Guy de Maupassant

Den Hut auf dem Kopf, den Mantel angezogen, einen schwarzen Schleier vorm Gesicht, einen zweiten in der Tasche, den sie noch über den ersten legen wollte, wenn sie erst in der Sünden-Droschke säße, klopfte sie mit der Spitze ihres Sonnenschirmes an ihren Schuh und blieb so in ihrem Zimmer sitzen, ohne den Entschluß fassen zu können, zu diesem Stelldichein das Haus zu verlassen.

Und wie oft hatte sie sich doch schon seit zwei Jahren so angezogen, während der Börsenzeit ihres Mannes, eines in der Gesellschaft viel gesehenen Börsenagenten, um ihren Liebhaber, den schönen Grafen Martelet in seiner Wohnung aufzusuchen.

Hinter ihr tickte laut die Uhr; auf dem kleinen Rosenholzschreibtisch zwischen den Fenstern lag offen ein zur Hälfte gelesenes Buch, und starker Veilchengeruch, von zwei kleinen Sträußen, die in winzigen Meißner Vasen auf dem Kamin standen, mischte sich mit einem unbestimmten Duft von Verbenen, der durch die offen stehen gebliebene Thür des Toilettenzimmers hereinströmte.

Die Uhr schlug drei, und sie fuhr auf. Sie drehte sich um, blickte nach dem Zifferblatt und lächelte nachdenklich:

– Er wartet schon auf mich, jetzt wird er schon ganz nervös sein! – Dann ging sie aus, sagte dem Diener, daß sie spätestens in einer Stunde zurückkehren würde – natürlich eine Lüge – stieg die Treppe hinab und bummelte zu Fuß die Straße hinunter.

Es war Ende Mai, jene köstliche Jahreszeit, wo der Frühling im Lande ringsum auf Paris loszustürmen scheint und es über die Dächer einnimmt, die Häuser erobert durch die Mauern hindurch, die ganze Stadt erblühen läßt, den Fassaden der Häuser, dem Asphalt der Bürgersteige, dem Pflaster der Straßen einen heiteren Anstrich giebt, alles badet, erfüllt mit Saft und Kraft wie junge Bäume, die neu erblühen, alles mit Keimen und Werden und Wachsen umringt, wie ein einziger großer, grünender Park.

Frau Haggan ging ein paar Schritte nach rechts, in der Absicht wie immer die Rue de Provence hinabzueilen, wo sie eine Droschke anrufen wollte. Aber die Milde der Luft, jenes Sommerahnen, das uns an gewissen Tagen in die Brust strömt, durchdrang sie so sehr, daß sie plötzlich anderer Ansicht ward und die Rue de la Chaussée d’Antin hinabschritt, ohne zu wissen warum, unwillkürlich von dem Wunsche getrieben, an den Anlagen der Trinité die Bäume und das Grüne zu sehen.

Sie dachte: Ach was, er wartet eben zehn Minuten länger. Der Gedanke machte ihr wieder Spaß und während sie mit langsamen Schritten sich von der Menge treiben ließ, sah sie ihn vor sich, wie er ungeduldig wurde, nach der Uhr sah, das Fenster öffnete, an der Thür horchte, sich ein paar Augenblicke setzte, sich wieder erhob, nicht zu rauchen wagte, denn sie hatte es ihm an den Tagen des Stelldicheins verboten, und nun verzweifelten Auges nach der Zigarettenschachtel blickte.

Langsam ging sie hin, alles unterhielt sie, was sie unterwegs traf: die Gesichter der Menschen, die Läden. Sie verlangsamte immer mehr den Schritt und hatte eigentlich so wenig Lust, an ihr Ziel zu gelangen, daß sie an jedem Schaufenster einen Vorwand suchte, stehen zu bleiben.

