Die Höhle am Hügel

Bret Harte

Drittes Kapitel.

Es schien, als ob Collinson von der Entdeckung der Sylvian Silver Hollow keine Ahnung hatte. Keys Furcht, daß er nach seiner Rückkehr von Skinner den Ort besuchen werde, war vollständig unbegründet, denn Collinson ging nie wieder dorthin. Weder die Nachricht von der Eintragung des Claims, noch die Ankunft der Arbeiter bemerkte er. Die wenigen Reisenden, die bei ihm vorsprachen, wählten immer den weiteren, aber bequemeren Weg über die Landstraße, auch war er zu weit entfernt, um aus der am Sonnabend regelmäßig erfolgenden Heimkehr der Key’schen Arbeiter irgend welchen Vorteil zu ziehen. Seine Abgeschlossenheit von der Civilisation – denn diejenigen, die zu ihm kamen, waren gleich ihm ungebildete Ansiedler – blieb ungestört. Die Einkehr der unternehmenden Gesellschaft in seine einfache Häuslichkeit war für ihn ein Ereignis gewesen, und er ließ es sich nicht träumen, daß die drei durch ihre armselige Stellung dazu gezwungen worden waren. Dies Ereignis war wohl wert, sich zeitweilig desselben zu erinnern, aber die Nimmerwiederkehr störte nicht den unendlichen Gleichmut. Sein Schweinekoben und sein Mehlsack waren für andere Reisende gefüllt; seine eigenen Bedürfnisse waren gering.

Es war einen oder zwei Tage nach dem nächtlichen Besuche des Sheriffs vor der Silberhöhle, als Key das Thal hinab sprengte zu Collinsons Mühle. Es belustigte ihn, in seiner neuen Würde zu erscheinen, aber gleichzeitig war er betrübt, daß Collinson in demselben Stumpfsinne verharrte und daß es erst eines lauten Rufes bedurfte, um ihn vor die Thür zu bringen.

»Ich habe Euer Pferd gut verwahrt, es hat auf der Wiese oberhalb der Mühle geweidet, und hat sich so herausgemacht, daß es dick und rund aussieht,« sagte er ruhig und begann mechanisch Keys Zaum zu lösen, da dieser abgestiegen war. »Sein Rücken ist vollständig geheilt.«

Key konnte ein Zeichen von Ungeduld nicht unterdrücken. Drei Wochen waren vergangen, seit sie einander verlassen hatten, drei Wochen für ihn voller Aufregung, emsiger Tätigkeit und Glück. Und nun fand er diesen Mann vollständig unverändert. Er wußte in der That nicht, was er von ihm halten sollte. Aber Collinsons nächste Worte waren sehr praktisch.

»Ich glaubte, Ihr würdet an Skinner wegen Eures Pferdes schreiben; daß Ihr jemals zurückkehren würdet, habe ich keinen Augenblick gedacht.«

Aus dieser Aeußerung ging zur Genüge hervor, daß Collinson nichts gehört hatte. Nun war auch für Key die Schwierigkeit größer, dem Wirt die Geschichte seiner Entdeckung mitzuteilen. Er konnte sie bis nach der Ankunft in Marysville zurückdatieren, aber wie sollte er sein Glück erklären? Er war nicht Prahler genug, um vor Collinson mit seinem Scharfsinn glänzen zu wollen, noch die unermüdliche Energie zu rühmen, der es bedurft hatte, um die Gesellschaft zu begründen. Deshalb wurde seine Geschichte unter den ernsten geduldigen Augen seines Gegenübers durchaus mangelhaft. Während der Erzählung verriet Collinson weder stolzes Interesse noch Zorn. Als Key seinen ungeschickten Vortrag beendet hatte, sagte Collinson langsam:

»Dann wissen Onkel Dick und Parker nichts von der Entdeckung, die Ihr gemacht habt?«

»Nein,« sagte Key schnell. »Erinnert Euch doch, daß unsere Teilnehmerschaft an jenem Morgen ihr Ende erreichte und jeder seiner Wege ging. Wißt Ihr denn nicht,« fügte er mit einem gezwungenen Halblachen hinzu, »daß sie mich auf keinen Fall verlassen hätten, wenn wir auch nur eine Unze Blei gefunden hätten?«

»Meint Ihr nicht?« sagte Collinson ernst.

»Gewiß.« Er lachte etwas natürlicher, fügte dann aber mit einem leichten Lächeln hinzu: »Was denkt Ihr, daß sie gethan hätten?«

»Nichts,« sagte Collinson sofort.

