Die Höhle am Hügel
Bret Harte
Sechstes Kapitel.
Das Erstaunen Preble Keys, als er bemerkte, daß die geheimnisvolle Dame im Thorweg verschwunden war, war zuerst so groß, daß er glaubte, seine erregte Phantasie habe ihm einen Streich gespielt. Daß die Verbündete einer Räuberbande ein Versteck im Kloster mit solcher Vertraulichkeit aufsuchen könnte, die Familiarität verriet, war schier undenkbar. Wieder und wieder sah er die lange Mauer hinab, die im tiefen Schatten dalag. Aber sie zeigte keine Stellen, wo sich jemand verbergen konnte, und der Thorweg war der einzige. Die gegenüberliegende Seite der Straße, die im hellen Mondlicht dalag, war leer. Nein! Sie mußte hier eingetreten sein.
Aber die Jagd war zum mindesten nicht aussichtslos. Er hatte zum wenigsten eine Spur von ihr, die sich nicht verwischen ließ. Es war kein Hotel, kein Gasthaus, welches sie jeden Augenblick unbeobachtet verlassen konnte. Obgleich er ihr nicht folgen und in ihren Zufluchtsort nicht eindringen durfte, konnte er doch später – dank seiner alten Verbindung mit den Patres der Schule – unter irgend einem Vorsatz zu der Aebtissin gelangen. Für diese Nacht war sie sicher. Er ging mit einem Gefühl der Erleichterung fort. Er erinnerte sich früherer Abenteuer und bei dem Gedanken an dieselben lächelte der fünfunddreißigjährige, frühzeitig ergraute, vom Glück übergangene Mann.
Am nächsten Morgen war er frühzeitig im Gymnasium San José. Pater Cypriano, ein wenig mehr mit Tabak besudelt und gealtert, erinnerte sich mit Freude seines alten Schülers. »Ah, es war also wahr, daß er Präsident einer Mine geworden war, und darum war sein Haar wohl so grau. So, er hatte einige Verwandte aus den Staaten zu sich genommen und wollte uns eine Nichte ins Kloster bringen. Das war gut und weise. Jawohl, wenn man Bildung in dem neuen Lande haben wollte, mußte man sich nur an die Kirche wenden. Er hatte nicht das Kloster und die jungen Señoritas vergessen. Es war ein Glück für die junge Dame, daß Vater Cypriano noch nicht ins Grab getragen war.« So meditierte der ehrwürdige Vater, und als er nun eine neue Prise nahm, wußte Key, daß er ihn am Mittag nach dem Kloster begleiten würde.
Die Aebtissin war heute ungemein freundlich.
O ja, es sei eine Eigentümlichkeit der amerikanischen Caballeros – die kein Haus und keine Zeit hätten sich um jemanden zu bekümmern – ihre Schwestern, Mündel und Nichten hierher zu bringen und – mit einem taubenähnlichen Seitenblick auf Key – auch die jungen Señoritas, die sie zu ihren christlichen Bräuten zu machen wünschten. Den Caballeros unähnlich gäbe es viele Geschäftsleute, die keine Zeit hätten, sich persönlich von den Vorzügen des Konvents zu überzeugen, die aber dem guten Ruf des Klosters und seiner Freunde trauten und die jungen Damen in Begleitung einer vertrauten Gesellschafterin nach dort senden. Dies sei auch der Fall mit Señor Rivers, – ob Don Preble ihn kenne – einem großen Geldmann in den Sierras, dessen süße junge Schwester, ein naives, lebhaftes Geschöpf, der Stolz des Konventes sei. Es wäre auch besser so. Die junge Dame sollte hier ein Heim finden. Die Bestimmungen für die Besucher seien sehr streng. Es sei selten – ausgenommen einen Fall aus letzter Nacht, – daß sogar einer Dame die Gastfreundschaft im Gebäude zugestanden werde. Und diese Dame sei die Freundin der Schwester jenes Kapitalisten, aber sie habe damals das junge Mädchen hierher gebracht. Nein, sie sei nicht eine Verwandte. Vielleicht habe Don Preble von einem Mr. Barker gehört – dem Freund Rivers’ aus der Sierra. Es war eine seltsame Verbindung von Namen Anspielung auf die Namen: Rivers = Flüsse, to bark = bellen; Sierra = Gebirge. (Anm. d. Uebers.). Aber was er wolle? Die Namen der Amerikaner sagen garnichts. Und Don Preble kenne sie nicht. Ah! Möglich? – Gut. Der Dame würde er sich erinnern, groß, dunkel und von feinem Aeußeren, aber traurig. Wenige Stunden früher, und er hätte die Dame sehen können, als sie durch des Besuchers Zimmer ging. Sie war gegangen, um mit der Postkutsche abzureisen. Sie habe ein Telegramm erhalten – in der Regel öffne sie, die Aebtissin, alle Briefe, um sie in eine christliche Sprache zu übersetzen – dies hätte sie abberufen, sonst hätte sie Don Preble selbst mitteilen können, was für ein guter Aufenthalt das Kloster für junge Damen sei.
