Ich wundere mich oft, weshalb die Menschen sich Märchen erzählen. Die Wirklichkeit ist das wunderlichste aller Märchen. Wie plump sind die Märchen der Märchenwelt gegenüber dem Märchen „Wirklichkeit“.
Ich, das Kind des Garda-Sees, mit dem ich verwachsen war im guten wie im bösen, sitze jetzt hier im indischen Randgebirge, in Lanauli, sitze hier seit Jahr und Tag, und fast sieht es aus, als ob ich hier meine Tage beschließen soll — entwurzelt mich nicht irgend ein Sturmwind aufs neue.
Mir ist, als ob die herbe Strenge, die einsame Größe dieser Landschaft hier rings um mich mir die Lieblichkeit meines alten Sirmione nur noch lebhafter macht. Wenn ich oben am Cap saß, über der alten Villa des Catull; wie unzählige Male habe ich dort gesessen, als Knabe schon, als Jüngling, als angehender Mann.
Ich entsinne mich deutlich, daß ich als Knabe schon gesonnen habe, nachgedacht über die Rätsel des Lebens, über die Welt, über die Frage: Woher dieses alles?
Und dieses Sehnen, wenn im Abendglühen der See dalag wie ein Saphir und die Boote orangefarbene Streifen nach sich zogen. Es war dann, als ob unsichtbare Fäden an mir zogen, ich weiß nicht wohin. Denn schöner und friedlicher konnte es ja nirgends sein. Aber es ist, als ob Schönheit und Frieden nicht dazu da wären, sie zu genießen, sondern nur dazu, ein unbestimmtes vages Sehnen nach Schönheit und Frieden in mir anzuregen.
Da saß ich denn, bis alles Licht auf dem See geschwunden war und über mir, in dieser dunklen Klarheit ein Lichtchen nach dem anderen aufflimmerte.
Schon die Natur allein sollte uns lehren, daß Reinheit das Schönste ist. Ach Reinheit, wie köstlich! Wenn ich unter diesem klaren Sternenhimmel stehe, und Sirius und Orion funkeln, so ist mir, als zöge es mich aus mir selber heraus in dieses reine Feuer, in diese himmlische Reinheit. Soll ich überhaupt schon etwas anbeten, nun weshalb denn nicht dieses! Weshalb denn ein Unsichtbares, Unhörbares, Undenkbares — kurz ein Unding hinter diesem Sternenhimmel anbeten?
Eines Tages — ich war damals bereits Arzt in Mailand, gesuchter Arzt und nur für kurze Zeit zur Erholung bei meinen Eltern — ging ich gegen Abend vom Cap nach Hause zurück. Wie gewöhnlich ging ich am Kirchlein auf der Höhe, im Olivenwäldchen vorbei. Wie gewöhnlich blieb ich vor dem offenen Fenster stehen, und schaute hinein in die dunkle Kühle des Innern. Schmucklose, weiß-getünchte Wände, ein Altar mit allerhand buntem Flitter und in der Mitte auf ihm das Kreuz mit jenem Manne daran, der eine so fragwürdige Rolle im Geistesleben der Menschheit spielen sollte.
Gottglauben hatte ich längst nicht mehr. Überhaupt scheint mir, als ob sehr, sehr wenige Menschen wirklichen Glauben hätten und daß man sich über diese Tatsache täuscht nur deshalb, weil man sich nicht die Mühe nimmt, sich ernsthaft selber zu prüfen.
Von mir persönlich weiß ich nicht, ob ich überhaupt je Glauben an Gott gehabt habe. Ich entsinne mich nur als Knabe bei heftigen Gewittern etwas wie Gottesfurcht empfunden zu haben. Aber das verlor sich, als ich dem Phänomen gedanklich Herr geworden war.
Ich hatte draußen am Cap in einem physikalischen Buche gelesen, einem jener modernen Bücher, die in mehr oder minder geistreicher Form auf rein physikalischen Gesetzen eine Weltanschauung aufzubauen versuchen und damit sich selber vor die Notwendigkeit stellen, schließlich auch mich, das denkende, selbstbewußtseinbegabte Lebewesen, den physikalischen Gesetzen einzuordnen. Heute in besserer Einsicht, lache ich über alle derartigen gelehrten und geistreichen Versuche, weil ich ihre Wertlosigkeit und Verkehrtheit kenne. Damals hingegen fühlte ich nur, daß dieses nicht der rechte Weg sein könne. Aber ich erkannte die Gründe nicht. So machten mir alle diese Hypothesen und Gedanken, die eine Welt aufbauen wollen, in welcher der, welcher sie aufbauen will, keinen Platz mehr hat, viel Not. Ich sann, ich grübelte. Es störte mir sogar den Schlaf und machte mich oft fast schwermütig. Aber wenn ich mich aufs genaueste durchforsche, so weiß ich selbst heute noch nicht, ob diese Nöte ehrliche waren, oder einem Kokettieren mit mir selber entspringend. Denn das war mir schon länger klar geworden, daß eine starke Eigenliebe den Grundzug meines Charakters bildete.