Nichtsdestoweniger kam Collinson, als sie mit den Gläsern in der Hand vor dem Feuer saßen, auf den Gegenstand zurück.

»Ihr sagtet, daß sie ihren und Ihr Euren Weg ginget. Aber Euer Weg führte dahin zurück, von wo Ihr gekommen wart.«

Hier fühlte sich Key auf sicherem Boden, deshalb antwortete er freundlich und treuherzig: »Ja, aber ich ging nur zurück nach der Höhle, um mich zu überzeugen, ob da wirklich ein Haus stand, und wenn, die Bewohner vor dem Feuer zu warnen.«

»Und da war ein Haus!« sagte Collinson gedankenvoll.

»Nur die Trümmer.« Er hielt inne und errötete, denn ihm fiel ein, daß er beim früheren Zusammentreffen die Existenz geleugnet hatte. »Das heißt,« fuhr er schnell fort, »ich erfuhr von dem Sheriff, daß dort ein Haus gestanden hatte. Aber,« fügte er hinzu, sich in seine frühere Stellung zurückfallen lassend, »mein Zurückgehen war ein Zufall, ebenfalls ein Zufall war’s, daß ich das Erz aufnahm, und hatte nichts mehr mit dem gemeinsamen Unternehmen zu thun als Ihr hattet. Thatsächlich,« fügte er mit einem versichernden Lachen hinzu, »würdet Ihr mehr Recht an meinem Claim gehabt haben, als sie, da Ihr gerade in dem Augenblick kamt. Wenn ich gewußt hätte, was die Geschichte wert ist, hätte ich Euch vielleicht eingesetzt – es gehörte nur Geld und etwas Erfahrung dazu.« Er freute sich, diese Entschuldigung gefunden zu haben, die ihm wieder durch Zufall eingefallen war, und er sah freundlich auf Collinson. Aber dieser Gentleman sagte besonnen:

»Nein, Ihr würdet es nicht gethan haben.«

»Weshalb nicht?« fragte Key halb ärgerlich.

Collinson machte eine Pause. Nach einem Augenblick sagte er: »Weil ich nichts von jenem Ort genommen haben würde.«

Key fühlte sich beruhigt. Wie er Collinsons Launen kannte, glaubte er ihm. Es war klug gewesen, Collinson nicht von Anfang an einzuweihen, denn er würde es für seine Pflicht gehalten haben, andern das Geheimnis mitzuteilen.

»Ich bin nicht so sonderbar,« erwiderte er lachend, »das Silber in der Höhle wurde nie berührt. Aber schweigen wir darüber. Es ist etwas anderes, das ich mit Euch besprechen möchte. Erinnert Ihr Euch des Pantoffels, den Ihr aufnahmet?«

»Ja.«

»Gut. Ich log damals, ich verwahrte ihn nie. Im Gegenteil, ich hatte das Pendant ganz in der Nähe gefunden, und ich wünschte zu wissen, wem er gehöre. Ich nehme nicht Anstand, Euch nun zu sagen, daß ich fest glaube, daß eine Frau in dem Hause war, und zwar dieselbe, deren Gesicht ich am Fenster sah. Ihr erinnert Euch, daß ich von meinem Gefährten ausgelacht wurde, vielleicht beachtete ich nicht, daß auch Ihr lachtet, aber ich fühle über meine Lüge Gewissensbisse, denn ich bemerkte bei Euch einiges Interesse an der Sache und habe Euch vermutlich die Fährte entzogen. Es schien, als ob Ihr ‘ne Ahnung hattet, wer es sein könnte, deshalb können wir uns ja jetzt über die Sache unterhalten und Beschlüsse fassen. Ich glaube, Ihr sagtet, wenigstens zog ich den Schluß aus Euren Bemerkungen,« fügte er hastig hinzu, da dieser Schluß seine eigenen Gedanken waren, »daß der Pantoffel Euch an den Eurer Frau erinnerte. Aber wenn Eure Frau tot ist, kann dies nur eine Aehnlichkeit sein, die –« er hielt inne.

»Habt Ihr ihn mitgebracht?«

»Ja, beide.« Er nahm die Pantoffeln aus einer Tasche seiner Reitjacke.

Als Collinson sie in die Hand nahm, erhielt sein Gesicht einen ernsteren Ausdruck. »Es ist sehr merkwürdig,« sagte er nachdenklich, »aber wenn ich auf beide Pantoffeln sehe, ist die Aehnlichkeit noch größer. Meine Frau hatte einen geraden Fuß und trug nie gleichmäßig ihr Schuhzeug stets auf demselben Fuß, und Ihr seht, dies trifft auch hier zu.«

»Dies mag auch bei anderen Frauen zutreffen,« bemerkte Key.

