Isolde Kurz

Man saß am Abend vor der Abreise noch in Florenz beisammen, ein Häuflein deutscher Freunde, das den Winter in Italien verbracht und das Land auf den bekannten Touristenwegen durcheilt hatte. Alle waren freudensatt und sehnten sich nach Hause. Die erschöpfte Bewunderung, die schon seit lange keine Worte mehr fand, schlug in Mißmut um, und man begann dem Lande gram zu werden, das man mit so großem Entzücken betreten hatte, denn man fühlte, daß ein Menschenalter nicht ausreichen würde, um die ganze Tiefe seines Reichtums zu ergründen.

Ein junger Künstler, der am weitesten gekommen war und am schärfsten gesehen hatte, gab dieser Stimmung zuerst Ausdruck.

»Ich möchte doch nicht in einem Lande leben, wo schon alles gethan ist,« sagte er, »es würde mich entmutigen und erdrücken. Ueberall vertreten uns hier die Toten den Weg, und Schillers berühmter Vers verkehrt sich hier ins Gegenteil, denn ihnen gehören die Stunden und der Lebende hat Unrecht.«

»Und die italienische Natur ist eigentlich gar keine Natur,« warf eine junge Frau ein, »sondern nur wie ein Staffeleibild, ein Ding zum Anschauen. Man kommt nie hinein, immer ist man draußen. Da lob’ ich mir unsre deutschen Eichenwälder mit ihren feuchten Moosbänken und rieselnden Bächlein. Die sind uns nahe und reden unsre Sprache. Aber giebt es etwas Hochnasigeres als diese Cypressen und Pinien, die mit sich selber glücklich sind und dem Menschen zu sagen scheinen: ›Bleib mir vom Leib, – ich habe nichts mit dir gemein.‹ – Oder vielmehr, sie sagen ihm gar nichts, sie übersehen einfach seine Gegenwart.«

»Ich,« sagte ein andrer, »habe an Italien nichts auszusetzen, als daß es hier zu hell ist, und daß das Sonnenlicht in jede Ritze dringt. Da ist gar nichts Verschleiertes, kein Dämmerwinkelchen für die Phantasie, kein Platz für Geister, Irrlichter und Kobolde. Ich möchte nicht in einem Lande leben, das keine Gespenster hat.«

»Steht es denn fest, daß Italien keine Gespenster hat?« fragte die Gesellschaft.

»Felsenfest. Ich berufe mich auf den jungen Vetturino, der uns durch die Maremma führte. Den habe ich nach Geistergeschichten ausgefragt, so lange ich neben ihm auf dem Kutschbock saß. Zuerst verstand er mich gar nicht, bis ich ihm erklärte, was Gespenster seien – die Seelen der Verstorbenen, die wiederkämen. Darauf sah er mich mit ernsthafter Verwunderung an und schüttelte den Kopf. Bei ihm daheim im Sienesischen, sagte er, wisse man nichts von solchen Dingen, da seien die Toten noch immer ruhig liegen geblieben, wo man sie eingescharrt habe. Aber auf einmal ging ihm ein Verständnis auf und er fügte hinzu: ›Ja, setzt erinnere ich mich – als ich noch klein war und zur Schule ging, da hörte ich von einem gewissen – wie hieß er nur? – Lazarus, mein’ ich – der soll wieder aufgestanden sein. Aber man muß nicht alles glauben, was die Leute sagen.‹«

Alle lachten. Aber einer, der bisher geschwiegen, ergriff jetzt das Wort, und die Gesellschaft hörte ihm aufmerksam zu, denn er war ein Sonderling, der nur redete, wenn er etwas zu sagen hatte, und überdies bewohnte er das Land, das die Andern im Flug durchreisten, schon seit zwanzig Jahren.

