bei ihr zu sein, da entfuhr es mir in meiner Unbedachtsamkeit: nicht ihr Tod, sondern das andere!
›Welches andere?‹ fragte sie. ›Daß sie freiwillig in den Tod ging? Mußte er ihr das nicht längst verziehen haben, da ihr Geist gestört war und sie keine Verantwortung hatte für diese Sünde?‹
›Oh,‹ fuhr ich in meiner Verblendung fort, ›eine ganz andere Sünde meine ich, erst die hat ihm das Herz gebrochen. Aber wir wollen nicht mehr davon reden. Komm! Du mußt was essen. Du bist ja so schwach zum Umblasen.‹
Da sah sie mich mit einem furchtbaren Blick an und sagte: ›Von welcher anderen Sünde sprichst du? Was hätte meine Mutter jemals gegen den Vater begangen, das er ihr nicht hätte verzeihen können? Sprich, Hanne!‹ sagte sie sehr ernst und laut. ›Ich will es wissen.‹
Und wie ich mich auch winden und wehren mochte, ich mußte endlich den Namen des Buben, des Forstgehilfen, nennen. Das ganze Dorf hatte es ja herumgetragen, nur sie war in der Stadt gewesen, als er aus dem Hause gemußt, und ich glaubte, hernach sei ihr nur ein dunkles Gerede zu Ohren gekommen, das sie nicht geglaubt hätte. Auch jetzt glaubte sie mir’s nicht. ›Wie kannst du eine solche Verleumdung nachschwätzen, Hanne!‹ – Da ging mir’s an die Ehre, und es mußte heraus, daß der Herr die beiden überrascht hatte, wie der Schurke die arme verführte Frau in den Armen hielt und sie sich von ihm küssen ließ.
Sowie mir das über die Zunge gekommen war, fuhr mir ein furchtbarer Schreck übers Herz, ich sah plötzlich, was ich angerichtet hatte, denn sie saß vor mir wie von einem Blitzstrahl getroffen, die Augen weit offen, doch wie bei einer Toten, auch den Mund aufgerissen und unbeweglich wie ein Bild aus Stein. Mich überkam ein Weinkrampf, ich weiß nicht, was für unsinnige Worte ich an sie hinredete, sagte, es sei vielleicht ein Traum gewesen, daß ich hinter dem Herrn stand und das alles zu sehen glaubte, aber sie regte sich nicht, und als ich endlich ihre Hand ergriff, war sie kalt wie Eis, und ich begriff, daß sie ganz ohne Besinnung dasaß und eine Ohnmacht ihr armes Herz für Augenblicke von seinem Jammer erlöst hatte.
Die Tage, die nun folgten, – wie ich die überlebt habe, verstehe ich selber nicht. Als endlich der Doktor kam, dem ich telegraphiert hatte, und hernach die Tante, wurde sie in die Stadt gebracht, und beim Abschied versuchte sie, mir einen freundlichen Blick zuzuwerfen, und hauchte nur leise: ›Nimm dir’s nicht so zu Herzen, Alte. Du hast nichts Böses dabei gedacht, es hat so kommen sollen. Ich werde mich zurechtfinden.‹
Seitdem habe ich keine Nacht mehr als zwei Stunden geschlafen, und sie, mein armes Kind – ob sie es je dahin bringen wird, sich zurechtzufinden?«
***
Sie schwieg und sah mit einem tief verstörten Ausdruck vor sich hin. Leonhard fühlte das tiefste Mitleid mit dem guten Geschöpf.
»Haben Sie seitdem nichts wieder von ihr gehört?« fragte er.
»Nur durch die Tante. Die kam einmal heraus, um mit dem neuen Herrn alles zu besprechen. Das Kind wollte ein paar Stücke an sich nehmen, die dem Vater gehört hatten. Aller übrige Hausrat sollte mir gehören, dazu wurde mir auch so viel im Testament zugeschrieben, daß ich im Alter keine Not zu leiden brauchte, wenn ich hier fortginge. Ich bleibe aber, der neue Herr schickt mich nicht fort, und nach den zwanzig Jahren, die ich hier gelebt habe, könnte ich mich nirgend mehr eingewöhnen, da ich obenein mein schweres Herz überall mit hinbrächte und die ewige Reue über das, was ich getan. Das Kind aber ließ mich grüßen. Die Krankheit sei vorbei, sagte die Tante, bloß der Gram und daß sie für immer das Lachen verlernt habe, selbst unter den Schülerinnen. Oh, Herr Doktor, könnten Sie nicht vielleicht ihr zureden? Wenn irgendein Mensch etwas über sie vermag – ich habe mir sogar einmal eingebildet – aber wie Sie so plötzlich abgerufen wurden –«
Leonhard stand auf. »Ich verspreche Ihnen, daß ich tun will, was ich kann. Sie aber dürfen sich’s auch nicht so schwer zu Herzen nehmen, was Sie in einem unbewachten Augenblick sich haben entschlüpfen lassen. Man denkt nicht immer an alle Folgen eines unbedachten Worts – –«
Er sprach noch einiges, sie zu beruhigen, was ihm aber nicht gelang. Dann beugte er sich zu der Weinenden herab, küßte sie auf die nasse runzlige Wange und verließ das Zimmer.