»So muß es sein,« sagte Collinson ruhig.

Key war angenehm berührt von diesen männlichen Worten, denn nach Onkel Dicks Aussage konnte die Bewohnerin der Räuberhöhle recht gut Collinsons Frau gewesen sein. Er war erfreut, bei diesem Punkt angelangt zu sein und sagte zuversichtlicher:

»Ihr seht, diese Frau war unzweifelhaft in der Nacht vor dem Feuer in jenem Hause. Sie entfloh, und zwar in furchtbarer Eile, denn sie hatte keine Zeit, ihre Pantoffel gegen Schuhe umzutauschen; da sie zu Pferde entfloh, verlor sie sie unterwegs. Was that sie in der Gesellschaft jener Spitzbuben, denn das Gesicht, welches ich sah, war so unschuldig wie das einer Heiligen.«

»Ich habe oft gelesen, daß italienische Briganten Frauen stehlen,« sagte Collinson nachdenklich, »aber das ist bei den kalifornischen Straßenräubern nicht Sitte. Wenn die ein Weib nehmen, gehen sie mit ihm aus dem Staat. Nein, das Weib, das in der Hütte war, kam, um dort zu bleiben.

Keys Gesicht schien weder Ungeduld noch Befriedigung mit der letzten Behauptung auszudrücken, deshalb erwiderte Collinson, nachdem er seinen Gast aufmerksam betrachtet hatte: »Ich sehe, was Euch bewegt. Ihr glaubt, es wäre besser gewesen, wenn Ihr an derselben Stelle, wo Ihr die Pantoffeln fandet, das Weib selbst gefunden hättet, dann wäre es Euch möglich gewesen, sie und jene Männer von den schlechten Wegen zu entfernen.«

Mr. Key hatte nichts derartiges gedacht. Aber etwas anderes, das er hatte sagen wollen, unterdrückte er. Er stand ungeduldig auf.

» Well, da scheint keine Aussicht vorhanden zu sein, um noch etwas zu entdecken, das Haus ist abgebrannt, die Bande zerstreut, und sie ist wahrscheinlich mitgegangen.« Er hielt inne, legte dann drei oder vier Goldstücke auf den Tisch und sagte: »Dies ist für unsere alte Schuld. Wenn Ihr kommt, um mich in der Mine zu besuchen, und ich hoffe Ihr kommt bald, könnt Ihr das Pferd mitbringen. Mittlerweile dürft Ihr’s benützen, es leistet bessere Dienste, als das Maultier. Wie geht’s Geschäft?« fragte er mit einem schnellen Blick durch den leeren Raum und auf den staubigen Schenktisch.

»Da gehen nicht viele diesen Weg!« sagte Collinson sorglos, als er das Geld aufnahm, »ausgenommen die boys aus dem Thal, und die sind zumeist immer abgebrannt, wenn sie hierher kommen.«

Key lachte, als er bemerkte, daß Collinson ihm keine Quittung gab, umsomehr als er nur Collinsons Wort hatte, daß dieser den Wechsel von Parker zerrissen habe. Aber er sagte nichts. Nach einer Pause verfiel er wieder in seinen leichten Ton. »Ich glaube, Ihr seid hier so ziemlich von aller Welt abgeschlossen. Zuerst hatte ich den Gedanken, Euch Eure Mühle abzukaufen und hier eine Dampfmühle zur Herstellung von Bauholz einzurichten; als ich aber bemerkte, daß das Fortschaffen des Holzes Schwierigkeiten bereiten würde, nahm ich davon Abstand. Sonst hätte ich Euch ein gutes Gebot gemacht.«

»Ich gedenke meine Mühle nie zu verkaufen,« sagte Collinson einfach. Als er dann den erstaunten Blick auf seines Gefährten Gesicht bemerkte, fügte er ernst hinzu: »Wißt, ich errichtete die Mühle mit allem, als ich mein Weib aus den Staaten kommen lassen wollte, und zu seinem Gedächtnis gedenke ich sie zu behalten.«

Key zog seine Brauen in die Höhe. »Aber Ihr habt uns nie erzählt, wie es gekommen ist, daß Ihr die Mühle hier errichtetet, wo die Wasserversorgung eine so mangelhafte ist.«

»Sie war nicht mangelhaft, als ich hierher kam, Mr. Key, der Strom war stark und reißend. Nur das Erdbeben war schuld.«

»Das Erdbeben?« wiederholte Key.