Key konnte mit Mühe seine Ruhe wieder gewinnen. »Der Caballero ist müde von der langen Erklärung,« sagte die Aebtissin zuvorkommend. »Wir wollen im Wartezimmer ein Glas Wein trinken.«
Sie ging mit Key zum Zimmer hinaus, hielt aber an, als sie nähernde Fußtritte hörte. »Die zweite Klasse geht aus,« sagte sie, als eine hübsche Prozession von weißen Kleidern, geführt von zwei Nonnen, auf dem Wege zum Thor stand. »Wir wollen warten, bis die vorüber sind, aber der Señor kann sehen, daß meine Kinder nicht unglücklich aussehen.«
Sie sahen gewiß sehr hübsch aus, obgleich sie mit jener Ungeduld warteten, die man bemerken kann, wenn sich jemand von einer Autorität beobachtet weiß, und sich eng aneinander geschmiegt hatten. Um etwas zu sagen, bemerkte Key: »Ich bin besorgt, daß ich Ihnen zu viel Mühe mache,« verstummte dann aber plötzlich.
Denn als seine Stimme die ernste Stille unterbrach, wandte eine der nächsten – ein junges Mädchen von vielleicht 17 Jahren – sich nach ihm um, ging auf ihn zu und wich ebenso plötzlich wieder zurück. Das Gesicht zog Key an, nicht wegen seiner Schönheit und seiner Frische, sondern wegen einer unbestimmten Erinnerung. Immer wieder zwang es ihn, dies schöne Gesicht mit den dunklen Augen und dem unschuldigen Ausdruck anzusehen. Endlich war er zum Schlusse gekommen. Dies war das Gesicht, das er in der Höhle gesehen hatte.
Die Bewegung des jungen Mädchens war zu lebhaft gewesen, um von der Aebtissin übersehen zu werden, deshalb sagte sie: »Ihr müßt nicht glauben, Don Preble, daß alle unsere jungen Mädchen diesem gleich sind; unser teures Kind hat nur noch einige Freiheiten des Gebirges beibehalten. Dies ist Señor Rivers’ Schwester. Aber wer weiß, vielleicht hat sie in Euch einen Gefährten ihres Bruders erkannt.«
Glücklicherweise trafen diese Worte Key nicht unvorbereitet, sonst hätten sie ihn in Verlegenheit gesetzt. Nun aber sagte er kühl und gleichgültig:
»Ich bedaure sehr, ich habe bisher noch nicht das Vergnügen gehabt, diese junge Dame zu sehen.« Er hatte kaum auf die Worte der Aebtissin geachtet, ihn beschäftigte immer wieder die Vision jener Nacht und das Gesicht, das er soeben vor sich gesehen hatte. Bei allem, was er wußte oder zu wissen glaubte, wollte er zart genug sein, keine weiteren Fragen zu stellen, er fürchtete sie bloßzustellen, und eine Ungeduld mit seiner gegenwärtigen Lage ergriff ihn; sogar seine ganze Verfolgung erschien ihm als eine Profanierung, für die er ihre Verzeihung erbitten mußte. Sobald er konnte, entfernte er sich. Er dankte der freundlichen Aebtissin, versprach ihr, sich später mit ihr in Verbindung zu setzen, und fand sich bald darauf auf der Straße.