»Keine Gespenster?« begann er langsam und monoton. – »Ja, wenn Sie von den grauen oder schwarzen huschenden Schattengestalten des Nordens reden, dann stimme ich Ihnen bei, die giebt es hier nicht, die Sonne würde sie sofort aufzehren. Aber wären Sie meinem Rat gefolgt und hätten einen Hochsommer in Italien verlebt, statt beim ersten Sonnenstrahl das Weite zu suchen, dann wüßten Sie, was italienische Gespenster sind.«

Er sprach mit einer tiefen, wenig modulierten Stimme, die etwas Hypnotisierendes hatte.

»Gespenster im Hochsommer?« fragten einige zweifelnde Stimmen.

»Allerdings. Sie kommen eben von dem gewohnten Vorstellungskreis nicht los. Wenn Sie von Gespenstern hören, so denken Sie an eine Winternacht, verschneite Felder, an Sturmgeheul, Nebelgeriesel und tiefe Mitternachtstunde. Dann kommen die ängstlichen, schleichenden Schatten, die sich fast mehr noch vor dem Lebenden fürchten als er vor ihnen. Hier aber hat die Nacht keine Stille und Einkehr in sich, also hat sie auch keine Gespenster, sie ist voll Lärm und Musik und gehört den Lebenden. Doch man zeige mir das verschwommene nordische Spukbild, das sich an Grauen mit dem weißen Phantom des Südens messen kann. Wie rette ich mich vor dem Mittagsgespenst, wenn es mich allein in der sonnverbrannten schattenlosen Campagna findet, wenn es mich anstiert mit seinen kalten, wie von der Helle abgeblaßten Seemannsaugen, die die ungeheuren Weiten von Wüste und Ozean in sich getrunken haben. Um die Sommersonnwend, zur Mittagszeit, beim betäubenden Geschmetter der Zikaden, auf weiten glühenden Ebenen, unter goldgelben Weizenfeldern, wo die Luft vor Hitze flimmert und sogar die Lerche schweigt, am flachen Meergestad, wo der brennende Sand zu spiegeln anfängt, da ist es zu Hause. Es kommt von Afrika herüber und bläst unterwegs den Schiffern seinen heißen Atem ins Gesicht, daß sie entseelt vom Bord taumeln. Wo es vorübergeht, da wagt kein Blümchen mehr zu blühen und kein Halm ist mehr grün. Und doch ist es ebenso schön wie es schrecklich ist. Ganz nahe bin ich ihm nur zweimal gekommen, das erste Mal in Pisa. Sie kennen Pisa? – Aber nein, Sie haben es ja nur bei Regenwetter gesehen. Nun stellen Sie sich den Domplatz vor unter der grellen Mittagssonne, abseits der Stadt, in weltverlorener Einsamkeit, seine steinernen Wundergewächse umwoben von der sinnverwirrenden überirdischen Helle, die ihnen das Körperliche nimmt und alle Gegenstände zu Visionen macht. Ein marmornes Märchen, ein versteinerter Mittagstraum inmitten einer smaragdgrünen Wiese. Der schiefe Turm, der dem Gesetz des Gleichgewichts Hohn spricht und das Auge erschreckt, Dom und Battistero blendend wie Schnee und gleichsam durchsichtig vor Helligkeit, dahinter das Camposanto und ganz im Hintergrunde die schwarze, finstere Stadtmauer wie die Grenze der Welt. Die Luft ist dann leicht wie Aether und aus der Erde, die nicht mehr lastet, dringen die Geister herauf und lagern sich vor der Friedhofthür. Das ist der rechte Ort für das Mittagsgespenst, seine fürstliche Metropole, und dort habe ich es zum erstenmal geahnt mit seinem Grauen, das aus dem Urgrund der Dinge heraufsteigt. Aber das war noch nichts – ein paar Jahre später sah ich es wirklich im Pesathal –«

Er verstummte auf einmal und versank in Nachdenken, wie es Einsiedler thun, die nur gewohnt sind, mit sich selbst zu reden.

»Erzählen!« rief es von allen Seiten.