»Ja. Wenn das Erdbeben den Silberfelsen, von dem Ihr an dem Abend erzähltet, als Ihr hierherkamt, und den Ihr später fandet, bloßgelegt hat, weßhalb soll es dann nicht auch einen Mühlstrom versiegen lassen, he?«

»Aber der Ausbruch, von dem ich sprach, ereignete sich vor sehr langer Zeit, als noch niemand eine Ahnung von dieser Gebirgskette hatte,« sagte Key lachend.

» Well, das Erdbeben, von dem ich spreche, war vor zehn Jahren, kurz nachdem ich gekommen war. Ich erinnere mich dessen noch ganz genau. Es war ein schöner Tag, heiß und trocken, als ob da Feuer in den Wäldern sei, kein Luftzug war zu bemerken. Die Blätter hingen senkrecht von den Bäumen herab; weder Strom noch Mühlrad bewegten sich. Auf den Zweigen am Cañon saß kein Vogel, sogar die Eidechsen auf den Felsen lagen still und sahen aus wie chinesische Götzen. Es wurde immer stiller und so drückend, daß ich hinausging. Auf allen Gegenständen schien ein feiner Schleier zu liegen, und die Sonne stand in der Mitte dieses Nebels als stände sie still. Alles schien zu warten, warten, warten. Dann erhob sich ein sonderbares Geräusch, und das ganze Thal schien von einem Wirbel durchzogen zu werden. Bäume wurden niedergeworfen, als wären sie dünne Gerten. Ihr seht jenen Pfahl an der andern Seite des Cañons. Gut! Tausend Fuß von ihm entfernt standen Bäume, über dreihundert Fuß hoch. Ihr kennt unsere Riesenbäume, Ihr habt sie gesehen und wißt, daß sie sich zu einer solchen Höhe erheben. Als ich mich umwandte und zur Mühle zurückgehen wollte, fielen sie krachend um, das Mühlrad aber stand still, und im Fluß waren keine zwei Zoll Wasser mehr!«

»Und was dachtet Ihr in dem Augenblick?« fragte Key trotz seiner Ungeduld aufmerksam.

»Ich dachte – Mr. Key – nein, ich will es Euch nicht sagen, was ich dachte, denn ich wußte es. Ich wußte, daß sich etwas mit meinem Weibe ereignet hatte!«

Key lachte nicht, aber er fühlte einen abergläubischen Schauer, als er auf ihn sah. Nach einer Pause fuhr Collinson fort:

»Einen Monat später erfuhr ich, daß sie gerade zu der Zeit in Texas am gelben Fieber gestorben war. Ihre Leute schrieben, daß sie gleich Fliegen starben und unbesehen und ohne Unterschied gemeinsam begraben wurden. Sie ging von mir, das war das Ende.«

»Sie kann aber geflohen sein!« sagte Key schnell, in seinem Aerger sich selbst vergessend.

Aber Collinson schüttelte nur seinen Kopf. »Dann würde sie hier sein,« sagte er ernst.

Key wandte sich zur Thür, streckte seine Hand aus, schüttelte die seines Gefährten herzlich, sattelte sein Pferd und entfernte sich. Eine Enttäuschung, die von einer Unzufriedenheit mit sich selbst untermischt war, war durch die Unterredung in ihm aufgestiegen. Er machte sich selbst Vorwürfe, daß er sich von seiner Romantik hatte so weit fortreißen lassen. Es war eines Präsidenten der Sylvian Silver Hollow Company durchaus unwürdig, und er war nicht ganz sicher, ob er nicht durch sein Vertrauen zu Collinson die Interessen der Gesellschaft geschädigt habe. Um seine momentane Verirrung zu büßen und seinen traurigen Einfall zu verbessern, beschloß er einige Geschäfte bei Skinner vor seiner Rückkehr abzuschließen, deßhalb bog er bei einer Nebenstraße ab, die die Landstraße durchschnitt. Aber hier begegnete ihm etwas Sonderbares. Er hörte plötzlich Hufschlag hinter sich und hatte kaum Zeit genug, sich durch einen Seitensprung vor dem Wagen, der hinter ihm kam, zu retten. Er sah flüchtig die sechs dampfenden Pferde, aber auch ebenso flüchtig ein weibliches Gesicht, das für einige Augenblicke hinter dem Glasfenster des Wagens erschien. Aber sogar durch diese Wahrnehmung glaubte er das Gesicht zu erkennen, das er am Fenster der geheimnisvollen Hütte gesehen hatte.