Wer war sie? Was war sie? Was bedeutete ihr ganzes Benehmen? Die letzte Frage erregte ihn am meisten, nun, da er fühlte, daß er sie vom ersten Augenblick an geliebt hatte. Hatte sie ihn früher gesehen und war ebenso geheimnisvoll berührt worden, als er? Er hatte die andere Frau als ihre Gefährtin in der Höhle in jener Nacht erkannt, aber es war ihr Profil, das er gesehen hatte. Der geheimnisvolle Bruder Rivers konnte einer von den Räubern sein, vielleicht derjenige, der Mrs. Barker nach San José begleitete. Aber es war klar, daß das junge Mädchen mit der Bande keine Gemeinschaft hatte. Mit der Allwissenheit eines treuen Liebhabers wußte er, daß ihr die Bande unbekannt war. In ihren Augen war keine Spur von Verbrechen, sie würden längst das Geheimnis verraten haben. Würde es aber nicht weiser und männlicher sein für ihn – einen Mann doppelt so alt als sie – sie mit ihrem Geheimnis allein zu lassen und so aus ihrem jungen Leben zu scheiden, so aussichtsvoll er auch in dasselbe eingetreten war? Aber waren seine Aussichten gute?
Endlich erreichte er sein Hotel, unzufrieden mit sich, doch vollkommen glücklich. Der Clerk gab ihm im Vorbeigehen einen geschäftsmäßig aussehenden Brief. Ohne ihn zu öffnen ging er auf sein Zimmer, und warf sich in einen Stuhl am Fenster und versuchte zu denken. Aber die Atmosphäre erinnerte ihn an die sonderbare Gabe, die er am Tage vorher auf seinem Bett gefunden hatte. Nun fühlte er, daß sie von ihr sein mußte. Aber wie war sie hierher gekommen? Vielleicht hatte sie Mrs. Barker besucht! Er rief sich die Thatsachen ins Gedächtnis zurück, daß er Mrs. Barker nach jenem Zwischenfall mit der offenen Thür allein in das Hotel hatte eintreten sehen, während er über das Geländer geneigt war. Sie war damals allein gewesen und hatte seine Stimme erkannt, er hatte es nur nicht gewußt. In plötzlicher Erregung nahm er den Brief und öffnete ihn. Er enthielt nur die drei Zeilen:
»Ich hörte Ihre Stimme heute zum drittenmal. Ich wünsche sie wieder zu hören. Ich werde mit der Dämmerung kommen. Gehen Sie nicht vorher aus.«
Er saß betäubt. War es Tollheit, Frechheit oder ein Trick? Er läutete dem Kellner. Der Brief war durch einen Knaben aus dem Konfektionsgeschäft an der Ecke gebracht worden. Er erinnerte sich des Ladens aus alter Zeit, die jungen Damen aus dem Kloster kauften dort. Nichts war leichter, als einen Brief in dieser Weise zu befördern.
War er der lächerliche Gefährte eines Schulmädchens oder das Opfer eines infamen Komplotts einer Räuberbande? Er konnte beides nicht glauben, doch konnte er ebensowenig einen Rückschlag in den Gefühlen für sie verhindern, was ihm noch einen Augenblick vorher unmöglich erschienen war.
Was aber auch immer ihr Zweck war, er mußte ihr Kommen abwarten. Ihr Besuch war entweder der Gipfel ihrer Narrheit oder der Erfolg eines Komplotts. Eben weil er sich vollkommen der Wirkung der Gefahr von ihr bewußt, gerade, weil er auf ihre unerwartete Kühnheit erbittert war, war er ungewöhnlich erregt darüber, daß sie seiner Hilfe bedürfe.