»Da ist eigentlich nichts zu erzählen, es ist nur ein Zustand und keine Geschichte.«

Da ihn aber die Gesellschaft nicht mehr loslassen wollte, so gab er nach und begann:

»Ich hatte an einem Frühsommer in den achtziger Jahren eines schönen Tags den Weg unter die Füße genommen, um, wie alljährlich um diese Zeit, meinen ganzen Menschen auszulüften und zu durchsonnen. Von San Casciano aus wanderte ich planlos ins Land hinein, mein Skizzenbuch unter dem Arm, in das ich mit dilettantischem Vergnügen Schlösser, Villen, phantastische Steinbrüche und Baumgruppen eintrug. Die Nacht verbrachte ich in einer schlechten Kneipe, aus der es mich schon vor Tagesanbruch wieder forttrieb. Nichts Wunderbareres, als so in kühler Morgenfrühe auf einsamen taufeuchten Campagnawegen der Sonne den Vorrang ablaufen, wenn der Himmel noch grau ist und das goldene W der Kassiopeia wie durch einen Gazeflor schimmert, bis ein rosiges Leuchten über den östlichen Hügeln beginnt, und, rollende Wolkenmassen vor sich her schiebend, die Sonne erscheint. Gewaltsam, chaotisch wiederholt sich jeden Morgen das Fiat lux, wie es Michelangelo gedacht hat, man meint den Schöpfergreis selbst zu sehen, wie er ringend Licht und Finsternis scheidet, und es ist nicht zu sagen, welch ungeheure Summe von Glück täglich dem Kulturmenschen verloren geht, der seine Morgenstunden zwischen zwei Betttüchern verdämmert.

»Ich hatte bald einen Punkt erreicht, wo die Landschaft ihren florentinischen Charakter verlor; die Berge rückten in die Ferne, die Gegend erweiterte sich, und ich tauchte in ein ganzes Meer von niederen Hügeln hinein. Zahllos und gleichmäßig wie erstarrte Wellen erhoben sie ihre Häupter, von roten Backsteinvillen oder grauen, steinernen Gehöften bekrönt, die man für Schlösser halten könnte, wenn nicht der Mangel an Fensterläden sie als Bauernhäuser kenntlich machte. Mein Weg führte eine Zeitlang an einem blinkenden, noch wasserreichen Flüßchen hin, das sie die Elsa nannten. Endlose Rebenguirlanden faßten die Straße ein und boten mit ihren mageren Schatten wenig Schutz vor der höher steigenden Sonne. Die Hügel bildeten keine Ketten, sondern stiegen einzeln als kleine Kegel aus dem Boden auf, wenige rund geschnittene Oliven standen daraus wie Kinderspielzeug und schmale, hellglänzende Pfade schlängelten sich zwischen Cypressen hinan wie von Benozzo Gozzoli gemalt.

»Bald wurde es sengend heiß, die reifenden Kornfelder, die kein Lufthauch regte, lagen da und glühten wie ein Stück herabgefallener goldgelber Sonne. Ich begegnete keiner lebenden Seele, denn es war Sonntag, wo die Leute in ihren Gehöften beisammen hocken; nur dann und wann sah ich eine Heerde weißer Hämmel gleich einer dichten Staubwolke um einen grünen Berghang gelagert, oder vernahm das Klingeln unsichtbarer Glöckchen hinter den Hügeln hervor. Mein Weg, der lange den Fluß verlassen hatte, führte durch keine Dorfschaft, sondern immer tiefer in das Hügelmeer hinein; hatte ich eine Anhöhe erklommen, so stiegen, so weit das Auge reichte, unzählige neue Höhen empor, nur nach Süden schloß eine lichte blaue Bergkette den Horizont ab. Die Villen hörten auf und die bebaute Gegend schien ganz verlassen. Hügel auf, Hügel ab, wie eine lange weiße Schlange, wand sich die Straße, das Gefühl der Unendlichkeit weckend; ich mußte wieder an Benozzo Gozzoli denken, dem solche Landschaften auf seinen Bildern vorschwebten, und ich hätte mich nicht gewundert, wenn mir seine ›Drei Könige‹ mit ihren schön geschirrten Rossen und ihren kecken Pagen entgegengezogen wären.

