Die Idylle von Red Gulch

Bret Harte

Sandy war sehr betrunken. Er lag unter einem Azalea-Busch ziemlich in derselben Lage, in die er vor einigen Stunden gefallen war. Wie lange er gelegen, konnte er nicht sagen, und kümmerte ihn auch nicht; wie lange er da liegen bleiben sollte, war eine ebenso unentschiedene und ihm gleichgültige Sache. Eine ruhige Philosophie, aus seiner physischen Beschaffenheit geboren, durchdrang und sättigte sein moralisches Wesen.

Der Anblick eines betrunknen Mannes und dieses betrunknen Mannes insbesondere war, wie ich mit Bedauern sage, in Red Gulch nicht von hinreichender Neuheit, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Früher am Tage hatte irgend ein Localsatiriker einen temporären Grabstein bei Sandys Kopf aufgerichtet, der die Inschrift trug: »Wirkungen von Mac Corkles’ Whiskey – tödtet auf fünfzig Ruthen hin«, und neben dem eine Hand nach Mac Corkles’ Salon hinwies. Aber das war, denke ich, wie die meiste Localsatire, persönlich gemeint und mehr eine Betrachtung der Unbilligkeit des Verfahrens als ein Commentar zu der Unschicklichkeit des Ergebnisses. Abgesehen von dieser scherzhaften Ausnahme war Sandy ungestört geblieben. Ein herumstreifendes Maulthier, seines Packes entledigt, hatte das spärliche Gras und Kraut neben ihm abgeknabbert und neugierig an dem langhingestreckten Manne herumgeschnüffelt. Ein herumstrolchender Hund hatte mit jener tiefen Sympathie, welche diese Thiergattung für Betrunkene empfindet, seine staubigen Stiefeln abgeleckt und sich an seinen Füßen zusammengelegt, und lag jetzt da, indem er mit dem einen Auge im Sonnenlichte zwinkerte und sich in einer Weise wie ein Bruder Liederlich geberdete, die mit der in ihr liegenden Schmeichelei für den bewußtlosen Mann daneben gescheidt und hundemäßig war.

Inzwischen hatten die Schatten der Fichtenbäume sich langsam auf die andere Seite geschwungen, bis sie quer über die Straße fielen und ihre Stämme die freiliegende Wiese mit riesigen Parallellinien von Schwarz und Gelb versperrten. Kleine Wölkchen rothen Staubes, durch die in den Straßenstaub tappenden Hufe von Zugthieren aufgewühlt, zerplatzten in einen schmutzigen Regen über dem hingelagerten Manne. Die Sonne sank tiefer und tiefer, und noch immer regte Sandy sich nicht. Und dann wurde die Ruhe dieses Philosophen gestört, wie andere Philosophen in ihrer Ruhe gestört worden sind, durch die Eindrängelung eines unphilosophischen Geschlechts nämlich.

»Fräulein Mary«, wie sie der kleinen Heerde bekannt war, welche sie soeben aus dem Block-Schulhause jenseits der Fichten entlassen hatte, machte ihren Nachmittagsspaziergang. Indem sie eine ungewöhnlich schöne Gruppe von Blüthen an dem Azalea-Busch gegenüber bemerkte, ging sie über die Straße, um sie zu pflücken, wobei sie vorsichtig ihren Weg durch den rothen Staub suchte, nicht ohne gewisse heftige kleine Schauer von Ekel und einige kätzchenhafte Umschweife. Und da stieß sie plötzlich auf Sandy!

Natürlich stieß sie den kleinen Staccato-Schrei ihres Geschlechtes aus. Aber als sie ihrer physischen Schwäche diesen Tribut bezahlt, wurde sie überkühn und machte – wenigstens sechs Fuß von diesem hingestürzten Ungeheuer – Halt, indem sie, ihre weißen Rockschweife in der Hand zusammengefaßt, bereit zur Flucht war. Aber aus dem Busch kam weder ein Geräusch noch eine Bewegung. Mit dem einen Füßchen stieß sie dann das satirische Kopfbret um und murmelte »Viehkerls«! eine Bezeichnung, welche wahrscheinlich in diesem Augenblicke ihrer Meinung nach die gesammte männliche Bevölkerung von Red Gulch passend classificirte. Denn Fräulein Mary, die ihre eignen strengen Vorstellungen besaß, hatte vielleicht die demonstrative Galanterie noch nicht gebührend schätzen gelernt, die an dem Californier mit so viel Recht von seinen californischen Landsleuten gerühmt worden ist, und als Neuangekommne vielleicht billig sich in den Ruf gebracht, »zugeknöpft« zu sein.