Am Ende der Straße, vor der Kirche, lockte sie das Grün der kleinen Anlagen so sehr, daß sie über den Platz ging und in den Garten trat, diesen kleinen Kinderkäfig, zweimal um den schmalen Rasenplatz herumschritt, zwischen den buntbebänderten, vergnügten, frischen Ammen. Dann nahm sie einen Stuhl, setzte sich und blickte hinauf zum runden Zifferblatt, das wie die Mondscheibe am Kirchturm stand und sah den Zeiger vorrücken.

Gerade in diesem Augenblick schlug es halb, und es überlief sie wohlig, als sie den Glockenton hörte. Eine halbe Stunde hatte sie gewonnen, dann brauchte sie eine Viertelstunde bis zur Rue Miromesnil, ein paar Minuten verbummelte sie noch, und dann hatte sie eine Stunde, eine ganze Stunde, ihrem Stelldichein abgeknapst. Kaum vierzig Minuten würde sie dort bleiben, und es wäre wieder einmal vorbei.

Ach Gott, wie unangenehm war es ihr doch, hingehen zu müssen! Wie ein Patient, der zum Zahnarzt muß, trug sie in ihrem Herzen die Erinnerung an alle verflossenen Stelldicheins. Im Durchschnitt wöchentlich eins seit zwei Jahren, und der Gedanke daran, daß jetzt gleich wieder eins abgemacht werden sollte, jagte ihr das Entsetzen in die Glieder vom Fuß bis zum Kopf. Es war ja nicht gerade schmerzhaft, schmerzhaft wie ein Besuch beim Zahnarzt, aber so langweilig, so entsetzlich langweilig, so umständlich, so peinlich, daß ihr alles, alles, sogar eine Operation lieber gewesen wäre. Und doch ging sie hin. Sehr langsam, mit kleinen Schritten, blieb stehen, setzte sich, machte Umwege, aber sie ging. Ach, sie hätte es diesmal so gern verpaßt! Aber sie hatte den armen Grafen letzten Monat zweimal schon versetzt und konnte es so schnell nicht wieder thun. Warum ging sie wieder hin? Ach warum? Weil sie es sich einmal angewöhnt hatte und sie dem unglücklichen Martelet, wenn er hätte wissen wollen warum, gar keinen Grund hätte nennen können. Warum hatte sie die Geschichte überhaupt angefangen? Warum? Sie wußte es garnicht mehr. Hatte sie ihn geliebt? Wohl möglich. Nicht sehr heiß aber ein wenig. Es war so lange her! Er sah gut aus, war sehr beliebt, elegant, zuvorkommend und so auf den ersten Blick ganz der Liebhaber für eine Dame von Welt. Er hatte ihr drei Monate den Hof gemacht, die normale Zeit, – ein sehr anständiger Kampf, ein genügend langer Widerstand. Dann war sie schwach geworden und mit schrecklicher Bewegung, Qual, fürchterlicher und doch so entzückender Angst zu jenem ersten Stelldichein gegangen, dem so viel andere folgten in jener kleinen Junggesellenwohnung Rue de Miromesnil. Ihr Herz? Was empfand da ihr kleines, verführtes Frauenherz, das besiegt und erobert worden, als es zum ersten Mal jenes Haus der bösen Träume betreten? Sie wußte es wirklich nicht mehr. Sie hatte es vergessen. Man erinnert sich an eine Thatsache, ein Datum, irgend ein Ding, aber nach zwei Jahren weiß man kaum mehr etwas von einer Gemütsbewegung, die schnell verflogen ist, weil sie nicht gerade sehr tief ging. Ach, sie hatte ja die übrigen nicht vergessen, diesen Rosenkranz von Stelldicheins, diesen Leidensweg der Liebe mit so ermüdenden, eintönigen, ewig gleichen Stationen, daß sie Ekel empfand, wenn sie daran dachte, was ihr in einer Stunde bevorstand.