Ehe er zu seinem Wagen zurückkehrte, stieg er noch einmal zu der Schlucht hinauf, über deren Rand ihm zuerst das geliebte Gesicht unter dem schwarzen Strohhütchen aufgetaucht war. In seinem Herzen regte sich ein fröhlicher Mut und eine Zuversicht auf die Erfüllung seiner liebsten Hoffnung, so daß er in ganz anderer Stimmung in die Stadt zurückfuhr als an jenem Sommermorgen.
Zu Hause angelangt, wich aber dieses Vertrauen wieder von ihm. Stunde um Stunde zögerte er, den schweren Gang anzutreten, und erst gegen Mittag des nächsten Tages machte er sich nach dem Hause der Tante auf, wo sein Geschick sich entscheiden sollte.
Das Fräulein sei in der Kirche, sagte das Dienstmädchen, das ihn empfing. Es war Karfreitag. Sie werde aber gleich zurückkehren. Wen sie melden solle?
Ein Freund ihres Vaters wünsche das Fräulein zu begrüßen. Er werde warten.
Er wurde in ein kleines freundliches Zimmer geführt, wo sein Blick sogleich auf ein paar wohlbekannte Möbel fiel: den Lehnstuhl des Forstmeisters, das Tischchen, auf dem das alte braune Schachbrett stand, an dem er so oft gesessen, zwei Riedingersche Kupferstiche, Hirsche im Walde vorstellend, die im Forsthause neben dem Gewehrschrank gehangen hatten. Auch sein Aquarell von dem Dorfkirchlein hing schwarz eingerahmt an der Wand. Er hatte aber nicht lange Zeit, seinen Erinnerungen nachzuhängen, da öffnete sich hinter ihm die Tür, und die Erwartete trat ein.
***
Ein leiser Ausruf der Überraschung kam von ihren Lippen. Als er sich umwandte, konnte er kaum seine Bewegung verhehlen, daß er sie so verändert sah, immer noch die liebliche Gestalt und die großen seelenvollen Augen, aber ein Hauch von Leiden über dem zarten Gesicht, wie eben von einer Todkrankheit wieder auferstanden, die Lippen farblos, und nur die Röte, die bei dem unerwarteten Wiedersehen plötzlich in die Wangen schoß, zeigte, daß noch junges Leben in diesem reizenden Marmorbilde war.
»Sie sind es!« hauchte sie. »Ich bitte – wollen Sie nicht –«
Sie deutete auf das kleine Sofa. Er fuhr fort, sie anzublicken.
»Mein teures Fräulein,« sagte er endlich, »ich habe mir erlaubt – es war so unnatürlich, da wir in derselben Stadt wohnen – warum haben Sie sich so vor mir versteckt, da wir doch als gute Freunde uns getrennt hatten? Ich habe erst nach dem Dorf hinausfahren und mich erkundigen müssen, wo Sie geblieben. Die gute Hanne hat mir erzählt –«
»Sie haben Hanne gesehen?« erwiderte sie sichtbar erschrocken. »Was hat sie Ihnen von mir gesagt?«
»Ich fand sie tiefbetrübt, sie behauptete, Sie zürnten ihr unversöhnlich, sie habe Ihnen so wehgetan durch etwas, das sie Ihnen gesagt, daß Sie ihr nie verzeihen könnten. Ich habe sie zu trösten gesucht. Was es auch gewesen sein möchte, keinenfalls hätte sie es böse gemeint haben können, und wie ich Sie kennte, würden Sie nicht übers Herz bringen, ihr ewig zu zürnen.«
Er sah, wie sie sich bemühte, ihre Fassung zu behaupten.