Als sie so da stand, bemerkte sie auch, daß die schrägen Sonnenstrahlen Sandys Kopf zu einer ihres Bedünkens ungesunden Temperatur erhitzten, und daß sein Hut nutzlos an seiner Seite lag. Ihn aufzulesen und ihn über sein Gesicht zu decken, war ein Werk, welches einigen Muth erforderte, besonders da seine Augen offen standen. Sie that es jedoch und machte sich glücklich davon. Aber sie war etwas betroffen, als sie sich umblickte und sah, daß der Hut weggeschoben war, und daß Sandy sich aufsetzte und etwas sagte.

Die Wahrheit war, daß in den ruhigen Tiefen von Sandys Gemüth er überzeugt war, daß die Strahlen der Sonne wohlthätig und gesundheitfördernd seien, daß er von Kindesbeinen an es verschmäht, sich mit einem Hute niederzulegen, daß kein Mensch, ausgenommen verdammte Narren, an denen Hopf und Malz verloren, jemals einen Hut trüge, und daß sein Recht, sich nach Belieben von ihm zu dispensiren, unveräußerlich sei. So behauptete sein innerer Mensch. Unglücklicherweise war der äußere Ausdruck dieser Ueberzeugung vag, indem er sich auf die Wiederholung folgender Formel beschränkte: »So’schein mir gerad recht! Was los, he? Was giebt’s, So’schein?«

Fräulein Mary blieb stehen, und indem sie aus dem Vortheil der Entfernung neuen Muth schöpfte, fragte sie ihn, ob er irgend etwas bedürfte.

»Was los? Was giebt’s?« fuhr Sandy in hohem Tone fort.

»Stehen Sie auf, Sie greulicher Mensch!« sagte Fräulein Mary, jetzt ganz zornentbrannt, »stehen Sie auf und gehen Sie heim.«

Sandy erhob sich murmelnd auf seine Füße. Er war sechs Fuß lang, und Fräulein Mary zitterte. Er that hastig ein paar Schritte vorwärts und hielt dann inne.

»Warum soll ich heim gehen?« fragte er plötzlich mit großer Gravität.

»Gehen Sie und nehmen Sie ein Bad,« antwortete Fräulein Mary, indem sie seine schmutzige Gestalt mit höchst mißfälligen Augen maß.

Zu ihrem unendlichen Schrecken zog Sandy augenblicklich seinen Rock und seine Weste aus, warf sie auf den Boden, schleuderte seine Stiefeln von den Füßen und stürzte sich, indem er wie toll bergab sprang, kopfüber nach dem Flusse hinunter.

»Gott im Himmel! – der Mensch wird ertrinken!« sagte Fräulein Mary, und dann lief sie mit weiblicher Inconsequenz nach dem Schulhause zurück und riegelte sich ein.

Diese Nacht kam Fräulein Mary, als sie bei ihrer Wirthin, der Frau des Grobschmieds, beim Abendessen saß, der Gedanke, schüchtern zu fragen, ob ihr Mann sich manchmal betränke. »Abner,« erwiderte Mrs. Stidger nachsinnend, »lassen Sie uns ‘mal sehen. Abner ist seit der letzten Wahl nicht grau gewesen.« Fräulein Mary hätte gern gefragt, ob er es bei solchen Gelegenheiten vorzöge, im Sonnenschein zu liegen, und ob ein kaltes Bad ihm geschadet haben würde. Aber das würde eine Erklärung erfordert haben, die sie nicht geben mochte. So begnügte sie sich, ihre grauen Augen weit geöffnet auf die rothwangige Mrs. Stidger – ein stattliches Exemplar südwestlicher Blüthe – zu richten, und ließ dann den Gegenstand gänzlich fallen.