Sie durfte nicht kommen.
Aber wie sollte er dies verhindern? Es fehlte noch eine Stunde an der Dämmerung. Ins Kloster durfte er zu dieser ungewöhnlichen Zeit nicht gehen, wie konnte er sich sonst mit ihr in Verbindung setzen? Er konnte sie auf dem Wege zu treffen suchen und sie zur Rückkehr veranlassen, aber vom Eintritt ins Hotel mußte er sie abhalten.
Er setzte seinen Hut auf und ging hinunter. Aber hier fiel ihm eine andere Schwierigkeit ein. Es war leicht, die gewöhnliche Straße zu wählen, aber würde sie dasselbe thun? Konnte sie nicht die Prozession heute morgen verlassen und bis zum Eintritt der Dunkelheit gewartet haben? Er beschloß, die Stunde in der Nähe des Hotels spazieren zu gehen und sie vom Eintritt abzuhalten. Er schleuderte vor den Fenstern auf und ab, beobachtete aber unausgesetzt die Straße.
Die Schatten wurden schon länger, als er eine schlanke geschmeidige Gestalt im Konfektionsgeschäft erscheinen sah. In seiner übergroßen Vorsicht hatte er diese Stelle für ein Zusammentreffen ganz und gar vergessen. Er eilte näher und trat ein, aber sie war nicht dort. Im Erfrischungssalon saß eine Dame, die wohl die zuletzt eingetretene sein mochte, aber die Gesuchte war nicht zu finden. Er eilte wieder auf die Straße, er hatte einen kostbaren Augenblick verloren, die Sonne war untergegangen. Ein Blick auf seine Uhr überzeugte ihn, daß das Angelus schon geläutet war und die Schatten die Alameda bedeckten. Sie war nicht gekommen.
Vielleicht hatte sie sich besonnen, vielleicht war das Ganze nur ein Streich übermütiger Mädchen gewesen, die nun hinter einem Fenster über den Gefoppten lachten. In demselben Maße, als er die Gewißheit erlangte, daß sie nicht gekommen war, verfinsterten sich seine Gedanken, und als er endlich das Hotel wieder betrat, war er in der denkbar schlechtesten Stimmung.
Der Hausknecht lief ihm eilig nach.
»Schwester Serafine vom ›Heiligen Herzen‹ war hier, um Sie in einer Sache von höchster Wichtigkeit zu sprechen,« sagte er und sah dabei Key merkwürdig an. »Sie wollte nicht im allgemeinen Zimmer warten, da sie sagte, ihr Auftrag sei geheim, deshalb führte ich sie in Ihr Privatzimmer.«
Key fühlte, wie das Blut aus seinen Wangen entwich. Das Geheimnis war trotz aller Vorsicht verraten. Die Aebtissin hatte entweder die Flucht des Mädchens bemerkt oder ihre Absicht erraten. Eine der Schwestern war hier, um ihn davon zu unterrichten und einem offenen Skandal zuvorzukommen. Schnell eilte er hinauf in der Absicht, alles für des Mädchens Sicherheit zu thun, und sich selbst anzuklagen.
Sie stand im Zimmer am Fenster. Das Licht fiel auf das einfache Sergekleid mit seiner weißen Einfassung, auf das große Kruzifix, das bis auf die Kniee herunterhing und auf die weißgeflügelte Haube. Sein Haupt neigte sich in knabenhafter Verehrung, als sie einen kurzen Segensspruch murmelte und die Thür schloß, die er hatte offen stehen lassen.
Dann mit einer schnellen Bewegung, so, daß er ihr kaum folgen konnte, hatte sie Haube, Schleier, Rosenkranz und Kruzifix abgeworfen – das junge Mädchen aus dem Kloster stand vor ihm.