Als ich an jenem Tage, von welchem ich oben sprach, wieder durch das Fenster in die Dämmerung des Kirchleins sah, die kahlen Wände, den Altar mit seinem Flitter, das schwarze Holz mit dem gekreuzigten Manne daran, da seufzte ich unwillkürlich tief auf: „Hier ist Sicherheit, hier ist Ruhe! Hier gibt es keinen Kampf um eine Weltanschauung, kein Ringen mit Lebensrätseln. Wohl dem, der in so sicherem Schoß ruht.“
Indem hörte ich auf der anderen Seite des Kirchleins reden. Ich konnte ganz deutlich eine Männerstimme verstehen, die in langsamer und gewählter Sprache sagte:
„Für mich ist es garnicht zweifelhaft, daß die Form des Glaubens, der wir zufällig angehören, eine der rohesten ist. Wir haben in dieser Beziehung den Zeiten der Neuplatoniker gegenüber unerhörte Rückschritte gemacht. Und mir scheint, ein Halt ist hier nur deshalb eingetreten, weil ein weiteres Rückwärts überhaupt nicht mehr möglich ist.“
Schon während der letzten Worte war der Sprecher hinter der Mauer hervorgetreten und in der Richtung auf meinen Standpunkt zugekommen. Er hatte beim Sprechen fest vor sich auf den Boden gesehen, so daß er, als er aufhörte zu sprechen und hoch blickte, fast dicht vor mir stand.
Seine Worte richteten sich an eine jugendliche weibliche Person, die ebenso gesenkten Hauptes wie er selber, neben ihm ging.
Offenbar betroffen blickten beide hoch.
Der Fremde grüßte, wie es Leute wohl in plötzlicher Verlegenheit tun.
Dieses Gefühl schien der Sprecher selber zu haben; denn gleichsam, um sich mir gegenüber in eine andere Lage zu bringen, begann er ein Gespräch.
Es waren so gleichgültige Sachen, wie eben Reisende, die sich zufällig treffen, mit einander reden.
Wir gingen zusammen den schmalen Pfad zum Ort hinab, ich neben dem Alten, seine Begleiterin ein Stückchen hinter uns.
Der Alte war eine jener Persönlichkeiten, die wir „interessant“ nennen. Groß, hager, graubärtig, ein Kopf, der an Leonardo da Vinci erinnerte.
Im Gespräch stieß ich zufällig an einen der Olivenbäume, die den engen Pfad begrenzen. Mein Physik- Buch fiel zur Erde, und alle meine Notizen, auf vielen einzelnen Blättern niedergeschrieben, flogen auseinander.
Während ich eilig zusammenraffte, war die Begleiterin des Alten herangekommen und half mir im Aufsuchen.
Wir richteten uns beide gleichzeitig auf und unsere Augen trafen sich voll im gleichen Moment.
Wenn ich heute an diesen Augenblick zurückdenke, heute, wo mein Haar schon zu grauen beginnt, so erscheint er mir immer noch als der merkwürdigste meines Lebens. Wie einen Menschen ein Schlag trifft, so wußte ich: Mein Schicksal hat mich getroffen.
Seit ich dieses an mir selber erlebt hatte, gebe ich mir gar keine Mühe mehr, jene merkwürdige Umwandlung, die Paulus auf seinem Wege nach Damaskus befiel, zu „erklären“. Es gibt derartige Umwandlungen, die wie der Blitz aus heiterem Himmel den Menschen überfallen, und jeder Versuch, solche Erlebnisse aus gewissen Vorstadien herleiten zu wollen, führt zu Absurditäten. Es ist eben so und wir müssen uns fügen, ebenso wie wir uns der Tatsache fügen müssen, daß wir überhaupt da sind.
Der Alte hatte, während wir die losen Blätter aufsammelten, mein Buch vom Boden genommen und den Titel gelesen.
Wie mir schien, mit leisem Lächeln fragte er:
„Interessiert Sie dieses?“
Damit hatte das Phrasenmachen ein Ende und das Gespräch begann. Wir sprachen lebhaft, ununterbrochen; wir kamen zur Landungsbrücke, in deren Nähe das Hotel der beiden lag — sie waren auch nur auf Besuch hier — wir gingen sprechend ein Stück zurück, dann in der anderen Richtung am alten Stadtturm vorbei, die Landstraße entlang. Die Sonne ging unter; es fing an zu dunklen; schließlich bat mich der Alte, mit ihnen zusammen im Garten des Hotels das Abendessen zu nehmen.
Was wir sprachen? Ich weiß es nicht mehr genau. Ich weiß nur, daß ich mich in einem Hochgefühl befand, das mich geneigt machte, meine Ansichten in einer übertrieben scharfen, fast übermütigen Weise geltend zu machen. Ich fühlte, daß ich geistreich war und gefiel mir. In einer Art Befangenheit richtete ich meine Worte fast ausschließlich an den Alten, während ich mir doch wohl bewußt war, daß ich im Grunde genommen nur zu dem Mädchen sprach, begierig, von ihr bewundert zu werden.
In einem fielen wir beide, der Alte und ich, ganz zusammen: Das unbefriedigende der modernen Zustände, ihre Oberflächlichkeit, ja Verlogenheit: ihre Unruhe, ihre Hast, ihre Gewalt, uns uns selber zu entfremden, so daß wir schließlich den Weg zu uns selber nicht mehr zurückfinden — kurz: ihre Nichtwirklichkeit.