»Schon vor geraumer Zeit hatte ich einen einzelstehenden Berg mit flachem Rücken beobachtet, der aus der Ferne von einem Wald ungewöhnlich hoher Bäume besetzt schien und der, je nachdem mein Weg sich wand, bald links, bald rechts, bald vor mir und bald hinter mir auftauchte. Im Näherkommen bemerkte ich, daß, was ich zuerst für Bäume gehalten, schlanke, viereckige Türme waren, die wie Pfeile hinaufschossen, einige himmelhoch, andre wie auf halber Höhe gehemmt, aber alle von einem starren Trotz, von einer eisernen Verwegenheit, die den Blitzen die Stirn zu bieten schien. Das ganze Hochplateau war von einer starken, durch vorspringende Basteien und Türmchen unterbrochenen Mauer umzogen und erweckte so aus der Ferne gesehen die Vorstellung eines zur Hälfte abgespielten Schachbretts, von dem nur die Türme und ein paar Bauern stehen geblieben sind. Es mußte San Gimignano sein, die merkwürdige Stadt, die ich schon seit Jahren zu sehen wünschte, und ich brauchte jetzt nur der Straße zu folgen, um geradeswegs vor das Thor zu gelangen.

»Im Weitergehen entdeckte ich mit Verwunderung, daß das Weiße, das zwischen der grobscholligen Wegböschung vorglänzte, keine Steine, sondern Muscheln und Austernschalen waren, und auch die Straße zeigte sich mit Gebilden des Meeres beschottert. Weiße Muscheln, groß und klein, in allen denkbaren Arten, bestreuten die Aecker und halfen die Hügel bilden, die gar kein festes Gebein hatten; einige darunter waren tellergroß. Ich stieß auf ganze Austernbänke und auf versteinerte Korallen, die in den Boden verwachsen waren. Dieser lachende toskanische Garten liegt auf altem Meeresgrund, auf einer lockeren Sandwüste, über die einst die breite Woge hinrollte, und ich stand jetzt schon hoch genug, um das ganze ungeheure Becken zu überblicken, das eine ferne, ferne Bergkette wie eine Küste umschloß.

»Die geheimnisvolle Stadt lag jetzt wieder einmal zu meiner Linken und so nah, daß ich hätte können die Sonntagsglocken läuten hören. Die Türme standen auf dem höchsten Punkt und eng beisammen wie zu Schutz und Trutz, während der Rest der Stadt hinter mächtigen grauen Mauern sich auf dem Hügelabhang lagerte. Aber die Straße zog sich mit ihren Windungen noch eine gute Meile hin und nirgends fand ich eine Spur von Schatten. Unsichtbar begleitete mich das schrille Geschmetter der Cikaden, eintönig und gespensterhaft, als habe das grelle, unerbittlich weiße Licht selber eine Stimme bekommen und schreie mir zu. Die Oliven, die in vielfachen Guirlanden allen Linien des Bodens folgten, waren der Wipfel beraubt und zu weiten, leeren Kränzen zugeschnitten, damit die Sonne bis ins Mark dringe. Sonst waren keine Bäume da, nur Brombeergestrüpp und wilde Rosenhecken, die mit den filzigen Büscheln des Lavendels abwechselten.

»Endlich hatte ich den Fuß des Berges erreicht und wanderte eine gepflasterte Straße hinauf. Hinter mir dröhnte es wie Pferdegetrappel, zwei Männer mit breiten Filzhüten galoppierten auf Maultieren finster und stumm vorüber; ohne den Widerhall der Hufe hätte ich sie für Schatten gehalten.