Herr Gott, diese Droschken, die man anrufen mußte, um hinzufahren! Ganz anders wie die Droschken, in denen man sonst fährt. Die Kutscher merkten doch sicher was los war, – sie fühlte es allein schon an der Manier wie man sie ansah. Diese Pariser Kutscheraugen sind gräßlich. Wenn man bedenkt, daß sie alle Augenblicke einmal vor Gericht, nach mehreren Jahren noch, Verbrecher wiedererkennen, die sie nur ein einziges Mal gefahren haben, mitten in der Nacht, von irgend einer Straße an den Bahnhof, und daß sie mit mindestens ebensoviel Fahrgästen zu thun haben, wie es Stunden giebt am Tage, und daß ihr Gedächtnis scharf genug ist, um sagen zu können: Das ist der Mann, der Rue des Martyrs einstieg und am Lyoner Bahnhof ausstieg um zwölf Uhr vierzig am zehnten Juli vorigen Jahres – muß man dann nicht zittern, wenn man das wagt, was eine junge Frau auf’s Spiel setzt, wenn sie zu einem Stelldichein fährt, bei welchem sie dem ersten besten Kutscher ihren Ruf anvertraut! Für die Fahrt nach der Rue de Miromesnil hatte sie seit zwei Jahren wenigstens hundert bis hundertzwanzig Kutscher gebraucht, wenn man wöchentlich einen rechnete. Das waren ebensoviel Zeugen, die in einem entscheidenden Augenblick gegen sie auftreten konnten.

Sobald sie in der Droschke saß, zog sie den andern Schleier aus der Tasche, dick und schwarz wie eine Maske, und band ihn sich um. Der verdeckte das Gesicht. Aber alles weitere, Kleid, Hut, Schirm, konnte man das nicht erkennen, nicht schon mal gesehen haben? Ach, und in dieser Rue de Miromesnil welche Qual! Sie meinte, alle Vorübergehenden, alle Bediensteten, alle Welt wiederzuerkennen. Wenn der Wagen kaum hielt, sprang sie heraus und lief am Pförtner vorüber, der immer an der Schwelle der Portierloge stand. Der mußte doch alles wissen, alles: ihre Adresse, ihren Namen, den Beruf ihres Mannes, alles, – denn diese Pförtner sind wie die findigsten Polizisten. Sie wollte ihn seit zwei Jahren bestechen, ihm eines Tages etwas geben, ihm einen Hundertfrankenschein zustecken, wenn sie vorüberging. Aber sie hatte nicht ein einziges Mal gewagt, die kleine Bewegung zu machen, ihm das zusammengefaltete Papier vor die Füße zu werfen. Sie hatte Angst. Wovor? Das wußte sie nicht. Etwa zurückgerufen zu werden, wenn er nicht verstand, was es bedeutete? Angst vor einem Skandal, einer Menschenansammlung auf der Treppe, vielleicht vor einer Verhaftung. Um an die Thür des Grafen zu gelangen, brauchte sie nur eine halbe Treppe hinaufzugehen und doch schien sie ihr so hoch wie ein Kirchturm. Kaum im Hausflur, fühlte sie sich wie in einer Falle. Beim geringsten Lärm vor oder hinter ihr schreckte sie zusammen. Zurück konnte sie nicht; da war der Pförtner und die Straße, die den Rückzug abschnitten. Und wenn gerade in diesem Augenblick jemand die Treppe herunterkam, wagte sie nicht bei Martelet zu klingeln und ging an der Thür vorüber, als ob sie zu jemand anderem wollte. Sie stieg hinauf, stieg, stieg, wäre vierzig Stockwerke gestiegen. Wenn dann alles in dem Treppenhauskäfig wieder still war, lief sie mit erstarrter Seele immer in der Angst, die Thür nicht mehr zu finden, wieder hinab.

Er war zu Haus. Er erwartete sie in einem Samtanzug mit Seide gefüttert, sehr kokett aber etwas lächerlich. Und seit zwei Jahren empfing er sie in genau derselben Weise mit ganz genau denselben Bewegungen.