Der Alte setzte nun die an der Kirche oben unterbrochene Unterhaltung fort. Er bekannte sich als eifrigen Verehrer der Neu-Platoniker, insonderheit des Plotin. Dessen Satz „ta panta hen“ war für den Alten Weltanschauung und Religion in einem. Mit Geist und Gelehrsamkeit entwickelte er die Fäden, die sich in diesem Pantheismus von Indien her zu uns hinüberziehen. Er ging sogar soweit, diesen Gedanken als den eigentlichen, tiefsten Jesus-Gedanken zu erklären, wohingegen das, was wir jetzt als Christentum haben, vielmehr Paulinisches Machwerk sei. „Es ist mir ganz gleichgültig,“ meinte er im Lauf des Gesprächs, „ob Jesus bei indischen Weisen in die Schule gegangen ist. Tatsache ist, daß sein Denken zum Pantheismus hinneigt, wie ja schließlich jeder Feinfühlende von der intellektuellen Rohheit des Monotheismus sich abgestoßen fühlen muß. Sicherlich hat das Christentum einen bösen Tausch damit gemacht, daß in der christlichen Theologie nicht mehr Christus, sondern Paulus der Führende war — statt eines natürlichen Gefühlsmenschen ein finsterer Fanatiker, dessen Temperament nicht vom Herzen, sondern vom Kopf ausgeht. In seinen widersinnigen Deduktionen steckt schon die Wurzel jener späteren Scholastik, zu welcher die ursprüngliche Jesus-Lehre nie die Möglichkeit gegeben hätte.“
Ich sah bei diesen scharfen Worten zur Tochter hinüber, um mich über den Eindruck, den diese Äußerung auf sie machte, zu vergewissern.
Der Alte bemerkte es. Lächelnd sagte er:
„Sie dürfen nicht denken, daß meine Tochter über solche Reden erschrickt. Sie gehört zu den weiblichen Wesen, welche denken. Und sobald man anfängt zu denken, hat der persönliche Gott ausgespielt.“
Wieder blickte ich erwartungsvoll zu unserer Gefährtin hinüber.
Die schien die letzten Worte des Alten nicht zu hören. Sinnend sah sie über den See hin; die kräftigen Lippen schienen einander kaum zu berühren und glichen den sich öffnenden Kelchblättern einer Blume. Es war, als ob sie auf etwas aus der Unendlichkeit her lausche. Ich hatte nie ein reineres, schöneres Mädchengesicht gesehen.
Langsam, wie bei jedem Worte überlegend, sagte sie mit einer merkwürdig klaren, wohllautenden Stimme, die etwas gesangartiges hatte:
„Ich denke immer, wenn es einen Gott gäbe, so müßte auch jedes Wesen es wissen, aus sich selber wissen, und es könnte ein Zweifel überhaupt gar nicht möglich sein. Diese Möglichkeit, an Gott zu zweifeln, ist eine Tatsache, die mich immer wieder stutzig macht, über die ich gar nicht hinwegkommen kann.“
„Wie tief Sie gedacht haben!“ sagte ich mit ehrlichem Staunen.
„Ich weiß nicht, was Sie ‚tief denken‘ nennen. Meinem Gefühl nach ist es einer jener Gedanken, die so auf der Oberfläche liegen, daß allein dieses der Grund sein kann, warum alles darüber hinweggeht.“
Nicht gewöhnt, meine Gefühle zu verstecken, sah ich ihr mit so unverhohlener Bewunderung in die Augen, daß sie leicht errötete.
Mit diesem Moment schien es wie ein eisiger Reif auf unsere Unterhaltung gefallen zu sein. Das Mädchen saß verstummt da; der Alte sah plötzlich frostig und unnahbar aus. Hätte ich nicht vorher schon, im Laufe des Gespräches erfahren, daß beide gleichfalls in Mailand wohnten — sie hatten einen der kleinen, mir wohlbekannten Vororte genannt — so würde ich jetzt wohl nichts mehr erfahren haben.
Ich merkte, daß es Zeit war, mich zu verabschieden. Ich war betroffen über diesen plötzlichen Wechsel, den ich mir gar nicht erklären konnte. Denn schließlich war es doch keine Beleidigung, wenn ein Mensch in meiner Lebensstellung einem jungen Mädchen in Gegenwart ihres Vaters zeigte, daß er sie bewundere.
Als ich um die Erlaubnis bat, ihnen in Mailand meine Aufwartung machen zu dürfen, sagte das Mädchen nichts und der Alte gab seine Zustimmung mit jener kühlen Reserve, die mich, hätte es sich um eine rein konventionelle Höflichkeit gehandelt, sicher nicht bestimmt haben würde, von der Erlaubnis Gebrauch zu machen. Da ich aber, gerade herausgesagt, verliebt war wie noch nie in meinem Leben, so ließ ich mich nicht beirren und ging mit dem festen Entschluß, beide in ihrem Heim aufzusuchen.
Ich wußte nicht, wann sie abreisen wollten. Am nächsten Morgen spähte ich deshalb überall umher, ohne etwas entdecken zu können. Sie mußten schon in aller Frühe Sirmione verlassen haben.
Schon am Tage nach meiner Rückkehr nach Mailand — länger ließ mir meine Ungeduld keine Ruhe — machte ich meine Aufwartung.