Am nächsten Tage schrieb sie an ihre liebste Freundin zu Boston: »Ich glaube, ich finde, daß gegen die benebelte Hälfte dieser Gemeinde am wenigsten einzuwenden ist. Ich meine damit natürlich die Männer, meine Liebe. Ich weiß nichts, was die Weiber erträglich machen könnte.«

In weniger als einer Woche hatte Fräulein Mary diesen Vorfall vergessen, ausgenommen, daß ihre Nachmittagspaziergänge nach demselben schier ohne ihr Wissen eine andere Richtung nahmen. Sie bemerkte indeß, daß jeden Morgen ein frischer Strauß von Azaleablüthen unter den Blumen auf ihrem Pulte erschien. Das war nichts Wunderbares, da ihre kleine Heerde ihre Liebhaberei für Blumen kannte und Tag für Tag ihr Pult einen bunten Schmuck von Anemonen, Fliederblüthen und Lupinen erhielt; aber als sie sich bei ihnen erkundigte, bekannten sie alle ihre Unwissenheit hinsichtlich der Azaleen.

Ein paar Tage nachher verfiel Musje Johnny Stidger, dessen Schreibepult dem Fenster am nächsten stand, plötzlich in Krämpfe eines offenbar unwillkürlichen Lachens, welche die Schulzucht bedrohten. Alles, was Fräulein Mary aus ihm herauskriegen konnte, war, daß jemand gekommen wäre und durchs Fenster geguckt hätte. Voll Zorn und Entrüstung stürzte sie aus ihrem Bienenkorbe hinaus, um dem Eindringling eine Schlacht zu liefern. Als sie um die Ecke des Schulhauses bog, stieß sie – patsch – auf den weiland Trunkenbold, der jetzt aber vollkommen nüchtern war und unaussprechlich einfältig und schuldbeladen aussah.

Fräulein Mary stand in ihrer jetzigen Laune nicht an, sich diese Thatsachen nach Frauenart zu Nutze zu machen. Aber es brachte Einen etwas in Verwirrung, wenn man zugleich bemerkte, daß der »Viehkerl« trotz einiger schwacher Zeichen vergangnen Schwelgens liebenswürdig aussah – in der That, wie ein blonder Simson, dessen maisfarbner, seidenweicher Bart offenbar noch nie die Berührung des Scheermessers eines Barbiers oder der Scheere einer Delila erfahren hatte. So erstarb die schneidende Rede, die auf ihrer kampfbereiten Zunge bebte, ihr auf den Lippen, und sie begnügte sich damit, die Entschuldigung, die er stammelte, mit hohen Augenbrauen und zusammengehaltnen Röcken, wie wenn sie sich gegen Befleckung schützen wollte, aufzunehmen. Als sie wieder in die Schulstube trat, fielen ihre Augen auf die Azaleen mit einem neuen Gefühl für die in ihnen liegende Bedeutung. Und dann lachte sie, und das kleine Volk lachte, und sie waren alle sehr glücklich, ohne zu wissen, warum.

Es begab sich an einem heißen Tage, – nicht lange nach diesem Vorfall – daß zwei kurzbeinige Knaben auf der Schwelle der Schule mit einem Kruge voll Wasser Unglück hatten, den sie mühsam von der Quelle geholt hatten, und daß Fräulein Mary mitleidig den Krug nahm und selbst nach der Quelle aufbrach. Am Fuße des Hügels fiel ein Schatten quer über den Pfad, und ein Arm, den ein blaues Hemd bedeckte, entledigte sie geschickt, aber sanft ihrer Bürde.

Fräulein Mary war verlegen und ärgerlich. »Wenn Sie sich selber mehr hiervon zutrügen,« sagte sie höhnisch zu dem blauen Arme, ohne daß sie geruhte, die Augenlider zu seinem Besitzer zu erheben, »so würden Sie besser thun.« Da hierauf unterwürfiges Schweigen folgte, bedauerte sie diese Rede und dankte ihm so holdselig an der Thür, daß er stolperte, was die Kinder wieder zum Lachen veranlaßte – ein Lachen, dem sich Fräulein Mary anschloß, bis ihr eine schwache Röthe in die bleichen Wangen stieg. Den nächsten Tag wurde geheimnißvoll ein Faß neben die Thür gestellt und dann, ebenso geheimnißvoll, jeden Morgen mit frischem Quellwasser gefüllt.