»Ich stand vor einem prachtvollen Thor aus verwittertem Backstein mit gezacktem Gesimse. Ein paar Schritte abseits, unter dem Schatten dürftiger Akazien, floß ein einfaches Röhrenbrünnlein, aus dem ich einen Trunk nehmen wollte, aber das Wasser, durch einen Windhauch zur Seite getrieben, entwich meiner Hand. Ich stand wie im Traume. Während in der Ebene unten die Sonne auf unbeweglichen Halmen brannte, wehte und sauste es hier oben um den Berg, als sei ich in die Heimat der Winde gekommen.

»Auf einer verwitterten Holzbank unter der Akazie saß ein junges Weib mit einem Kinde an der Brust, regungslos wie ein Bild von Stein, und sah müde und resigniert vor sich nieder.

»Ich trat grüßend zu ihr und fragte, ob ich in San Gimignano sei.

»Sie nickte und sah mich mit einem traurigen Blick an, der mich bewog, ihr eine Münze in den Schooß zu legen.

»Eine lange, leere Straße, kühl und finster wie ein Keller, nahm mich auf, und ich wanderte zwischen zwei Reihen hoher Paläste, die zuweilen durch schwebende Brücken verbunden waren, in die Stadt hinein. Da und dort gab ein Quergäßchen, durch das der Wind pfiff, eine plötzliche Durchsicht auf das dunkle Blau des Himmels bis tief hinab zum Horizont frei. Die Straße mündete auf den Kirchplatz, wo die erstaunlichen Türme standen, der höchste, am Rathaus, mit Schmuck und Kranzgesimse, die andern ohne Bekrönung, stumpf, wie oben abgeschnitten, und ich erschrak vor der trotzigen Kühnheit dieser Bauten; nur ein Frevel konnte sie so hoch und himmelandrohend hinaufgeführt haben.

»Trotz der Hitze auf der im grellsten Sonnenlicht gebadeten Piazza lief mir ein kalter Schauder über den Leib – ich spürte die Luft eines fernen Jahrhunderts um mich her. Ein eisernes Volk mußte hier gewohnt haben, gefährlich und grausam, dem für die Größe seiner Vaterstadt alles erlaubt war, und ich bedauerte die Nachgeborenen, die verdammt waren, im Schatten dieser Türme ein sieches, gedrücktes Dasein hinzuschleppen. Die wenigen, denen ich beim Eintritt begegnet war, schlichen mir mit scheuen Schritten aus der Entfernung nach. Ein etwa dreizehnjähriger Junge, von dem ich nichts erfahren konnte, als daß er Orazio hieß, hatte sich mir schon unter dem Stadtthor angeschlossen und begleitete mich hartnäckig, aber ohne ein Wort zu reden. Ich gab ihm unbedachterweise ein paar Soldi, um ihn los zu werden, und machte ihn dadurch erst recht zu meinem Schatten.

»Auch die andern lungernden Schemen, die wir unterwegs trafen, hingen sich an meine Fersen, und mit der stummen Begleitung hinter mir wanderte ich weiter durch lange hallende Gassen und ausgestorbene Plätze, und ich staunte zu den finsteren Baukolossen hinauf, die die Straßen in tiefe Schatten hüllten. Schlanke Marmorsäulchen stützten die runden Fensterbögen, und Ornamente von maurischer Zierlichkeit liefen über die Vorderseite der Häuser hin und erhellten den gewaltigen Ernst der alten Quadern und Backsteine mit einer Fülle von Phantasie. Seit den Tagen des Mittelalters war hier kein Stein verrückt worden, keine Neubauten drängten sich dazwischen, und die Paläste waren vollkommen erhalten, als ob die Zeit, die alles wegfegt, was sie nicht umgestalten kann, diese Stadt allein auf ihrem Lauf vergessen habe.

»Ich passierte monumentale Thore mit den Resten römischen Mauerwerks im Stadtinnern, die augenscheinlich von einem früheren Mauerkreis herrührten und noch viel älter waren als die äußeren Befestigungen, ich sah wundersame Tempelfassaden, die aus vorchristlichen Zeiten stammen mochten, prächtige Steintreppen und reich geschmückte Säulenhöfe. Durch eine Seitengasse kam ich auf den Domplatz zurück, als eben die Kirchenportale aufgingen und eine dunkle Menschenwoge sich die Stufen herunter in die mittagshelle Piazza ergoß.