Er hielt einen Augenblick in dem Staub der verschwindenden Räder an. Dann, als der Wagen seinen Blicken wieder erschien, schon in ziemlicher Entfernung, setzte er ihm mit plötzlicher Entschlossenheit nach. Seine Enttäuschung, seine Selbstverurteilung, seine praktischen Vorsätze waren vergessen. Nur ein Gedanke erfüllte ihn – die Erscheinung war die Vorsehung! Er mußte folgen! Dennoch besaß er Nachdenken genug, um sich zu sagen, daß der Wagen unterwegs nicht halten würde, um noch einen neuen Passagier aufzunehmen, und daß die nächste Station drei Meilen englisch = 4827 m.unterhalb Skinner sei. Es war für ihn nicht schwer, das Ziel durch eine Abkürzung rechtzeitig zu erreichen, und obgleich der Wagen gefüllt schien, durfte er nicht zweifeln, wenigstens einen Sitz auf dem Bock zu erhalten.

Er gab seinem Pferd die Sporen und gelangte bald neben den Wagen, während er die Fremde genauer beobachtete. Sie hatte ihr Gesicht über ein Buch geneigt, aber unzweifelhaft war es dasselbe Profil, das er in jener Nacht gesehen hatte, aber dies volle Gesicht war gänzlich verschieden in Ausdruck und Erscheinung. Wieder überfiel ihn ein Gefühl der Enttäuschung, wieder sah er hin: es war gewiß ein hübsches Weib, ein hübsches rundes Kinn, eine kurze gerade Nase, schwellende Rosenlippen – aber doch war es nicht das Gesicht, von dem er geträumt hatte. Da erhob die schöne Unbekannte ihre Augenlider und sah auf den beharrlichen Reiter an ihrer Seite, und eine alte Erinnerung, vielleicht Wiedererkennen, kam in die dunklen müden Augen. Die Pupillen waren auf ihn gerichtet, und er glaubte, es sei eine Antwort auf seinen Blick, und doch war dieser Blick gänzlich unverständlich. Einen Augenblick später fand er seine Erklärung. Er war in eine neue Täuschung von Unentschlossenheit und Erstaunen gefallen, als von einem Waldweg zur Rechten ein Reiter in die Straße vor ihm einbog. Es war ein hübsch gebauter Mann auf einem Pferde, weit besser als die gewöhnlichen Klepper der Landstraße. Ohne auf Key zu achten versuchte dieser Reiter neben den Wagen zu gelangen, aber auch Key gab in plötzlicher Entschlossenheit seinem Pferde die Sporen, während die schöne Unbekannte auf den zweiten Reiter blickte und ihm unzweideutig ein Zeichen machte, ein Zeichen, das Key als eine Warnung für sich selbst betrachtete. Er war davon um so mehr überzeugt, als der Fremde, nachdem er einige Schritte voraufgeritten war, den Wagen vorbeiließ und die Gangart seines Pferdes noch mehr verlangsamte, um auch Key vorbei zu lassen. Es schien des Fremden Absicht zu sein, ihn auszuforschen, aber auch er wollte gern wissen, wer der Fremde sei, deshalb heftete er seine Blicke forschend auf dessen Gesicht. Aber der Fremde, der ein braunleinenes Uebergewand trug, das Mode und Eleganz verriet, hatte Gesicht und Kopf wie zum Schutz gegen die Sonne mit einem weißen seidenen Tuch verhüllt, befand sich also Key gegenüber im Vorteil. Dieser sah nur ein Paar strahlende Augen, dann gab der Fremde dem Pferde die Sporen und verschwand vor dem Wagen in einer Staubwolke. Key hatte mittlerweile den Richtweg erreicht. Sogar bei dem Vorsprung des Fremden war das Rennen zur Station ein ungemein spannendes.

Nichtsdestoweniger war er, als er davon sprengte, sich nicht ganz über die Natur seines Unternehmens klar. Wenn seine Annahme sich als richtig erwies, daß zwischen der Dame und dem Fremden ein Signal gewechselt worden war, war es leicht möglich, daß er nicht nur die schöne Bewohnerin der Räuberhöhle, sondern auch einen von der Bande entdeckt hatte, zum wenigsten einen Verbündeten derselben. Aber weit entfernt davon, durch geistreiche Sophistereien seine Romantik zu beseitigen, betrachtete er das Abenteuer nunmehr von der praktischen Seite im Interesse des Gesetzes und der Gerechtigkeit. Es war die Wahrheit, wenn man sagte, daß die Bande sich in letzter Zeit zerstreut habe, denn seit drei Wochen hatte man von keinem Postkutschenüberfall gehört, aber keiner der Desperados war gefangen genommen, und ihre Verbindung, die sehr beträchtlich war, bestand noch. Es war im Interesse der Mine, seiner Teilhaber und Arbeiter, daß die drohende Gefahr abgewendet werde. Der Dame gegenüber, die ihm große Enttäuschung bereitet hatte, konnte er großmütig sein. Sie war vielleicht die Geliebte des fremden Reiters und sie hatte nur durch seine Hilfe aus der verhaßten Gemeinschaft entfliehen können. Eins belustigte ihn ungemein; sie war augenscheinlich noch ziemlich unbekannt mit der Bande und hatte ihn zuerst für ein Mitglied derselben gehalten und erst die Dazwischenkunft des fremden Reiters hatte sie auf ihren Fehler aufmerksam gemacht.