Sobald er die Thür geschlossen hatte, sagte er: »Laß mich Deine Hand küssen, meine liebe, liebe Freundin.« Dann folgte er ihr ins Zimmer, wo die Läden geschlossen waren, die Lichter angesteckt, Winter wie Sommer, wahrscheinlich weil er es für schicklicher hielt, kniete dann vor ihr nieder, blickte sie von unten bis oben anbetend an. Den ersten Tag war das sehr nett und sehr passend gewesen. Jetzt meinte sie den Schauspieler Delaunay zum hundertzwanzigsten Mal den fünften Akt eines erfolgreichen Stückes spielen zu sehen. Er hätte sich wirklich einen anderen Effekt ausdenken sollen.

Und später! Ach mein Gott, was dann kam, war das Schwerste! Nein, er blieb sich immer gleich, der arme Junge. Ein guter Kerl, aber höllisch ledern.

Gott, war das schwer, sich ohne Kammerjungfer auszuziehen! Einmal wäre es noch gegangen, aber jede Woche, das war furchtbar. Nein, ein Mann sollte wirklich eine solche Schinderei einer Frau nicht zumuten. Aber wenn es schon schwer war, sich auszuziehen, so wurde das Anziehen beinah zur Unmöglichkeit. Es machte sie nervös, daß sie hätte laut schreien können, so wütend, daß sie ihren Liebhaber hätte ohrfeigen mögen, wenn er ungeschickt um sie herumtappste und fragte:

– Darf ich Dir helfen?

Helfen? Jawohl. Wozu? Was konnte er denn helfen? Sie hatte schon genug, wenn sie bloß eine Stecknadel in seinen Fingern sah.

Vielleicht hatte sie deshalb solchen Abscheu vor ihm gefaßt! Wenn er sagte: »Darf ich Dir helfen?« hätte sie ihn totschlagen mögen. Und mußte eine Frau nicht schließlich einen Mann hassen, der sie seit zwei Jahren nötigte, sich mehr als hundertzwanzigmal ohne Kammerjungfer anzuziehen?

Wahrhaftig es gab nicht viel so ungeschickte Menschen wie er, so langweilig und monoton. Der kleine Baron Grimbal hätte sicher nicht mit so dummem Gesicht gefragt: »Darf ich Dir helfen?« Der hätte einfach geholfen, schnell, spaßig, witzig. Der war ein Diplomat, war in der ganzen Welt herumgekommen. Der hatte ohne Frage Frauen, die nach allen Moden der Welt gekleidet gingen, aus- und angezogen.

Es schlug an der Kirche drei Viertel. Sie richtete sich auf, fing an zu lächeln und murmelte:

– O, jetzt wird er aber aufgeregt sein.

Dann eilte sie schnell davon und verließ die Anlagen.

Sie war kaum zehn Schritt gegangen, als sie einem Herrn gegenüberstand, der sie tief grüßte.

– Ach, Sie, Baron! – sagte sie erstaunt. Sie hatte eben an ihn gedacht.

– Jawohl, gnädige Frau.

Er fragte, wie es ihr ginge und sagte nach ein paar allgemeinen Redensarten:

– Wissen Sie, gnädige Frau, daß Sie die einzige – Sie erlauben, daß ich sage: meiner Freundinnen – sind, nicht wahr? – die noch nicht meine japanischen Sammlungen angesehen hat.

– Aber lieber Baron, eine Frau kann doch nicht so zu einem Jungesellen gehen!

– Wieso denn? wieso denn? Da sind Sie doch sehr im Irrtum! Wenn es sich um eine seltene Sammlung handelt!

– Sie kann jedenfalls nicht allein hingehen.

– Und warum nicht? Eine Unmenge Damen sind allein bei mir gewesen, nur wegen meiner Sammlungen. Täglich kommen welche. Darf ich sie Ihnen nennen? Nein, das kann ich doch nicht. Man muß diskret sein, selbst dann, wenn garnichts dabei ist. Übrigens ist es nur unschicklich, zu einem gesetzten Mann zu gehen, der allgemein bekannt ist, eine gewisse Stellung hat, wenn man ihn aufsucht wegen etwas, dessen man sich zu schämen hat!