»Im Nu war ich umringt, man starrte mich an wie ein fremdartiges Tier und schien sich zu wundern, durch welchen Zauber ich den Weg heraufgefunden habe. Männer, Weiber, Kinder umstanden mich stumm, ein ganzes Volk von gaffenden, hohläugigen Gespenstern. Ihre Kleider waren abgenutzt, ihre Gesichter müde wie übernächtig, und die Blicke, mit denen sie an mir hingen, schienen zu fragen: Was will dieser Mensch aus einer andern Zeit?

»Sei es, daß meine Ausrüstung etwas Auffallendes hatte, sei es, daß überhaupt selten Fremde nach San Gimignano kommen, sicher ist, daß ich nie ein neugierigeres und mißtrauischeres Volk gesehen habe. Auf jede Frage antworteten sie mit der Gegenfrage, wer ich sei, was ich hier suche und wie lang ich zu bleiben gedenke. Die einen bettelten, andre boten mir wertloses Gerümpel zum Kauf an, und ihre ernsten Gesichter paßten so wenig zu dieser Verkommenheit, als ob sie gar nicht ihnen selbst gehörten, sondern alte Erbstücke wären, die ihre ursprüngliche höhere Bestimmung eingebüßt haben. Wohin ich ging, da zogen sie mit, schweigend, eine immer wachsende Prozession, denn auch die andern Kirchen hatten sich mittlerweile entleert. Da und dort blickte wohl ein hübsches Mädchengesicht aus dem Haufen, aber auch sie hatten etwas Fahles, Freudloses, als ob ein unerträglicher Druck auf ihnen laste, und die Stadt erschien mir mit ihren Bewohnern noch viel unheimlicher als zuvor, da ich nur die leeren Plätze und Gassen gesehen hatte.

»Nachdem ich noch die Kirchen mit ihren berühmten Chormalereien betrachtet, trat ich endlich etwas abgespannt in eine Herberge, und ganz San Gimignano wälzte sich natürlich nach. Der Wirt, der womöglich noch abstoßender aussah als seine Mitbürger, hatte Mühe, mir Luft zu schaffen und die Leute aus der Gaststube zu entfernen, während ich zwei Gläser Wein leerte und dazu mit Ueberwindung ein paar Bissen aß.

»Aber auch so wurde mir das Bleiben unerträglich, denn die Stube roch nach unbewohnten Räumen, und obwohl ich sogleich alle Fenster aufsperrte, war ein dumpfer, kellerartiger Geruch nicht zu vertreiben.

»An der geschwärzten Wand hingen zwei Bilder, die ich mir aufmerksam besah. Das eine, in rohen Farben auf Leinwand gemalt, war offenbar die nicht sehr geschickte Kopie eines alten Gemäldes und stellte den Schutzpatron von San Gimignano dar, einen heiligen Bischof mit Inful und Hirtenstab, der die ganze Stadt mit allen ihren Türmen wie ein Schachbrett auf dem Schooße hielt. Die Stadt und wieder die Stadt! Wie seltsam und ehrwürdig zugleich erscheinen sie uns mit ihrem Heimatkultus, diese Alten, denen kein Opfer zu groß war für die Scholle, von der sie stammten. Welch glühender Gemeinsinn, welche Leidenschaft, stark wie der Tod, muß ein ganzes Volk verbunden haben, damit eine Stadt entstehen konnte, wie diese, wo jedem Stein der Wille einer ewigen Dauer eingeflößt ist! Wie hat jeder einzelne gerungen und gedarbt, um seine Geliebte, die Stadt, desto reicher zu schmücken! Und wie fern fühlen wir uns von diesen trotzigen Ansiedlern, wir Modernen, die auf der Erde keinen festen Fuß mehr fassen können, und denen mit dem Bedürfnis auch die Fähigkeit zu bauen abhanden gekommen ist! Respekt vor diesen Alten!