Auch erfreute sich diese vortreffliche junge Person anderer stiller Aufmerksamkeiten. Der »gottlose Bill«, Postillon der Slumgullion-Kutsche, in den Zeitungen weithin bekannt wegen seiner »Galanterie«, mit der er dem schönen Geschlecht ohne Ausnahme den Sitz auf dem Bocke anbot, hatte Fräulein Mary von dieser Aufmerksamkeit aus dem Grunde ausgenommen, weil er die Gewohnheit hatte, »das Fuhrwerk bergauf zu fluchen«, und überließ ihr die halbe Kutsche zu eignem Gebrauch. Jack Hamlin, ein Spieler, der einmal schweigend mit ihr in derselben Kutsche gefahren war, warf später einem Spielbruder eine Karaffe an den Kopf, weil er ihren Namen in einer Schenkstube erwähnt hatte. Die überladen geputzte Mutter eines Schülers, dessen Herkunft von Vaters Seite zweifelhaft war, hatte sich oft in der Nähe des Tempels der scharfblickenden Vestalin aufgehalten, ohne jemals den Eintritt in dessen geheiligten Umkreis zu wagen, sondern war zufrieden, die Priesterin von ferne zu verehren.

Mit solchen unbewußten Unterbrechungen zog die eintönige Procession von blauen Himmeln, glänzenden Sonnenblicken, kurzen Dämmerungen und sternhellen Nächten über Red Gulch hin. Fräulein Mary fand allmählig Gefallen an Spaziergängen in den ruhigen und saubern Wäldern. Vielleicht glaubte sie mit Frau Stidger, daß die balsamischen Düfte der Föhren »ihrer Brust gut thäten«; denn sicherlich war jetzt ihr leichter Husten weniger häufig und ihr Schritt fester. Vielleicht hatte sie die nie endende Lection gelernt, welche die geduldigen Fichten nie müde werden, achtsamen und unachtsamen Ohren zu wiederholen. Und so veranstaltete sie eines Tages ein Picnick auf dem Kastanienhügel und nahm die Kinder mit. Entfernt von der staubigen Straße, den zerstreuten Hütten, den gelben Gräben, dem Lärm nie ruhender Maschinen, dem wohlfeilen Prunk von Schaufenstern, dem tieferen Glanz von Farbe und buntem Glase und der dünnen Lackirung, welche die Barbarei in solchen Orten überzieht, – wie unendlich erleichtert fühlten sie sich! Nachdem der letzte Haufen von Felsbrocken und Thonerde passirt, die letzte unbedeutende Spalte überschritten war – wie öffneten da die wartenden Wälder ihre langen Glieder, um sie zu empfangen! Wie warfen die Kinder – vielleicht weil sie der Brust der gütigen Mutter noch nicht zu weit entwachsen waren – sich, das Gesicht abwärts gekehrt, mit ungekünstelten Schmeicheleien an ihren braunen Busen und erfüllten die Luft mit ihrem Lachen, und wie vergaß Fräulein Mary selbst, so kätzchensauber und hochmüthig sie in die Reinheit ihrer fleckenlosen Ueberröcke, Kragen und Manschetten verschanzt war, Alles und lief wie eine Haubenwachtel an der Spitze ihrer Küchlein, bis sie schäkernd, lachend, keuchend, mit einer losgegangnen Flechte ihres braunen Haares und einem Hut, der ihr an einem zusammengeknüpften Bande vom Halse herabhing, plötzlich und heftig im Herzen des Waldes auf – den unglückseligen Sandy stieß.

Die Erklärungen, die Entschuldigungen und die nicht allzu kluge Unterhaltung, welche folgten, brauchen hier nicht angegeben zu werden. Es wollte indeß scheinen, als ob Fräulein Mary schon eine gewisse Bekanntschaft mit diesem Extrunkenbold geschlossen hätte. Genug, daß er bald als einer von der Gesellschaft angenommen wurde, daß die Kinder mit jenem schnellen Verständniß, welches die Vorsehung dem Hülflosen verleiht, in ihm einen Freund erkannten und mit seinem blonden Backenbart und seinem langen seidenweichen Schnurrbart spielten und sich andere Freiheiten mit ihm herausnahmen, wie das Hülflose zu thun geneigt sind. Und als er an einem Baume ein Feuer zurechtgemacht und ihnen andere Geheimnisse der Kunst der Waldleute gezeigt hatte, kannte ihre Bewunderung keine Grenzen.

Nach Verlauf von zwei solchen närrischen, trägen, glücklichen Stunden, fand er sich wieder, wie er zu den Füßen der Schulmeisterin lag und ihr träumerisch ins Gesicht schaute, während sie auf dem abfallenden Berghange saß und Kränze von Lorbeer und Flieder wand, und zwar lag er fast genau in derselben Stellung wie damals, als sie sich zuerst begegneten. Auch war der Vergleich nicht sehr gezwungen. Die Schwäche einer leichtlebigen, sinnlichen Natur, die eine träumerische Aufregung in Branntwein gefunden hatte, fand jetzt, wie zu fürchten steht, einen gleichen Rausch in der Liebe.