Es war eine große Genugthuung für Key, daß er am Ende des Nichtweges die Staubwolke des Wagens ungefähr eine viertel Meile vor sich sah. Nun hatte er noch Zeit, denn er wußte, daß an der Station die Pferde gewechselt wurden; aber eine plötzliche Furcht überfiel ihn, daß die schöne Unbekannte absteigen oder eine andere Reisegelegenheit wählen könnte, deshalb spornte er sein Pferd. Als er sich der Station näherte, sah er sich nach dem fremden Reiter um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Er hatte wahrscheinlich den Wagen verlassen oder war voraus geritten.

Es hatte fast den Anschein, als ob das Glück ihm hold sei, denn auf der Station erfuhr er, daß im Innern des Wagens ein Platz frei geworden sei.

Dieser lag dem Platz der Dame diagonal gegenüber, so daß er ihr Gesicht nicht studieren konnte, das über das Buch geneigt war, obschon sie die Seiten kaum umwendete. Nach dem ersten gewöhnlichen Blick voll Neugierde auf den neuen Fahrgast, nahm sie von ihm weiter keine Notiz, und Key begann einzusehen, daß er ihren fragenden Blick falsch aufgefaßt hatte. Nun begann er auch ihr Gesicht aufmerksamer zu betrachten, als bei seinem ersten flüchtigen Blick. Sie war gewiß hübsch; wenn auch die Frische der Jugend fehlte, zeigten ihre Züge doch den eigenen Liebreiz einer Dame von dreißig Jahren und die schönen Linien der reiferen Weiblichkeit und Ruhe. Da waren Linien, besonders um Mund und Augen, die von einem stillen Schmerz vertieft erschienen, und das Kinn zeugte in seiner Vollheit von Entschlossenheit. Ihre Kleidung, die ebenfalls durch einen braunleinenen Ueberwurf fast ganz verdeckt wurde, schien einfach aber geschmackvoll zu sein.

Als der Wagen sich wieder in Bewegung setzte, saß ein den Farmer verratender Mann neben ihr. Er wandte sich an seine schöne Nachbarin und sagte mit einem zwar rohen, aber humoristischen Lächeln: »Entschuldigt, Miß! Weiß nicht, was und wie Ihr denkt, glaube aber nach Euren Blicken, seid hier fremd. Sage Euch, fühle mich nie sicher in dieser Gegend vor den Straßenräubern, bis wir Skinners Station passiert haben. Der ganze Wald wimmelt von ihnen. Aber hinter Skinner Ihr seid all right. Dahin kommen sie nicht. Entschuldigt mich. Miß, daß ich in Eurer Gegenwart meine Stiefel ausziehe und meine Füße einen Augenblick erleichtere.«

Weder die Unverfrorenheit dieser Bitte noch das Gelächter, das sie bei den übrigen Fahrgästen hervorrief, schien die Dame aus ihrer Abgeschiedenheit empor zu schrecken. Sie hob kaum die Augen von ihrem Buch.

» You see, Miss,« fuhr er fort, »Ihr seht, Miß, und Ihr, gents, gentlemen,« fügte er hinzu, indem er alle Fahrgäste durch seine Dreistigkeit belästigte, »ich habe über vierzig Unzen Goldstaub in meinen Stiefeln zwischen der Ober- und Untersohle, und diese Last ist für meine Füße recht schwer.« Er zog einen Stiefel aus und hielt ihn hoch. »Ich brachte den Staub dort der Sicherheit wegen unter, kalkuliere, daß diese Straßenritter, die Taschen und Körper genau untersuchen, nie an die Stiefel denken, oder auch keine Zeit haben daran zu denken.« Er sah mit einem Lächeln des Selbstbewußtseins umher.

Das Beifallsmurmeln wurde durch einen vollbärtigen Miner unterbrochen, der in der Mitte saß.