»Das andre Bild, auf einer zersprungenen Holztafel und stark von der Zeit beschädigt, schien Original zu sein und aus den guten Tagen der Kunst zu stammen. Es zeigte ein junges Mädchen mit aufgewundenem Haar, das eine tellerartig ausgehöhlte Muschel mit einem durchschnittenen Granatapfel in der Hand trug. Gestalt und Gewandung waren verwischt, aber die anmutigen Züge ließen sich gerade noch erkennen. Je länger ich sie ansah, desto mehr fesselten sie mich mit einem seltsam persönlichen Interesse. Die Wangen waren von zwei breiten Feuchtigkeitsflecken zerfressen, und gerade diese Verletzungen gaben ihrer Schönheit einen melancholischen Reiz, als ob sie mit dazu gehörten.

»Es lag etwas in diesem Gesicht, das mich nicht los ließ, das mich quälte, das mein Mitleid anrief wie ein unverdienter und ungesühnter Schmerz.

»Der Wirt, der mir keinen Augenblick von der Seite wich, als ob er einen Staatsgefangenen zu bewachen habe, bestätigte meine Vermutung wegen des ersten Bildes: ein junger Künstler, der eine Zeitlang hier gewohnt, hatte es nach einem alten, im Rathaus befindlichen Gemälde kopiert und bei der Abreise zurückgelassen. Von dem zweiten konnte oder wollte er mir nichts sagen, als daß es sich seit undenklichen Zeiten in seiner Familie befinde und daß man nicht mehr wisse, wen es vorstelle. Sobald er mein Interesse bemerkte, schlug er mir vor, das Bild zu kaufen und ließ nicht ab, bis ich ihm eine unbedeutende Summe dafür bot. Dann aber that er plötzlich kostbar, redete von einer geheimnisvollen Bewandtnis, die es mit dem Mädchen haben sollte, und wünschte, daß ich lieber das andre Bild nehme, worauf ich ihn einfach auslachte und meiner Wege ging.

»Vor der Thür fand ich wieder eine große Menschenansammlung, die auf mich wartete, und Orazio, der offenbar durch die längere Bekanntschaft ein näheres Recht an mich erworben zu haben glaubte, nahm mich schon im Korridor in Empfang. Ich stieg nach dem märchenhaft verwilderten Festungsgarten hinauf, um mich ins schattige Gras zu strecken, und bedeutete dem Haufen mit Nachdruck, daß ich kein Gefangener sei und daß ich endlich allein zu bleiben wünsche. Die Leute zerstreuten sich murrend, aber den stummen Jungen ließen sie als Wache neben mir zurück. Er kauerte sich wie ein Hund ganz dicht zu meinen Füßen nieder und hing unbeweglich mit den hungrigen, immer wachen Blicken an mir, als habe er etwas zu forschen, zu begehren, wofür ihm die Sprache fehlte. Ich saß wie gebannt, so seltsam schien mir das alles. Wahrlich, ein Fluch, der forterbt, muß schuld sein, daß dieses Volk nicht lachen kann. Als der Junge endlich eingeschlummert war und ich mich leise wegstehlen wollte, tauchten oberhalb der Mauer zwei Männer auf, die ihn mit Steinwürfen weckten. Nun griff ich zur List und schickte ihn mit etwas Geld und einem Auftrag fort, indem ich von Herzen hoffte, daß er sich die Gelegenheit zu nutze machen und mit der Beute verschwinden werde.