Sie wohnten draußen, in einer mir wohlbekannten Vorstadt. Das Haus, nur klein, lag tief im Garten und war gegen die Straße durch eine hohe weiße Mauer abgeschlossen. Das Ganze machte einen merkwürdig stillen zurückhaltenden Eindruck, trotzdem es, im Grunde genommen, sich kaum von den Nachbarhäusern unterschied. Aber wie es Persönlichkeiten gibt, die, trotzdem sie den gleichen Rock tragen, wie andere, doch zugeknöpfter aussehen als andere, so geht es auch mit den Baulichkeiten; und die Fensterscheiben kommen mir allen Ernstes manchmal vor wie Augen, die dem Hause einen gewissen Charakter geben.
Der Alte empfing mich freundlicher als ich erwartet hatte.
Er nahm mich gleich nach der ersten Begrüßung mit in seinen Arbeitsraum.
Hier sah es aus wie bei einem mittelalterlichen Alchymisten. Tigel, Retorten, allerhand verschiedenfarbige Pulver und Flüssigkeiten standen umher. Die eine Längswand nahm die Bibliothek, die andere eine Art zoologischen Museums ein.
Im Laufe des Gespräches stellte sich heraus, daß es die Liebhaberei des Alten sei, allerhand fremde Gifte herzustellen. Er nutzte alle seine Beziehungen aufs eifrigste aus, um sich mit den nötigen Drogen oder Tieren versehen zu lassen. Nicht ohne einen gewissen Stolz deckte er einen Kasten in der Ecke des Zimmers ab, in welchem eine ziemlich kleine, aber häßlich dickköpfige Schlange träge dahingestreckt lag — eine javanische Giftschlange, deren Biß unrettbar und in kürzester Zeit töte. Der Name klang mir so fremd, daß ich ihn völlig wieder vergessen habe.
Der Alte war selbst früher Arzt gewesen, hatte aber die Praxis seit vielen Jahren aufgegeben, war lange im Orient gewesen und lebte jetzt nur seinen Privatstudien. Nach dem ganzen Eindruck, den ich von dem Hause empfing, mußte er begütert sein.
So interessant alles dieses sonst für mich gewesen wäre, heute hörte ich nur mit halbem Ohr. Von derjenigen, deretwegen ich gekommen war, ließ sich nichts weder sehen noch hören, und der Alte schien gar nicht zu wissen, daß er eine Tochter habe.
So heuchelte ich Interesse, um die Zeit hinzuziehen, auch jenen toten Punkt in der Unterhaltung zu vermeiden, der mich genötigt haben würde, mich zu verabschieden.
Endlich ertönte die Hausglocke. Der Alte horchte auf und sagte:
„Sicherlich meine Tochter. Sie wird sich freuen, Sie wiederzusehen.“
Damit ging er mir voraus in den Salon, ein ziemlich großes Zimmer, aber mit jener altmodischen Eleganz eingerichtet, die nur in bestimmter Umgebung sympathisch wirkt.
Nach einem Weilchen trat Vera — das war ihr Name — ein. Trotz der feinen Zurückhaltung, mit der sie mich begrüßte, fühlte ich, daß ich angenehm sei.
Die nun folgende Zeit ist, nach weltlichem Maßstab gemessen, fraglos die schönste meines Lebens. Denn so lange der Mensch nicht richtig denken gelernt hat, ist er ja gewohnt, „Schönstes“ nur das durch die Liebe verschönte zu nennen.
Meine Besuche wiederholten sich, wurden immer häufiger und entgegen meiner ursprünglichen Erwartung, hatte ich gar keine Schwierigkeiten Vera zu treffen, ja selbst mit ihr allein zu sein. Manchmal kam es mir vor, als ob der Alte sich absichtlich zurückzöge. Es kam mir dann freilich auch vor, als ob Vera hiernach für eine ganze Weile noch ernster wäre, als sie es für gewöhnlich schon war.
Trotz Wahrung strengster Sitte in jedem Wort, in jedem Blick, waren wir doch bald in einen Zustand von Vertraulichkeit geraten, in dem keiner dem anderen aus seiner Liebe ein Hehl machte. Und doch fühlte ich zu meinem Befremden immer wieder, daß Vera jedem direkten Annäherungsversuch auswich.
Da ich annahm, daß es eine natürliche, unüberwindliche Schüchternheit ihrerseits sei, die ich freilich bei einer geistig so hochstehenden Persönlichkeit nicht begreifen konnte, so entschloß ich mich schließlich, beim Vater um sie anzuhalten.
Zufällig war es der Charfreitags-Tag, als ich zu meinen Freunden hinausfuhr. Da ich wußte, daß beide nie zur Kirche gingen, so war ich sicher, sie gerade heute zu Hause zu treffen.