Ich denke, daß Sandy sich dessen dunkel bewußt war. Ich weiß, daß er sich sehnte, etwas zu thun – einen Bären todtzuschlagen, einen Wilden zu scalpiren oder sich irgendwie für diese Schulmeisterin mit dem bleichen Gesicht und den grauen Augen zu opfern. Da ich ihn gern in einer heroischen Stellung zeigen möchte, so halte ich meine Hand in diesem Augenblicke mit großer Schwierigkeit zurück, indem ich von der Einführung einer solchen Episode nur durch die feste Ueberzeugung zurückgehalten werde, daß sie zu solchen Zeiten gewöhnlich nicht vorkommt. Und ich hoffe, daß meine schönste Leserin, die sich erinnert, daß in einer wirklichen Krisis immer irgend ein uninteressanter Fremder oder unromantischer Polizeimensch und nicht Adolph der Retter ist, die Auslassung verzeihen wird.

So saßen sie denn ungestört da. Ueber ihnen plapperten die Spechte, und aus der Schlucht unten schallten angenehm die Stimmen der Kinder herauf. Was sie sagten, hat nicht viel zu bedeuten. Was sie dachten, kann interessant gewesen sein, kam aber nicht zum Vorschein. Die Spechte erfuhren nur, daß Fräulein Mary eine Waise war, daß sie das Haus ihres Oheims verlassen, um nach Californien zu gehen, um Gesundheit und Unabhängigkeit zu suchen, daß Sandy auch eine Waise war, daß er, um Aufregung zu suchen, nach Californien gekommen, daß er ein tolles Leben geführt, daß er beflissen, sich zu bessern, und andere Einzelnheiten, die, vom Standpunkte eines Spechts betrachtet, unzweifelhaft als dummes Zeug und Zeitverschwendung erschienen sein müssen. Aber selbst mit solchen Kleinigkeiten wurde der Nachmittag endlich verbracht, und Sandy nahm mit einem Zartgefühl, welches die Schulmeisterin recht gut verstand, vor den ersten Häusern der Niederlassung ruhig Abschied von ihnen. Es war ihr wie der kürzeste Tag ihres mühseligen Lebens vorgekommen.

Als der lange dürre Sommer bis in seine Wurzeln hinein verdorrte, »trocknete«, um einen örtlichen Euphemismus zu gebrauchen, die Schulzeit von Red Gulch auch »ein«. Noch ein Tag, und Fräulein Mary war frei, und für eine Saison wenigstens kannte Red Gulch sie nicht mehr. Sie saß allein im Schulhause, ihre Wange ruhte in ihrer Hand, ihre Augen waren zu einer jener Träumereien geschlossen, denen sich Fräulein Mary – ich fürchte mit Gefahr für die Schulzucht – in der letzten Zeit zu überlassen die Gewohnheit hatte. Ihr Schooß war voll Moos, Farnkräuter und andere Walderinnerungen. Sie war so in Anspruch genommen von diesen Dingen und ihren eigenen Gedanken, daß ein leises Klopfen an der Thür ungehört blieb oder sich in die Erinnerung an ferne Spechte verwandelte. Als es sich zuletzt deutlicher zu erkennen gab, fuhr sie mit gerötheter Wange auf und öffnete die Thür. Auf der Schwelle stand ein Weib, deren auf Dreistigkeit und Keckheit deutende Kleidung in einem eigenthümlichen Contrast mit ihrem schüchternen, unentschlossenen Benehmen stand.

Fräulein Mary erkannte mit einem Blicke die zweifelhafte Mutter ihres namenlosen Schülers. Vielleicht war sie enttäuscht, vielleicht war sie nur hochmüthig. Aber als sie sie kühl zum Eintreten einlud, zupfte sie sich halb unbewußt ihre weißen Manschetten und den Kragen zurecht und nahm ihre keuschen Unterröcke dichter zusammen. Es geschah vielleicht aus diesem Grunde, wenn die verlegene Fremde nach einem Augenblick Zögern ihren prachtvollen Sonnenschirm aufgespannt im Staube neben der Thür ließ und sich dann am äußersten Ende einer langen Bank niedersetzte. Ihre Stimme war belegt, als sie begann:

»Ich hörte da die Leute sagen, daß Sie morgen nach der Bucht hinunterwollen, und ich konnte Sie nicht gehen lassen, ohne Ihnen zu danken für die Güte, die Sie meinem Tommy erwiesen haben.«

Fräulein Mary sagte, Tommy wäre ein guter Junge, der mehr als die dürftige Aufmerksamkeit verdient hätte, welche sie ihm zuwenden könnte.