– Ja, Sie haben eigentlich ganz recht.

– Also wollen Sie meine Sammlungen sehen?

– Wann?

– Nun sofort.

– Unmöglich! Ich hab’s eilig.

– Ach, hören Sie mal, Sie sitzen schon eine halbe Stunde hier in den Anlagen.

– Verfolgen Sie mich etwa?

– Ich sah Ihnen zu.

– Nun, ich habe es wirklich eilig.

– Ich glaube es wirklich nicht. Gestehen Sie einmal ein, Sie haben es wirklich nicht eilig.

Frau Haggan lachte, und gestand:

– Nein . . . . nein . . . nicht . . . sehr.

Eine Droschke kam an ihnen vorüber. Der kleine Baron rief »Kutscher«, und der Wagen hielt. Dann öffnete er die Thür und sagte:

– Steigen Sie ein, gnädige Frau.

– Aber Baron, das ist unmöglich, ich kann heute nicht.

– Gnädige Frau, Sie sind unvorsichtig. Steigen Sie ein, man beobachtet uns schon. Sie werden einen Auflauf verursachen. Man wird denken, daß ich Sie entführen will und wird uns alle beide verhaften. Steigen Sie schnell ein, bitte.

Ganz verstört stieg sie ein. Er setzte sich an ihre Seite und rief dem Kutscher zu:

– Rue de Provence.

Aber plötzlich sagte sie:

– O mein Gott, ich habe einen dringenden Rohrpostbrief vergessen. Bitte fahren Sie mich zuerst einmal zum nächsten Rohrpostamt.

Ein Stück davon in der Rue de Châteaudun hielt die Droschke, und sie sagte zum Baron:

– Bitte holen Sie mir einen Rohrpostbrief für fünfzig Centimes. Ich habe meinem Mann versprochen, Martelet für morgen zu Tisch einzuladen und habe es ganz vergessen.

Als der Baron zurückgekommen war, das blaue Papier in der Hand, schrieb sie mit Bleistift darauf:

»Lieber Freund, ich bin sehr unpäßlich. Heftige Nervenschmerzen zwingen mich, zu Bett zu bleiben; ich kann unmöglich ausgehen. Kommen Sie morgen abend zu uns zu Tisch, damit ich Ihre Verzeihung erhalte.

Johanna.«

Sie netzte den Umschlag, klebte sorgsam zu, schrieb die Adresse darauf: »Graf Martelet, 240 Rue Miromesnil.« Dann gab sie den Brief dem Baron:

– So. Nun, bitte, seien Sie so gut und werfen das in den Rohrpostkasten.

Die Tote

Guy de Maupassant

Ich hatte sie bis zum Wahnsinn geliebt. – Warum liebt man? Ist es nicht verrückt, auf der ganzen Erde nur noch ein Wesen zu sehen, nur noch einen Gedanken im Hirn zu haben, einen Wunsch im Herzen, einen Namen im Munde? Ein Name, der unausgesetzt kommt, emporsteigt wie das Wasser einer Quelle aus den Tiefen der Seele, der auf die Lippen tritt, den man ausspricht, immer wieder ausspricht, unausgesetzt flüstert, überall, wie ein Gebet.

Ich will unsere Geschichte nicht erzählen; in der Liebe giebt es nur eine Geschichte, und sie ist immer die gleiche. Ich war ihr begegnet und hatte sie lieb gewonnen, – das ist alles. Ein Jahr lang hatte ich in ihrer Liebe gelebt, in ihrem Arm, in ihrer Zärtlichkeit, von ihrem Auge bewacht. An ihren Worten, an ihren Kleidern, an allem hängend, gebunden, gefangen durch alles, was von ihr kam: so ganz in Fesseln geschlagen, daß ich nicht wußte, war es Tag oder Nacht, war ich tot oder lebendig, war ich noch auf unserer alten Erde oder schon anderwärts.