»Das ist sehr gut, soweit es geht,« sagte er lächelnd, »aber es würde nicht gehen, wenn Ihr laufen wolltet. Ich habe ein einfacheres Mittel, gents; wir sind doch alle Freunde, und die Gefahr ist vorüber, deshalb erzähle ich es euch. Das erste, was die Briganten thun, wenn sie den Führer durch ihre Feuerwaffen niedergestreckt haben, ist, daß sie die Fahrgäste mit offenen Händen herauskommen lassen. Das, Ma’m Ma’m = Madam.,« sich an die Dame wendend, die nur ein mäßiges Interesse zeigte, »ist, um sie vom Hervorziehen der Revolver abzuhalten. Ein Revolver ist das letzte, was ein Straßenräuber sich wünscht, weder in der Hand eines Mannes, noch in seinem eigenen Halfter. Deshalb sagte ich zu mir, wenn ein Sechsläufiger keinen Wert hat, wozu kann er dann gebraucht werden? Deshalb lasse ich meinen Revolver daheim wenn ich reise und fülle meinen Halfter mit Goldstaub. ‘s ist zwar verteufelt schwerer, als ein Revolver, aber sie fühlen die Schwere nicht, da sie ihm nicht zu nahe kommen. Schon zweimal bin ich in diesem Jahr hier angehalten worden, aber immer kam ich frei durch!«

Der Beifall, der diesen Worten folgte, stellte die Erläuterungen des Farmers nicht nur in den Schatten, sondern er schien auch einen förmlichen Wettkampf unter den Fahrgästen heraufzubeschwören. Andere Methoden zur Sicherung des Eigentums wurden freiwillig erzählt, aber die Mitteilungen gipfelten in der eines Reisenden, der bisher gleich der schönen Unbekannten der ganzen Unterredung wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Seine Kleidung und seine ganze Erscheinung verrieten einen gewöhnlichen Menschen, und seine Stimme und Art und Weise bestätigten die Annahme.

»Ich glaube nicht, Gentlemen,« sagte er mit einem angenehmen Lächeln, »daß jemand von Euch sich gern Feigling nennen hört, aber beim Fechten mit einem Feind, der nie angreift oder erscheint, wenn nicht der Vorteil auf seiner Seite ist, ist meine Meinung, daß man nicht nur sein ganzes Auftreten ihm gegenüber weise einrichten soll, sondern sogar muß. Ihr seid alle offen in der Erzählung Eurer Methoden gewesen. Ich werde ebenso mit der meinigen verfahren, wenn ich auch glaube, daß ich etwas mehr als Ihr zu erzählen habe. Denn ich habe mich nicht allein mit einer wohlbekannten Regel der Räuber bekannt gemacht, die die Kinder und Frauen gänzlich verschonen, eine Regel, an der alle kalifornischen Räuber durchaus festhalten – sondern ich habe auch diese Ritterlichkeit gegen das andere Geschlecht mir zu nutze gemacht.« Er hielt inne und verneigte sich höflich gegen die schöne Unbekannte. »Als ich den Wagen bestieg, hatte ich ein großes Packet bei mir, viel zu groß für meine Tasche, aber doch zu klein und zu wertvoll, um bei dem gewöhnlichen Gepäck zu liegen. Mein schönes Gegenüber sah meine Schwierigkeit, und ihr freundliches und unschuldiges Herz machte mir den Vorschlag, mein Packet in ihr Ränzchen zu legen, das noch nicht voll war. Mit Freuden nahm ich das Anerbieten an. Wenn ich Euch mitteile, Gentlemen, daß mein Packet wichtige Regierungspapiere von beträchtlichem Werte enthält, so thue ich es nicht deshalb, um Euer Lob für meine originelle Idee herauszufordern, sondern um das freundliche Vorgehen unserer Mitreisenden ins beste Licht zu stellen, das mich in vollste Sicherheit vor diesen Straßenräubern bringt.«

Des Erzählers Augen ruhten auf dem Gesicht der Dame, und Key sah, daß das sonst so passive Gesicht sich rötete, was dem lauten Lob des Rechtsanwaltes, denn ein solcher war der gewöhnliche Reisende, zu verdanken war. Key war schmerzlich berührt durch das, was ihm als eine peinliche Lage erschien. Er glaubte eine thätige Complicin der Straßenräuber vor sich zu haben, welche kühl die artigen und kindischen Anerkennungen der Männer in Empfang nahm, die sie zu überlisten suchte. Konnte er in gemeiner Gerechtigkeit gegen seine Mitreisenden, gegen sich selbst oder die Mission, die er zu verfolgen glaubte, von einer Entlarvung zurücktreten, oder die Männer im geheimen warnen? Aber war er auch sicher? War eine schwache Erinnerung eines Profils, das er für einen Augenblick gesehen hatte – und das nun, da er das ganze Gesicht sah, ihm weniger ähnlich zu sein schien – genügend für ein solches Eingreifen? Mehr als dies war der Schutz, den sie augenscheinlich dem Advokaten gewährt hatte, genügend, um sie als Gefährtin hinzustellen.