Während ich sprach, war es, als ob der Alte noch gerader und größer wurde. Jede Muskel seines verwitterten Gesichtes schien zu erstarren. Ohne mich anzusehen, den Blick fest auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, hörte er zu und als ich schwieg, sagte er mit einer Art maschinenmäßiger Ruhe:
„Mein junger Freund, es ist das bei uns nicht so, wie es sonst zwischen Vater und Tochter ist, ich meine so, daß der Vater einfach die Hand der Tochter vergeben könnte. Da müssen Sie meine Tochter selber fragen.“
Damit brach er so plötzlich ab, daß ich nichts erwidern konnte als:
„Gut, so will ich das tun.“
Als ich gleich darauf Vera gegenüberstand und ihr sagte, worum es sich handele, wurde sie totenblaß. Fast weinerlich sagte sie:
„Mein Gott, mein Gott, was soll das nur geben? Ich habe es ja kommen sehen, aber jetzt — was soll das nur geben!“
Trotz ihrer Aufregung mußte sie mein Befremden fühlen. Plötzlich sagte sie:
„Setzen Sie sich. Ich muß Ihnen das alles erzählen.“
Sie nahm mir gegenüber Platz und blickte mit eng zusammengezogenen Brauen starr vor sich auf den Boden. Nach einem Weilchen begann sie:
„Ich bin nicht die rechte Tochter. Mein Vater heiratete schon als älterer Mann meine Mutter sozusagen von der Straße weg — wegen ihrer Schönheit.
Gleich nach der Verheiratung merkte er aber, daß sie bereits ein Kind unter dem Herzen trug. Er wollte sie im ersten Zorn sofort verstoßen, ließ sich dann aber durch die inständigen Bitten meiner Mutter bewegen, sie bis nach ihrer Entbindung bei sich zu behalten. Dann wollte er selber in den Orient gehen, wo er schon vorher lange Jahre gelebt hatte, meine Mutter aber sollte in ihre Heimat zurückkehren.
Mein Vater hielt sich während dieser ganzen Zeit völlig fern von meiner Mutter. Nach der Entbindung aber mochte wohl das natürliche Mitgefühl ihn übermannt haben. Am Morgen war ich geboren. Gegen Abend, so erzählte mir später meine Mutter, trat er in das Krankenzimmer, blieb nachdenklich neben dem Bettchen stehen, in dem ich gerade lag, und spielte mit meinen zur Faust zusammengekniffenen Fingerchen.
Dabei geschah es, daß ich seine Finger umklammerte und nicht wieder los ließ.
Die Wärterin lachte laut auf vor Vergnügen und rief zur Mutter hinüber:
„Seht doch, seht doch, sie hält den Herrn fest!“
Meine Mutter lachte mit und auch mein Vater soll dabei zum ersten Mal, seit ihn der schwere Schlag mit meiner Mutter getroffen hatte, wieder gelächelt haben.
Seit dem kam er alle Tage und spielte mit mir. Vom Wegschicken meiner Mutter war keine Rede mehr. Aber nachdem ich entwöhnt war, ließ er sie einst zu sich in sein Zimmer rufen und eröffnete ihr, daß es jetzt an der Zeit für sie sei, das Haus zu verlassen, daß er aber gern mich an Kindesstatt annehmen möchte. Träte sie mich ihm bedingungslos ab, so wolle er ihr eine Summe anweisen, durch welche sie für ihr ganzes Leben sicher gestellt sein würde; außerdem solle sie die Erlaubnis haben, mich hin und wieder zu besuchen.
Da beging meine Mutter das, was mir lange Zeit hindurch ganz unbegreiflich erschienen ist: Sie gab alle ihre Mutterrechte dahin und ich wurde die Tochter meines Vaters.
Freilich muß ich zur Entschuldigung meiner Mutter sagen, daß ich gleichfalls sie leicht hingegeben habe. Von der ersten Zeit an, wo ich anfing zu denken, gehörte ich schon ganz meinem Vater. In einem Alter, in dem andere Mädchen vielleicht noch mit Puppen spielen, fing ich schon an, eigenes Interesse für seine geistigen Interessen zu haben. So entspann sich eine Seelengemeinschaft zwischen uns, wie sie zwischen Mann und Weib nicht größer sein kann. Tatsächlich fühlte ich auch schon sehr früh, daß ich hier meine Mutter ersetzen sollte und mußte. So bin ich freilich nie Kind gewesen, aber mir ist auch, als ob ich nie alt werden könnte.“
Schon im Aussprechen dieser letzten Worte schien ihr der Doppelsinn derselben zu Bewußtsein zu kommen und mich mit einem halben Lächeln ansehend, sagte sie:
„Ich meine nicht so, als ob ich früh sterben müßte, wiewohl — doch das sind Phrasen — ich will damit nur sagen: Meine stets wachen, geistigen Interessen werden mich vor dem Altwerden schützen.“
Aber plötzlich kam dieser jammervolle Zug wieder in ihr Gesicht. Mit demselben halb weinerlichen Ton begann sie:
„Was nun aber! Mein Gott, was nun! Ich bin ja mit meinem Vater verbunden enger als durch die Fessel einer Ehe. Er wird verbluten, wenn ich mich von ihm reiße.“
Ich war grausam genug, hinzuzufügen:
„Und ich fürchte, Sie selber auch.“
Sie sah mich an mit einem Blick wie ein verwundetes Reh. Erschüttert stürzte ich vor ihr auf die Kniee nieder und ergriff ihre Hand, die sie mir willenlos überließ. Als ich aber, überwältigt von Leidenschaft, sie umarmen wollte, wich sie entschlossen zurück und sagte in einem Ton, der keinen Widerspruch ertrug:
„Gehen Sie jetzt! Ich kann Ihnen nicht das Recht geben, mich zu berühren.“
So ging ich denn.