Und da starb sie. Wie? Ich weiß es nicht, – weiß es nicht mehr.

Sie kehrte durchnäßt heim an einem Regenabend, am nächsten Tage hustete sie, hustete etwa eine Woche lang, mußte sich legen.

Was dann geschehen ist, weiß ich nicht mehr.

Ärzte kamen, schrieben Rezepte, gingen wieder fort. Man brachte etwas aus der Apotheke, eine Frau flößte es ihr ein. Ihre Hände waren heiß, ihre Stirn brannte, Schweiß stand darauf, ihre Augen glänzten und schauten traurig drein. Ich sprach mit ihr, und sie antwortete. Was haben wir uns gesagt? Ich weiß es nicht mehr. Ich habe alles vergessen, alles. Sie starb. Ich erinnere mich noch genau ihres letzten kleinen Seufzers, so schwach, leise, – der letzte!

Die Wärterin sagte: »Ach!« Da begriff ich, ich begriff.

Ich wußte von nichts mehr. Ich sah einen Priester, der das Wort gebrauchte: Ihre Geliebte. Mir war es, als beleidigte er sie, denn da sie nun tot war, hatte keiner ein Recht mehr, darüber zu reden. Ich warf ihn hinaus. Ein anderer erschien, sehr milde, sehr weich. Ich weinte, als er mir von ihr sprach.

Man fragte mich nach tausend Dingen wegen des Begräbnisses. Ich weiß nicht mehr, was es war. Und doch erinnere ich mich noch genau des Sarges, der Hammerschläge, als man sie darin einsperrte. O mein Gott!

Sie wurde begraben, eingescharrt! Sie! In diesem Loch! Ein paar Leute waren gekommen, Freunde. Ich riß aus, lief davon, irrte lange durch die Straßen; dann kehrte ich heim. Am nächsten Tage reiste ich ab.

* * *

Gestern bin ich nach Paris zurückgekehrt. Als ich mein Zimmer wiedersah, unser Zimmer, unser Bett, unsere Möbel, dieses ganze Haus, an dem alles noch hing, was von einem Menschen nach seinem Tobe bleibt, packte mich noch einmal die Verzweiflung so gewaltig, daß ich das Fenster öffnen und mich auf die Straße hinabstürzen wollte. Ich konnte es, von all diesen Dingen umgeben, von diesen Mauern, die sie einst umschlossen und beschirmt, nicht mehr aushalten, in diesen Wänden, die in all ihren kleinen unmerklichen Rissen tausend Atome von ihr bewahren mußten, von ihrem Körper, ihrem Hauch, und ich nahm meinen Hut, um zu entfliehen. Plötzlich, als ich an die Thür kam, mußte ich an dem großen Spiegel vorüber, den sie dort hatte aufstellen lassen, um sich täglich, wenn sie ausging, von Fuß bis zu Kopf zu betrachten, zu sehen ob ihre Toilette ihr gut stand, in Ordnung war, hübsch aussah, von den Schuhen bis zum Hut.

Und starr blieb ich vor dem Spiegel stehen, der so oft ihr Bild zurückgeworfen, so oft, so oft, daß er doch auch ihr Bild hätte in sich festhalten müssen.

Zitternd stand ich da, die Augen auf das Glas gerichtet, das glatte, tiefe, leere Glas, das sie aber völlig festgehalten hatte, und besessen, ebenso wie ich, genau so wie mein leidenschaftliches Auge. Mir war als liebte ich diesen Spiegel – ich berührte ihn – er war kalt. Ach, die Erinnerung! die Erinnerung! Schmerzensspiegel, brennender Spiegel, lebendige furchtbare Scheibe, die Du alle diese Leiden heraufbeschwörst! Glücklich die Menschen, deren Herz gleich einem Spiegel ist, in dem die Erscheinungen auftauchen und wieder verblassen, die alles vergessen, was er wiebergab, alles was vor ihm geschehen ist, alles was sich in seiner Liebe, in seiner Zuneigung betrachtet, gesonnt, gespiegelt hat. O, wie ich leide!