»Dann, wenn die Gefahr vorüber ist,« sagte die Dame und bückte sich, um ihren Ranzen hervorzuziehen, »kann ich Euch Euer Eigentum zurückgeben.«

» By no means! Auf keinen Fall! Bemüht Euch nicht! Erlaubt mir, Euer Schuldner zu bleiben, wenigstens bis zur nächsten Station,« sagte der Rechtsanwalt galant.

Die Dame warf einen müden Blick umher, dann sank sie zurück und beschäftigte sich wieder angelegentlich mit ihrem Buch. Key fühlte, wie die Nöte der Scham und des Erstaunens in seine Wangen stieg. Hier folgte er einem Weib, vor dem er nicht länger besorgt sein, und für dessen Verfolgung er nicht länger die Entschuldigung »Gerechtigkeit« anwenden durfte.

»Wenn Ihr zweimal die Straßenräuber gesehen habt,« wandte sich der Advokat an den Goldgräber, »war es denn nicht möglich, jemanden zu erkennen?«

» Nary a man! Närrische Frage! Sie sind alle maskiert und nur einer von ihnen spricht.«

»Der Führer oder der Hauptmann?«

»Nein, der Redner!«

»Der Redner?« wiederholte der Rechtsanwalt voll Erstaunen.

»Ja, ich nenne ihn so, denn er ist mächtig gewandt mit seiner Zunge, und alles, was er sagt, strömt so schön von seinen Lippen, als ob es vom Herzen käme. Wenn er glaubt, jemand verbirgt ihm etwas, so beschwatzt er ihn. Er hält einen regelrechten speech. Es ist aber nicht der Hauptmann, sondern nur eins der besseren Mitglieder. Man sagt, daß er niemanden oder Geld anrührt, auch vermutet man, daß er irgend ein verunglückter Advokat ist, hört Ihr?«

»Nicht, daß es ein Advokat ist,« entgegnete der Rechtsanwalt lächelnd. »Aber sollte es nicht möglich sein, den wirklichen Führer festzustellen?«

»Es ist die smarteste Bande, die jemals in den Sierras aufgetaucht ist. Kürzlich hielten sie den Sheriff von Sierra zum besten. Sie teilten ihm mit, daß sich ein Zufluchtsort in den Wäldern befände, wo sie zusammenträfen und ihre Beute aufbewahrten, und – by Jingo – er zog mit seiner ganzen Macht dahin, alles klar zum Gefecht, und traf nur auf eine unschuldige Horde von greenhorns greenhorns werden die Goldgräber spottweise genannt. (Der Uebersetzer.), die dort nach Silber graben, wo die Hütte der Räuber sein sollte.«

Key warf einen schnellen Blick auf die Dame, um die Wirkung dieser Worte zu beobachten. Aber ihr Gesicht – wenn dasselbe, das er im Profil im Fenster gesehen hatte – verriet weder Ueberraschung noch Bestürzung. Er ließ seine Augen auf den kleinen Stiefel gleiten, der unter dem Saum des Kleides hervorsah, um Vergleiche mit dem von ihm aufgenommenen Pantoffel anzustellen, aber auch hier scheiterten seine Versuche. Er sank in seinen Sitz zurück, Ermüdung und die Aufregungen des Tages übermannten ihn und das Zwielicht that ein übriges. Die Gespräche waren verstummt, die Dame hatte ihr Buch fortgelegt und die Augen geschlossen. Auch er schloß die Augen und verfiel in einen Traum, der ihn wieder in jene Höhle und an das Fenster führte. Wieder sah er das Profil, wieder schien das hübsche Weib das Fenster zu öffnen, ein kalter Luftzug streifte seine Augen, aber als er sie aufschlug, bemerkte er, daß die Dame das Fenster an ihrer Seite geöffnet hatte.

Es war fast 8 Uhr, vor einer Stunde konnte der Wagen die nächste Station nicht erreichen. Key schloß deshalb, wie die meisten Reisenden die Augen und verfiel in einen tieferen Schlaf.

Plötzlich hielt der Wagen an.