In der hierauf folgenden Zeit wurde ich von den widerstreitendsten Empfindungen hin- und hergezerrt. Mir war klar, daß ich derjenige von den Dreien war, von dem allein die Lösung des unerträglichen Zustandes ausgehen konnte. Ich fühlte wohl, wie verwerflich es war, an einem so zarten, innigen Bande zu zerren, wie es diese beiden Menschen verband. Die natürlichen Gefühle, welche die Jugend zur Jugend ziehen, verbanden mich mit Vera. Aber ich hatte zu viel erlebt, zu viel gedacht, um selbst im Stadium höchster Verliebtheit mir nicht darüber klar zu sein, daß diese Gefühle wohl einen Ersatz in ihrem Gegenstande erlaubt hätten von meiner wie von Veras Seite, daß aber die Verbindung, wie sie zwischen ihr und dem Alten bestand, unersetzbarer Natur war. Hundertmal stand ich auf dem Punkte, den Verkehr mit den beiden abzubrechen, aus ihrem Leben zu verschwinden, ebenso unmotiviert, wie ich hineingeraten war, aber ich konnte nicht.
Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß bei diesem allem am meisten der Gedanke mich quälte, ich könnte bei meinem nächsten Besuch überhaupt nicht mehr angenommen werden.
Dieser Gedanke wurde mir schließlich ganz unerträglich. Ich wollte noch einmal hingehen, mich sozusagen als Herr der Situation zeigen, wenigstens vor mir selber, und dann, vielleicht mit besserem Erfolge, wieder den Kampf gegen meine Liebe, oder besser, gegen meine Sinnlichkeit aufnehmen.
Etwa eine Woche, nachdem obiges sich ereignet hatte, fuhr ich wieder zur Villa der beiden hinaus, aber als ich in die Nähe des Hauses kam, wurde ich bei dem Gedanken, vielleicht an der Tür abgewiesen zu werden, so aufgeregt und unsicher, daß ich, ohne einen Versuch gemacht zu haben, wieder nach Hause fuhr.
Schon hieraus hätte ich mir sagen müssen, daß es mehr Eigenliebe als wirkliche Liebe war, die mich peinigte. Aber diese ganze Zeit mit ihrem Hangen und Bangen diente nur dazu, um mich in eine Art von Ingrimm gegen den Alten hineinzuleben. Es kam mir unnatürlich, unerhört vor, daß dieser alte Stamm sich dieses junge Reis aufgepfropft hatte und aus diesem Ingrimm heraus fand ich schließlich den Mut, eines Sonntags wieder an der Tür des Landhauses draußen anzuklopfen.
Zu meinem stillen Erstaunen empfing mich die Dienerin wie immer.
Nachdem ich ein kurzes Weilchen im Salon gewartet hatte, trat Vera ein.
Sie sah so rührend schön aus, daß ich am liebsten vor ihr niedergekniet wäre. Heute weiß ich, daß es die durchsichtige Blässe und Magerkeit ihres Gesichts war, die diesen anbetungswürdigen Eindruck machten. Sie mußte viel gelitten haben in diesen Wochen. Sie begann sofort:
„Wie gut ist es, daß Sie endlich kommen. Ich muß sie durchaus sprechen, mochte Ihnen aber nicht schreiben. Sehen Sie,“ fuhr sie mit einer Art verhaltener Heftigkeit fort, „es ist ja nun einmal so die Sitte, daß der Mann dem Weib die Liebe gesteht. Aber weshalb soll ein Weib, das sich reif dazu fühlt, nicht auch einmal dem Manne die Liebe gestehen! Ich fühle mich reif dazu. Sie wissen ja auch, daß ich Sie liebe. So gestehe ich denn frei: Ich liebe Sie, so daß ich, vorläufig wenigstens, nicht sehe, wie ich ohne Sie leben soll. Aber was das merkwürdige ist: Das Band zu meinem Vater ist dadurch nicht im mindesten gelockert. Ich weiß nicht, wie es möglich ist; ich kann nur sagen: Es ist so. Sie sagen: ‚So wollen wir alle drei zusammenleben.‘ Ich weiß nicht, warum nicht. Ich weiß auch hier nur, es geht nicht. Ein Ganzes läßt sich eben nicht teilen.“
Sie schwieg ein Weilchen und hielt die Lippen fest aufeinander gepreßt. Dann fuhr sie leise fort, während ihre Finger fast gewaltsam die Quaste des Sessels bearbeiteten:
„Sie sagen: ‚Wir sind jung, mein Vater ist alt.‘ Dieser unselige Gedanke ist mir auch gekommen und seitdem bin ich mein eigener Herr nicht mehr. Seit dieser Gedanke in mir geboren wurde, weiß ich, alles ist verloren, für immer verloren. Jeder Genuß, auch der reinste wäre mir vergiftet durch den Gedanken: ‚Du hast auf seinen Tod gewartet, um der Lust folgen zu können.‘ Liebster Freund, so ist es! Es gibt eben Verhältnisse, die mächtiger sind wie wir. Sie werfen uns die Schlinge über den Kopf, und wo wir entfliehen wollen, da schnüren wir uns nur ärger ein. Warum sie da sind? — Ich weiß es nicht und Sie gewiß auch nicht. Genug: sie sind eben da und wir müssen uns fügen. Ich habe mich völlig gefügt. Mein Vater weiß, daß ich ihm verloren bin, und ich weiß, daß ich mir selber verloren bin. Sie glauben nicht, wie müde der Mensch werden kann in kurzer Zeit, wenn das Gehirn Tag und Nacht mahlt wie ein Paar Mühlsteine und nichts zu verarbeiten bekommt als nur Steine und wieder Steine.“
Wie ich dieses alles mit anhören konnte, ohne ihr brennenden Herzens zu Füßen zu stürzen, ihr zu sagen: „Ich will freiwillig zurücktreten, ich kann es!“ das ist mir heute unbegreiflich. Ich schaudere bei dem Gedanken, daß vielleicht lediglich die Eigensucht es gewesen sein könnte, die mich davon abgehalten hat. Wie ein verstockter Sünder blieb ich schweigend sitzen und ließ dieses edle Herz sich ausbluten bis zum letzten Tropfen.