Ich ging aus. Und ohne es zu wollen, ganz von selbst, fast ohne es zu wissen, ging ich zum Kirchhof. Ich fand ihr einsames Grab, worauf ein Marmorkreuz stand mit den wenigen Worten: »Sie liebte, ward geliebt und starb.«

Da drunten lag sie nun verwest! Entsetzensvoller Gedanke! Ich schluchzte, die Stirn am Boden.

Lange, lange blieb ich liegen. Dann merkte ich, daß es Abend ward. Da kam ein verrückter, toller Gedanke über mich, der Wunsch eines an den Rand des Wahnsinns gebrachten Liebenden. Ich wollte die Nacht bei ihr bleiben, die letzte Nacht auf ihrem Grabe weinen. Aber man würde mich sehen und mich fortjagen. Wie sollte ich es anfangen? Ich gebrauchte eine List. Ich erhob mich und begann durch die Totenstadt zu irren. Ich ging und ging. Wie klein sie ist, diese Stadt, neben der anderen, der, in der man lebt. Und doch wie viel mehr Tote giebt es als Lebende! Wir brauchen große Häuser, Straßen, so viel Platz für die vier Generationen, die zu gleicher Zeit das Licht der Sonne genießen, von den Quellen, vom Wein der Weinberge trinken, das Brot der Ebenen essen.

Und für all die Generationen von Toten, für diese ganze Stufenleiter der Menschheit, die bis zu uns herabsteigt, ist fast nichts nötig, als ein Feld, – fast nichts. Die Erde nimmt sie auf, die Vergessenheit löscht sie aus. Lebet wohl!

Am Ende des Kirchhofs, wo noch begraben wurde, erblickte ich plötzlich den verlassenen Kirchhof, den, wo die längst, längst Gestorbenen ihre Verbindung mit der Mutter Erde eingehen, wo sogar die Kreuze faulen, und wo man vielleicht schon morgen wieder die Letztangekommenen betten wird. Er ist mit wilden Rosen überrankt, mit kräftigen, dunklen Cypressen bestanden, – ein trauriger, wundervoller Garten, vom Leibe der Menschen genährt.

Ich war allein, ganz allein. Ich verbarg mich unter einem grünen Baum, versteckte mich gänzlich, zwischen den dunklen dichten Zweigen und an den Stamm geschmiegt wartete ich wie ein Schiffbrüchiger auf den Trümmern des Schiffes.

* * *

Als es Nacht war, dunkle Nacht, verließ ich mein Versteck und begann leise, mit langsamen, schleichenden Schritten auf dieser Erde dahin zu gehen, darunter Totes an Totem lag.

Ich irrte lange, lange, lange. Ich fand sie nicht wieder. Mit ausgestreckten Armen, die Augen aufgerissen, tastete ich mich mit den Händen an den Gräbern hin, stieß mit den Füßen, den Knieen, der Brust, sogar dem Kopf an, irrte auf und ab und fand sie nicht. Ich tastete und fühlte mich fort wie ein Blinder, der seinen Weg sucht; betastete Steine, Kreuze, Eisengitter, Kränze aus Glas-Perlen, Kränze aus verwelkten Blumen. Ich ließ den Finger über die Inschriften gleiten und las die Namen. Welche Nacht! welche Nacht! Und ich fand sie nicht.

Kein Mond! Welche Nacht! Ich hatte Angst, eine entsetzliche Angst in diesen schmalen Wegen, zwischen diesen beiden Gräberreihen. Gräber! Gräber! Gräber! Überall, überall Gräber! Rechts, links, vor mir, um mich herum, überall Gräber! Ich setzte mich auf eines, denn ich konnte nicht mehr gehen, mir brachen die Kniee. Ich hörte wie das Herz mir schlug, und ich hörte noch andere Dinge. Was? Ein unnennbares, dumpfes Geräusch. War es in meinen verstörten Sinnen? Lag es in der undurchdringlichen Nacht? Kam es aus der geheimnisvollen Erde, kam es aus der Erde, die besät war mit menschlichen Gebeinen? Ich blickte um mich.