Key fand sie hübscher als am Morgen, dennoch sagte er schnell:
»Das ist thöricht! Sie hätten verfolgt und in diesem Kostüm entdeckt werden können!« Trotzdem nahm er die beiden kleinen Hände und drückte sie fest und mit größerer Vertraulichkeit, als er noch einen Augenblick vorher gedacht hatte.
»Aber ich wurde doch nicht!« sagte sie einfach. »Ich wohne mit Schwester Serafine in demselben Zimmer, sie schläft immer schon zwei Stunden nach dem Angelus, deshalb bin ich, ohne daß jemand mich kennt, in ihren Kleidern ausgegangen. Ich sehe, was es ist,« sagte sie plötzlich mit einem schnellen Blick auf ihn, »Sie mögen mich in diesem Kleid nicht leiden, aber es war der einzige Weg, um fort zu kommen.«
»Sie mißverstehen mich,« sagte er ärgerlich. »Ich liebe es nicht, daß Sie sich in diese Gefahr begeben für –« Er wollte sagen »mich«, fügte aber in plötzlichem Entschluß hinzu »für nichts«. »Hätte ich nur ahnen können, daß Sie mich zu sehen wünschten, so hätte ich schon einen andern Weg gefunden. Jeder Augenblick, den Sie noch länger hier bleiben, ist schlimm, jede Minute, die Sie vom Kloster abwesend sind, kann Ihnen Gefahr bringen. Daran haben Sie nicht gedacht.«
»Gewiß dachte ich daran,« sagte sie ruhig. »Ich dachte daran, dann aber auch wieder glaubte ich, daß Sie mich, falls Schwester Serafine meine Flucht entdeckte, mit sich nehmen würden in jene kleine Höhle am Hügel, wo ich zuerst Ihre Stimme hörte. Erinnern Sie sich daran? Das war das erstemal. Das zweitemal hörte ich Sie, hier in der Halle. Ich war allein in dem andern Zimmer, denn Mrs. Barker war ausgegangen. Ich wußte nicht, daß Sie hier seien, aber ich erkannte Ihre Stimme. Das drittemal war vor dem Klosterthor, und da wußte ich, daß Sie mich erkannt hatten. Von diesem Augenblick an dachte ich an nichts anderes, als zu Ihnen zu kommen, denn ich wußte, daß Sie mich zurückbringen würden zu meinem Bruder, wenn jemand mich entdecken sollte. Vielleicht hätten Sie auch meinem Bruder Nachricht gegeben, wo wir seien, und dann –« Sie hielt plötzlich inne und sah in Keys erhitztes Gesicht. Auch ihr Antlitz wurde rot, die Freude wich aus ihren Augen, und sie zog ihre Hände aus den seinen.
»Hören Sie zu,« sagte Key geduldig. »Ich denke nur an Sie. Ich will Sie vor Beschämung bewahren. Noch ist es Zeit. Ich will sofort mit Ihnen zum Kloster zurückkehren. Sie sollen mir alles, und ich will Ihnen auf dem Wege alles erzählen.«
Sie hatte ihr Kostüm schon in Ordnung gebracht und band nun den Schleier vors Gesicht. Mit der Vervollständigung ihres Anzuges schien sie auch die Fröhlichkeit der Jugend abgelegt zu haben, denn sie ging ernst zur Thür. Schweigend gingen sie die Treppe hinab. Diejenigen, die sie sahen, machten mit einer ehrerbietigen Verbeugung Platz.
Als sie auf der Straße waren, sagte sie sanft:
»Geben Sie mir nicht Ihren Arm – Schwestern thun das nicht.« An der Straßenecke sagte sie: »Dies ist der kürzeste Weg!«
Nun war es Key, der zurückhaltend und ungeschickt war. Das Feuer und die Leidenschaft, die er noch einen Augenblick vorher gefühlt hatte, waren verschwunden. Er sagte endlich gedrückt: »Wie lange wohnten Sie in der Höhle?«
»Nur zwei Tage. Mein Bruder brachte mich hierher zur Schule, aber in der Postkutsche war jemand, mit dem er Streit gehabt hatte und infolgedessen nicht zusammentreffen wollte. So stiegen wir bei Skinner aus und kamen in die Höhle, wo die alten Freunde Mr. und Mrs. Barker wohnten.« In ihrer Stimme war keinerlei Aufregung zu bemerken.