Ich verabschiedete mich nach kurzer Zeit mit dem unbehaglichen Gefühl, die unglücklichste Rolle meines Lebens gespielt zu haben. Es ist, als ob manchmal alles wahre Gefühl, alle Herzlichkeit im Menschen unter Schloß und Riegel gelegt wäre.
Den Alten sah ich an diesem Tage gar nicht.
Die nächsten Tage verlebte ich in einer Art innerer Verdrossenheit, ob aus Unzufriedenheit mit mir selber — ich weiß es nicht.
Nach vier oder fünf Tagen erhielt ich mit der Frühpost einen Brief von Vera. Ich öffnete ihn, zu meiner Schande muß ich gestehen, ahnungslos und las folgendes:
„Lieber Freund! Geliebter! Daß ich entschlossen war, dieses Leben zu verlassen, sagte ich Ihnen indirekt schon bei Ihrem letzten Besuche. Ihre gedrückte Stimmung bewies mir, daß Sie mich verstanden hatten. Erst heute Abend hatte ich Gelegenheit, das Fläschchen, dessen ich dazu bedarf, aus dem Laboratorium meines Vaters zu entwenden. Ich werde es heute beim Schlafengehen nehmen. Deswegen schreibe ich jetzt. Morgen früh wird man mich tot im Bett finden. Ich bitte Sie also, sofort nach Empfang meines Schreibens zu uns zu eilen, um die nötigen Formalitäten vorzunehmen. Ich bitte Sie herzlich um Verzeihung, daß ich Ihnen dieses Opfer abverlange. Aber die Rücksicht auf meinen Vater zwingt mich. Ein fremder Arzt könnte Schwierigkeiten bereiten, vor denen ich für meinen Vater schaudere.
„Lieber Freund, betrüben Sie sich nicht zu sehr. Bemessen Sie auch Ihre Schuld nicht zu hoch. Wie ich Ihnen meine Liebe gestanden habe, so gestehe ich Ihnen auch offen: Es ist nicht diese Liebe, die mich aus dem Leben treibt, es ist das rettungslos und für immer zerstörte Verhältnis zu meinem Vater. Ich kann es nicht mehr ertragen. Ich weiß, er würde von Herzen gerne gehen, mir zu Liebe. Aber er wagt es nicht, mir zu Liebe. So tue ich es ihm zu Liebe. Es ist der einzige Weg, mich ihm wiederzugeben und für mich so leicht, so beschämend leicht nach allen diesen schrecklichen Lebenstagen. Ich sehe hier niemanden, der eine Schuld hat, niemanden, der ein Verbrechen begangen hat. Das einzige Verbrechen bleibt schließlich — Mensch zu sein.
Leben Sie wohl und erfüllen Sie meine Bitte, wenn Sie je geliebt haben.
Ihre Vera P.“
Von dem Moment, wo ich diesen Brief las, bis zu dem Moment, wo ich vor dem Bette Veras stand, ist alles meinem Gedächtnis entschwunden. Wahrscheinlich ist es auch überhaupt nie darin gewesen. Ich muß wie sinnlos davon gestürzt sein.
Vor dem Bett kniete der Alte.
Bei meinem Eintritt erhob er sich schwerfällig. — Gott und Vater! Alles erdulden, alle Qualen der Hölle leiden, nur nicht noch einmal in die trocknen Höhlen dieses Greises sehen! Wie kann nur ein Mensch dem andern so schrecklich werden!
Mechanisch nahm ich die Formalitäten vor, die mein ärztlicher Beruf in diesem Falle vorschrieb. Der Tod war offenbar schon am Abend eingetreten.
Nachdem ich die haltlos weinende Dienerin mit den nötigen Anweisungen aus dem Hause geschickt hatte, verließ ich das Sterbezimmer in der Meinung, daß der Alte mir folgen und mir einige Angaben machen würde. Bisher war er völlig lautlos geblieben. Aber statt mir zu folgen, ließ er sich schwer wieder am Bette der Toten nieder und ich stand allein im Nebenzimmer.
Mir war, als müßte ich etwas zu dem Alten reden, irgend etwas über die Tote. Aber ich fühlte auch, daß es mir jetzt, wo ich meine Pflicht als Arzt erledigt hatte, ganz unmöglich gewesen wäre, noch einmal auch nur die Tür des Sterbezimmers zu öffnen.