»Dank’ Ihnen, Fräulein, dank’ Ihnen,« schrie die Fremde auf, indem sie selbst durch die Schminke hindurch erglänzte, welche Red Gulch scherzhaft ihre »Kriegsmalerei« nannte, und in ihrer Verlegenheit strebte, die lange Bank näher zu der Schulmeisterin zu zerren. »Ich danke Ihnen dafür, Fräulein! und wenn ich seine Mutter bin, so giebt es keinen süßern, liebern und bessern Jungen auf Erden als ihn. Und wenn ich, der ich das sage, auch nicht viel werth bin, so giebt es keine süße, liebere, engelhaftere Lehrerin auf der Welt, als seine.«

Fräulein Mary, die spröde hinter ihrem Pulte saß und ein Lineal geschultert hatte, öffnete über dies ihre grauen Augen weit, sagte aber nichts.

»Es paßt sich nicht für Sie, sich von Leuten meiner Art Complimente sagen zu lassen, ich weiß es,« fuhr jene hastig fort. »Es paßt sich auch nicht für mich, am hellen, lichten Tage hierherzukommen, um das zu thun. Aber ich komme, um Sie um einen Gefallen zu bitten, – nicht für mich, Fräulein – nicht für mich, sondern für den Herzensjungen.«

Ermuthigt durch einen Blick in dem Auge der jungen Schulmeisterin, fuhr sie, indem sie ihre lilabehandschuhten Hände, die Finger nach unten, zwischen ihren Knien faltete, mit leiser Stimme fort:

»Sehen Sie, Fräulein, es giebt außer mir niemanden, an den der Knabe irgend welchen Anspruch hat, und ich bin nicht die passende Person für seine Erziehung. Ich dachte einmal letztes Jahr dran, ihn nach Frisco in die Schule zu schicken, aber als sie davon sprachen, daß sie ‘ne Schullehrerin sich hierher besorgen wollten, da wartete ich, bis ich Sie sah, und dann wußte ich, ‘s war Alles richtig, und ich könnte meinen Jungen ein Bischen länger behalten. Und, o Fräulein, er ist Ihnen so sehr gut, und wenn Sie ihn hören könnten, wie er in seiner hübschen Weise von Ihnen spricht, und wenn er Sie um das bitten könnte, um was ich Sie jetzt bitte, Sie könnten es ihm nicht abschlagen.

»Es ist ganz natürlich,« fuhr sie mit einer Stimme, die seltsam zwischen Stolz und Demuth zitterte, schnell fort, – »es ist ganz natürlich, daß er sich zu Ihnen hält, Fräulein; denn sein Vater war, als ich ihn zuerst kennen lernte, ein feiner Herr – und der Knabe muß mich vergessen, früher oder später – und so gedenke ich darüber nicht zu weinen. Denn ich komme zu Ihnen mit der Bitte, meinen Tommy zu nehmen – Gott segne ihn als den besten, süßesten Jungen, der da lebt – ihn – ihn mit sich fortzunehmen.«

Sie war aufgestanden und hatte die Hand des jungen Mädchens mit der ihren ergriffen und war neben ihr auf die Knie gefallen.

»Ich habe Geld in Menge, und es gehört ganz Ihnen und ihm. Thun Sie ihn in irgend eine gute Schule, wo Sie hingehen und ihn besuchen können und ihm helfen können, daß er – daß er – seine Mutter vergißt. Thun Sie mit ihm, was Sie wollen. Das Schlimmste, was Sie ihm anthun können, wird Freundlichkeit sein gegen das gehalten, was er hier bei mir lernen wird. Nur nehmen Sie ihn aus diesem gottlosen Leben, aus diesem greulichen Orte, dieser Heimath der Schande und des Kummers hinweg. Sie wollen – ich weiß es, Sie wollen – nicht wahr? Sie wollen – Sie dürfen, Sie können nicht Nein sagen! Sie werden ihn so rein, so sanft machen, wie Sie selber sind, und wenn er erwachsen ist, so werden Sie ihm den Namen seines Vaters sagen – diesen Namen, der seit Jahren nicht über meine Lippen gegangen ist – den Namen Alexander Morton, den Sie hier Sandy nennen! Fräulein Mary – ziehen Sie Ihre Hand nicht zurück! Fräulein Mary – sprechen Sie zu mir! Sie wollen meinen Knaben nehmen? Wenden Sie Ihr Gesicht nicht von mir ab. Ich weiß, es sollte solche Leute, wie ich bin, nicht ansehen. Fräulein Mary – mein Gott, haben Sie Erbarmen! – Sie verläßt mich!«