»Und Ihr Bruder? Lebten Sie bei ihm?«
»Nein. Ich ging in Marysville zur Schule, bis er mich fortnahm. Ich sah während der letzten zwei Jahre wenig von ihm, da er Geschäfte im Gebirge hatte, wohin er mich nicht mitnehmen konnte. Ich glaube, er hatte etwas mit dem Vieh zu thun, denn er hatte oft ein anderes Pferd. Ich war immer allein, denn ich habe keine anderen Verwandten, auch keine Freunde. Ich sah niemanden, den ich gern hatte, ausgenommen Sie, und bis gestern hörte ich Sie auch nur.«
Ihre vollständige Naivetät erfüllte ihn mit Schmerz und Zweifel. In seiner Tölpelhaftigkeit wurde er roh.
»Ja, aber Sie müssen hier doch andere Männer getroffen haben, wenn Sie mit Ihren Mitschülerinnen ausgingen oder vielleicht auf ein Abenteuer wie dies!«
Ihr weißes Häubchen wandte sich ihm schnell zu. »Ich wünschte nie jemand anders zu kennen. Ich wünschte nie jemand anders zu sehen. Nie wäre ich diesen Weg gegangen, wenn nicht für Sie!« fügte sie schnell hinzu. Nach einer Pause sagte Key mit angenommener Heiterkeit: »Aber waren Sie auch sicher, meine Stimme zu kennen? Es waren in jener Nacht noch zwei andere Männer mit mir in der Höhle.«
»Ich weiß auch das. Aber ich wußte sogar, was Sie sagten. Sie warnten den andern, ein brennendes Streichholz in das trockene Gras zu werfen. Sie dachten an uns. Ich weiß es.«
»An uns?« sagte Key schnell.
»An Mrs. Barker und mich. Wir waren allein im Hause, denn mein Bruder und ihr Mann waren beide ausgegangen. Was Sie sagten, schien mich zu warnen, und ich sagte es ihr. Deshalb waren wir vorbereitet, als das Feuer näher kam, wir entflohen beide auf demselben Pferd.«
»Und Sie verloren auf Ihrer Flucht Ihre Pantoffeln,« sagte Key lachend, »ich nahm sie auf, als ich am anderen Tag kam, um nach Ihnen zu sehen. Ich habe sie noch.«
»Das waren ihre Schuhe,« sagte das Mädchen. »Ich konnte die meinigen in der Eile nicht finden, ihre waren zu groß, deshalb verlor ich sie.« Sie schwieg und sagte dann mit der alten Freundlichkeit: »Dann kamen Sie zurück?«
»Ich würde geblieben sein, aber wir bekamen keine Antwort, als wir riefen. Weshalb nicht?«
»O, uns war verboten, mit Fremden zu sprechen, oder jemanden zu sehen, weil wir allein waren,« sagte das Mädchen einfach.
»Aber warum?« warf Key ein.
»Weil da so viele Pferderäuber in den Wäldern sind. Sie hatten schon mehrfach die Postkutsche überfallen. Auch noch einen oder zwei Tage vorher, ehe Mrs. Barker hier ankam.«
Key unterdrückte mit Mühe einen Fluch. Einige Augenblicke gingen sie schweigend weiter, er wagte kaum seine Augen zu ihr aufzuschlagen.