Wenn Schuld überhaupt gebüßt werden kann, so muß ich durch die Qualen dieser totenstillen Stunde, die verfloß bis zur Rückkehr der Dienerin, viel gebüßt haben. Hätte ich dieses alles länger aushalten müssen, ich glaube, ich wäre im Wahnwitz in das Sterbezimmer gedrungen und hätte den Alten gewaltsam von der Leiche gezerrt. Dieses schweigende Stück Leben hinter der geschlossenen Tür! Diese blicklosen Höhlen, die mich anstarrten, wohin ich mich wenden mochte! Schrecklich, schrecklich!
Meinen Beruf habe ich seitdem nicht wieder aufgenommen. Ich habe überhaupt gar nicht an die Möglichkeit gedacht. Sofort nachdem ich zu Hause angekommen war, packte ich das notdürftigste in eine Handtasche zusammen und reiste sofort ab. Ich ging in die Alpen.
Es war damals eine einzige Idee, die mich beständig quälte und mich fast zum Wahnsinn brachte, die Idee: „Es muß doch einen Zweck haben, wenn der Mensch derartiges leidet.“
Manchmal war mir, als ob ich jemanden auf der Straße anhalten, ihn fragen müßte: „Weißt du, warum du leidest, warum du dich freust? Weißt du überhaupt, warum du da bist?“
Denn hat es einen Zweck, daß man derartiges leidet, so muß es doch auch einen Zweck haben, daß man da ist.
Hat es aber einen Zweck, daß man da ist, so muß man doch von einem Gott auf seinen Platz gestellt sein. Ist man von Gott auf seinen Platz gestellt, so müßte man doch auch in ihm stets einen letzten Rückhalt haben.
Aber ich nehme meinen Fall. Ich stelle mir vor, ein Gott sagte: „Dir ist diese deine Sünde vergeben“ oder: „Hinab mit dir in die unterste Hölle! Das edelste Wesen hast du gemordet durch deine Selbstsucht — sei verdammt für immer!“ Das eine wäre so nichtssagend für mich wie das andere. Deswegen bliebe doch alles wie es ist. Im allerletzten Grunde bin ich ja doch mir selber verantwortlich.
Ist aber der Gott gerade da, wo es darauf ankommt, nutzlos, weshalb sich dann mit diesem transzendenten Ballast schleppen? Weshalb schleppen andere sich mit ihm? Weshalb schleppt im Grunde genommen alles sich mit ihm? Denn der Philosoph, der über ein Transzendentes spekuliert, glaubt ja genau so, wie der Kirchengläubige, mag er sein Transzendentes auch mit den geistreichsten und unverfänglichsten Namen benennen.
Monatelang irrte ich ruhelos von einem Ort zum andern. Eines Tages trat ich, es war in München, in eine Buchhandlung. Unter den dort ausliegenden Neuheiten fiel mir zufällig ein Buch über den Buddhismus in die Hände. Er hatte als Leitspruch den Satz:
„Über alle Gabe siegt der Wahrheit Gabe.“
Das zog mich an. Ich kaufte und begann zu lesen.
Irgend ein deutscher Gelehrter sagt von sich, er sähe es als eine Gnade des Schicksals an, daß sein Vater ihm schon als reiferen Knaben Kant’s „Prolegomena“ in die Hand gegeben habe. Ich muß offen gestehen, daß ich diese Gnade nicht recht zu würdigen weiß. Aber ebenso würde wohl jener Gelehrte es nicht verstehen, wenn ich hier sage, daß ich es für eine Gnade des Schicksals ansehe, daß er mir gerade in dieser Zeit dieses Buch in die Hände gab. Ich lernte begreifen, langsam, langsam, in jahrelangem geduldigem Nachdenken, aber ich lernte schließlich, und ich lernte vergeben — mir selber vergeben. Ich begriff, warum ich mir selber vergeben durfte.
Die Dankbarkeit für diese Liebesgabe des Buddha trieb mich, die Spuren dieses Einzigen zu verfolgen. So schiffte ich mich bald darauf nach Indien ein, habe mit eigenen Augen und in stiller Ehrfurcht alles betrachtet, was diesen größten aller Menschen, diesen reinsten, wirklichsten Menschen angeht und bin nun hier in Lanauli geendet. Hier fahre ich bisweilen zu den Felsentempeln von Karli, um die stolze Säulenhalle zu bewundern. Bisweilen fahre ich auch zum gegenüberliegenden Gebirgszug, um die Felsenhöhlen von Bhaja und Bedsa zu besuchen, aus deren kahlen Wänden noch die jugendliche Kraft rücksichtslosen Entsagens spricht, wie sie den ersten Zeiten des Buddhismus eigen war. Meist aber sitze ich unter einem dieser mächtigen alten Bäume, die einzeln in dieser merkwürdigen Landschaft stehen. Und wenn der Monsunwind in den Zweigen rauscht und die Sonne hinter den Bergen im Westen sinkt, dann genieße ich immer wieder das köstlichste aller Gefühle: Dieses gesicherte Ruhegefühl, hervorgegangen aus dem bewußten Loslassen von der Welt und ihren Gütern.
Und das ist die Liebesgabe des Buddha. Mögen viele davon kosten. Denn irgend eine Schuld, die im Begreifen nicht sich selber verzehrte, die gibt es nicht.