Wie lange ich dort geblieben bin, weiß ich nicht. Ich war vom Schrecken wie gelähmt, trunken vor Entsetzen. Ich hätte aufbrüllen mögen, dem Tode nahe.

Plötzlich schien es mir, als ob die Marmorplatte, auf der ich saß, sich bewegte. Ja, sie bewegte sich, als hätte man sie emporgehoben. Mit einem Satz sprang ich auf das benachbarte Grab und sah, sah wie der Stein, auf dem ich eben gesessen, sich emporrichtete und der Tote erschien, ein nacktes Skelett, und den Marmor aufhob mit dem gekrümmten Rücken. Ich sah, sah es ganz deutlich, obgleich die Nacht dunkel war. Und auf dem Kreuze konnte ich lesen:

»Hier ruht Jakob Olivant, gestorben im einundfünfzigsten Jahr seines Lebens. Er liebte die Seinen, war brav und gut, und starb im Frieden Gottes.«

Nun begann auch der Tote zu lesen, was auf dem Grabe stand. Dann nahm er einen Stein vom Wege, einen kleinen, spitzen Stein, und begann emsig an der Schrift zu kratzen. Langsam löschte er sie fort, indem er mit seinen leeren Augenhöhlen die Stelle betrachtete, wo die Buchstaben noch eben gestanden. Und mit der Spitze des Knochens, der sein Zeigefinger gewesen, schrieb er mit flammenden Lettern, wie Zeilen, die man mit einem Streichholz an die Wand malt:

»Hier ruht Jakob Olivant, gestorben im einundfünfzigsten Jahr seines Lebens. Er trieb durch seine Härte seinen Vater, den er zu beerben wünschte, in den Tod; er quälte seine Frau, peinigte seine Kinder, betrog seine Nachbarn, stahl wo er konnte und starb eines elenden Todes.«

Als der Tote fertig war mit schreiben, betrachtete er unbeweglich sein Werk. Und wie ich mich umwendete, gewahrte ich, daß alle Gräber offen standen, daß alle Leichen herausgestiegen waren, alle die Lügen weggelöscht hatten, die auf den Leichensteinen von den Hinterbliebenen eingegraben worden, um statt dessen die Wahrheit hinzusetzen.

Und ich sah, daß alle, alle Henker ihrer Mitmenschen gewesen, voller Haß, Unehrlichkeit, Heuchler, Lügner, Betrüger, Verleumder, Neider, daß sie gestohlen, betrogen hatten, alles Schmachvolle und Böse vollführt, sie alle diese guten Väter, diese treuen Gattinnen, diese liebevollen Söhne, diese keuschen, jungen Mädchen, diese ehrlichen Kaufleute, – alle diese Männer und Frauen, denen man nachsagte, daß sie tadellos gewesen.

Alle schrieben sie zu gleicher Zeit auf die Schwelle ihrer Erdenwohnung die grausame, furchtbare, heilige Wahrheit, die alle auf der Erde nicht kennen oder thun, als ob sie nichts davon wüßten.

Und ich dachte, daß auch sie, sie, jetzt auf ihrem Grabstein schreibe. Und nun lief ich ohne Angst mitten zwischen den halbgeöffneten Gräbern, zwischen all den Leichen, den Skeletten hin zu ihr, sicher, sie zu finden.

Ich erkannte sie von weitem, ihr Gesicht war in das Schweißtuch gehüllt.

Und auf dem Marmorkreuz, auf dem ich vorhin noch gelesen: »Sie liebte, ward geliebt und starb!« gewahrte ich die Worte:

»Eines Tages ging sie aus, um ihren Geliebten zu hintergehen, erkältete sich bei Regenwetter und starb.«

* * *

Bei Tagesgrauen soll man mich ohnmächtig neben einem Grabe gefunden haben . . . . . . . . . .