Fräulein Mary war aufgestanden und hatte in der dichter werdenden Dämmerung sich nach dem offnen Fenster hingetastet. Sie stand da, gegen den Rahmen gelehnt, und heftete ihre Augen auf die letzten rosigen Tinten, die am westlichen Himmel hinschwanden. Es war immer noch etwas von seinem Lichte auf ihrer reinen jugendlichen Stirn, auf ihrem weißen Kragen, auf ihren gefalteten weißen Händen, aber alles das schwand langsam hinweg. Die Bittende hatte sich, immer noch auf den Knien, neben sie hingeschleppt.

»Ich weiß, es bedarf Zeit zur Ueberlegung. Ich will die ganze Nacht hier warten; aber ich kann nicht gehen, bevor Sie sprechen. Weisen Sie mich jetzt nicht zurück. Sie wollen – ich sehe es in Ihrem süßen Gesicht – solch’ einem Gesicht, wie ich’s in meinen Träumen gesehen habe. Ich sehe es in Ihren Augen, Fräulein Mary – Sie werden meinen Knaben mitnehmen!«

Der letzte rothe Strahl dehnte sich langsam höher aus, übergoß Fräulein Marys Augen mit etwas von seiner Glorie, flackerte, erblaßte und erlosch.

Die Sonne war über Red Gulch untergegangen.

Im Zwielicht und der Stille klang Fräulein Marys Stimme holdselig:

»Ich werde den Knaben nehmen. Schicken Sie mir ihn diese Nacht.«

Die glückliche Mutter drückte den Saum von Fräulein Marys Kleid an ihre Lippen. Sie würde ihr heißes Gesicht in seine jungfräulichen Falten begraben haben, aber sie wagte es nicht. Sie erhob sich auf ihre Füße.

»Weiß – dieser Mann – um Ihre Absicht?« fragte Fräulein Mary plötzlich.

»Nein, kümmert ihn auch nicht. Er hat das Kind niemals auch nur besucht, um es kennen zu lernen.«

»So gehen Sie sogleich zu ihm – heut Abend noch – jetzt! Sagen Sie ihm, was Sie gethan haben. Sagen Sie ihm, daß ich dieses Kind zu mir genommen habe – und sagen Sie ihm – daß er – niemals – das Kind wiedersehen darf. Wo immer es auch sei, er darf nicht hinkommen, wohin ich’s auch mitnehme, er darf nicht nachfolgen! Na, jetzt gehen Sie, bitte, – ich bin müde, und – ich habe noch viel zu thun.«

Sie gingen zusammen nach der Thür. Auf der Schwelle wandte sich das Weib um:

»Gute Nacht!«

Sie würde Fräulein Mary zu Füßen gefallen sein. Aber in demselben Augenblicke breitete das junge Mädchen ihre Arme aus, drückte das sündige Weib für einen kurzen Augenblick an ihre reine Brust und schloß und verriegelte dann die Thür.

Es geschah mit einem plötzlichen Gefühle großer Verantwortlichkeit, daß der »Gottlose Bill« am nächsten Morgen die Zügel der Slumgullion-Postkutsche in die Hände nahm; denn die Schulmeisterin war eine von seinen Passagieren. Als er auf die Landstraße hinauslenkte, hielt er plötzlich, einer lieblichen Stimme folgend, die von innen kam, seine Pferde an und wartete respectvoll, als »Tommy« auf Befehl von Fräulein Mary heraushüpfte.

»Nicht dieser Busch, Tommy, – der nächste.«

Tommy langte rasch sein neues Taschenmesser heraus, und nachdem er von einem hohen Azaleabusch einen Zweig abgeschnitten, kehrte er damit zu Miß Mary zurück.

»Alles richtig jetzt?«

»Alles richtig.«

Und der Wagenschlag der Postkutsche schloß sich hinter der Idylle von Red Gulch.