»Sie haben recht, ich bin ihr sogar dankbar, jetzt, da Wochen darüber vergangen sind. Was sie mir angetan, mußte mich freilich tief verwunden, aber es war Wahrheit, die heilt auch zugleich wie das Messer eines Arztes. Ich hatte in einem schweren Irrtum gelebt, im Glauben an die Erfüllung eines Wunsches, der mein Verderben gewesen wäre. Da hat sie mir die Augen geöffnet. Was ich nun vor mir sehe, ist freilich dunkel und ein unlös bares Rätsel. Ich habe daran denken müssen, was Sie mir sagten, daß Sie darauf verzichtet hätten, was unerforschlich bleibe für unseren Menschenverstand, mit einem blinden Glauben abtun zu können. Es ist freilich ein Schmerz, über das Hier nicht hinausschauen zu können in das Dort, das in einer besseren Welt uns empfangen soll. Aber das Wiedersehen, von dem ich mir eine solche Seligkeit versprach – oh, nun graut mir davor, und selbst der Gedanke, meinem teuren Vater noch einmal zu begegnen – nein, selbst um diesen Preis würde ich es nicht ertragen, auch anderen wieder in die Augen sehen zu müssen!«
Sie wandte sich ab, und er fühlte, daß die Bewegung sie übermannte und sie ihm ihre Tränen verbergen wollte. Ein paar Augenblicke überließ er sie sich selbst.
»Mein teures Fräulein,« fing er dann wieder an, »Sie glauben nicht, wie tröstlich mir das alles ist, was Sie mir da sagen. Ich war darauf gefaßt, Sie noch in derselben Stimmung zu finden, wie da ich im Sommer mich von Ihnen trennte, ja noch mehr weltabgewandt, und so ohne mir nur die leiseste Hoffnung mit aus den Weg zu geben. Nun sehe ich, daß Sie entschlossen sind, sich dem Leben ernstlich wieder zuzuwenden, und da ich von Ihnen hören durfte, ich sei Ihnen nicht gleichgültig, tut sich mir eine Zukunft auf, die ich nicht mehr zu träumen wagte. Gewiß, diese Welt ist nicht die beste Welt, es kann noch eine bessere geben. Aber wollen wir nicht versuchen, sie uns hier auf der Erde zu schaffen, indem wir andere Menschen glücklich machen, auch wenn uns zu unserem eigenen Glück so manches fehlt? Das werden Sie nicht erreichen, wenn Sie sich in sich selbst verschließen, in falschen Vorstellungen bis ans Ende hinleben, so wie Sie mir damals sagten, Sie würden es nicht verantworten können, einem Manne zuzumuten, Ihr trauriges Wesen neben sich zu ertragen, oder nur aus Mitleid von ihm geliebt zu werden. So ungefähr sagten Sie. Aber, Geliebteste, bedenken Sie denn nicht, daß Sie auch mir Mitleid schulden? Daß ich ohne Sie in dunklem Trübsinn meine Tage hinbringen würde, da ich nie eine andere Lebensgefährtin fände, die Ihr Bild mir verdrängte? Wäre es mehr nach dem Willen des Schöpfers, daß Sie hier Ihr Leben zubrächten, junge Mädchen unterrichtend, bis sie den edelsten Beruf erfüllen könnten, glückliche Frauen und Mütter zu werden? Und wollen Sie für sich selbst darauf verzichten, durch das Glück, das Sie einem treuen Manne bereiteten, sich selbst beglückt zu fühlen und die Rätselfragen nach einem Jenseits dem Allwissenden zu überlassen, der es Ihnen gegönnt hat, in einem Diesseits froh und mutig Ihre Pflicht zu tun, da ein einziges Wort alle irdischen Rätsel löst: das Wort Liebe? Aber ich sehe, ich habe mich getäuscht, wenn ich mir einbildete, Sie meinten es ernst mit Ihrem damaligen Geständnis. Wenn Sie mich nicht wirklich lieben, habe ich alles umsonst geredet. Leben Sie wohl und vergessen Sie diese Stunde!«
Er verneigte sich und wandte sich zum Gehen. Da hörte er sie mit zitternder Stimme sagen: »Gehen Sie nicht von mir. Hier ist meine Hand. Wenn Sie es wirklich mit mir wagen wollen – ich will es versuchen wieder froh zu werden – und auch Sie froh zu machen –« Die Stimme versagte ihr, sie stürzte an seine Brust, in Tränen aufgelöst. Er drückte ihren Kopf an sein Herz und sagte in tiefer Rührung, während er ihr Haar sanft streichelte: »Komm, armes Kind! Weine dich aus. Dann aber blick’ auf und sieh mir in die Augen und lies darin das Gelöbnis, daß ich mein Leben daran setzen will, deines hell und glücklich zu machen!«