»Ich muß Ihnen ein Bekenntnis ablegen. Miß Rivers,« begann er endlich mit der angstvollen Eile eines gescholtenen Knaben, »das ist –« er stotterte mit einem halben Lachen, »das heißt – ein Bekenntnis, als ob Sie eine Schwester oder ein Priester wären – eine Art Vertrauen zu Ihnen, zu Ihrer Kleidung. Ich habe Sie gesehen, oder glaubte Sie vor mir zu haben. Dies brachte mich hierher, dies ließ mich Mrs. Barker folgen, bis an die Thür des Klosters. In jener Nacht sah ich in der Höhle am Fenster ein Profil, welches wie ich glaube das Ihrige war.«
»Ich war nie am Fenster,« sagte das junge Mädchen rasch, »es muß Mrs. Barker gewesen sein.«
»Nun weiß ich es, aber ich glaubte. Sie wären es gewesen,« entgegnete Key, »und es war meine Absicht, Sie zu suchen.«
»Ich weiß nicht, wie es kommt, daß Sie an jemanden denken, den Sie nie sahen,« entgegnete sie mit einem leichten Zittern in ihrer Stimme. »Aber,« fügte sie hinzu, »die meisten Profile sehen gleich aus.«
»Es war das nicht,« protestierte Key, noch unentschlossen, »es war, als ob ich etwas bemerkte, vielleicht nur ein Traum.«
Sie erwiderte nichts, und beide setzten ihren Weg still fort. Die graue Klostermauer ward schon sichtbar. Key fühlte, daß er nichts erreicht habe, er war dem jungen Mädchen keinen Schritt näher gekommen, und seine Zukunft lag ebenso düster vor ihm wie sonst. Hatte er überhaupt weise gehandelt? Aber er wurde in seinen Betrachtungen unterbrochen.
»Dann war es Mrs. Barkers Profil, das Sie hierherbrachte?« sagte sie. »Sie wissen, daß sie zurückfuhr. Ich vermute, daß Sie ihr folgen werden.«
»Sie verstehen mich nicht!« sagte Key enttäuscht. »Aber,« fügte er leiser hinzu, »ich werde solange hier bleiben, wie Sie bleiben.«
Er ging etwas näher an ihre Seite.
»Dann dürfen Sie nicht mehr so nahe neben mir gehen,« sagte sie, sich leicht abwendend, »es kann vom Thor aus gesehen werden. Dann dürfen Sie auch nicht bis an jene Ecke mit mir gehen. Wenn ich schon vermißt wurde, werden Sie entdeckt.«
»Aber wie soll ich wissen?« sagte er, indem er versuchte ihre Hand zu ergreifen. »Lassen Sie mich bis zum Thor mitgehen. Ich kann Sie nicht in dieser Ungewißheit verlassen.«
»Sie werden es bald genug wissen,« sagte sie ernst und entzog ihm ihre Hand. »Sie dürfen nicht weiter mit mir gehen. Gute Nacht.«
Sie stand an der Ecke der Mauer still. Er streckte wieder seine Hand aus, und langsam legte sie ihre zarten Finger hinein.
»Gute Nacht, Miß Rivers!«
»Halt!« sagte sie plötzlich, den Schleier zurückschlagend und ihre blauen Augen zu ihm erhebend. »Sie dürfen das nicht sagen, es ist nicht die Wahrheit. Ich kann es nicht ertragen, diesen Namen von Ihren Lippen, in Ihrer Stimme zu hören. Mein Name ist nicht Rivers!«
»Nicht Rivers? – Weshalb?« fragte Key erstaunt.
»Ich weiß nicht, weshalb!« entgegnete sie, »mein Bruder wünschte, daß ich unsern Namen hier nicht gebrauche und ich gehorchte. Mein Name ist Riggs. Aber dies ist ein Geheimnis, das Sie nicht verraten dürfen. Ich kann es nicht ertragen, daß Sie eine Lüge sagen!«
»Gute Nacht, Miß Riggs!« sagte Key traurig.
»Nein, auch das nicht!« sagte sie sanft, »sagen Sie Alice.«
»Gute Nacht, Alice!«
Sie ging und erreichte das Thor. Einen Augenblick stand sie vor demselben, dann war sie verschwunden.
Vergessen war bei Key alle Vorsicht, er ging vorwärts und erreichte das Thor. Kein Laut war zu hören. Sie war in Sicherheit.