»Als er mich verlassen hatte, wurde mir erst wohl und leicht. Von meiner Warte aus überblickte ich die ganze unendliche Ebene mit den zahllosen Olivenhügeln, die ihre Häupter reckten wie schaumgekrönte Wellen. Wie lange mochte es her sein, daß das Meer über dieses Becken hinrauschte. Und wenn es jetzt wieder käme mit ungeheurem Schwall zurückzufordern, was einst sein war, und es nähme all diesen blühenden Menschenfleiß mit fort, um sich erst ganz unten an der blauen Schranke des Gebirgs zu brechen! Ob es wohl auch diese Stadt mit ihren Türmen fortnähme oder ob sie dann als einsame Insel aus den Fluten ragen und nach wie vor den Jahrhunderten Trotz bieten würde?

»Ja, diese Türme, sie hatten es mir mit dämonischem Zauber angethan. Wer gab ihnen das Recht, sich so festen Fußes in den Boden einzurammen? Woher brachte man nur die Steine, um diese himmelhohen Bauten auszuführen? Welcher Zauber ist in ihren Grundmauern eingeschlossen? –

»Ich vergrub meinen Kopf in Thymian und blühenden Erdrauch und blinzelte durch die Ritzen meines Strohhuts. Der Wind hatte sich gelegt, und es wurde so still, als ob die Zeit schliefe. Die unbeweglichen Blätter einer Olive über mir sahen aus wie vom Goldschmied ziseliert, und wo der Himmel durch das silberne Laubwerk blickte, ging sein tiefes Blau ins Schwärzliche.

»Nun schlug es Mittag. Langsam und bleiern fielen die zwölf Schläge vom nahen Glockenturm und verzitterten in der glühenden Stille. Nach dem letzten aber schütterte die Luft immer weiter, als wolle der Nachhall kein Ende nehmen. Es war nicht das Ausklingen des Stundenschlags, sondern ein seltsamer, mir unerklärlicher, lautloser Lärm, wie von Tausenden von Menschentritten jenseits der Festungsmauer, die keinen Hall auf dem Pflaster weckten. Das Schwingen und Zittern wuchs, es kam heran wie summende Stimmen, ein Murmeln und Psalmodieren – war’s fern, war’s nahe, war’s über mir in der Luft, war’s im Boden? Ich riß die Augen auf, aber ich sah nichts, mein Blick durchdrang den Raum und faßte nichts als die körperlose Helle. Und doch fühlte ich, daß etwas um mich war, und mir wurde eiskalt in der sengenden Hitze.

»Aber die durchsichtige Luft verdichtete sich allmählich unter der Anstrengung meiner Sehkraft, schwankende, unbestimmte Umrisse traten hervor, die ich weiße Schatten nennen möchte, halbzerflossene Gestalten, nicht wie leibhaft gegenwärtig, sondern wie durch eine Fata Morgana von weither gespiegelt. Sie hatten zuerst nur zwei Dimensionen und ließen die Gegenstände hindurchscheinen. Je länger ich aber hinstarrte, desto runder und körperlicher wurden sie, ich begann auch die Farben zu unterscheiden, das Violett einer Kirchenfahne drang zuerst hindurch, dann erkannte ich Priester in Meßgewändern mit Kreuzen und Weihwedeln, Magistrate in seltsamen wallenden Talaren und eine ungeheure Menge Volk, von der ich nicht begriff, wie sie auf dem engen Plateau Raum hatte. Schulter an Schulter standen sie, einer auf die Fersen des andern tretend, und so seltsam ineinander geschoben, als ob mehrere Generationen zugleich ihren Fuß auf denselben Fleck Erde gesetzt hätten. Aber was für Gesichter! Der verbissenste Trotz, die rücksichtsloseste Härte, verbunden mit einer tückischen Verschlagenheit, sprachen sich darin aus. Der unheimliche Typus, den ich von Anfang an mit Befremden unter der Bevölkerung wahrgenommen, erschien bei ihnen ins Furchtbare gesteigert, eine saugende Gier, etwas wie Hunger, aber nicht nach irdischer Speise, lag in ihren Augen. Ich zitterte, daß ihre Blicke auf mich fallen könnten, aber sie sahen alle an mir vorüber, als wäre ich nicht vorhanden, und ihre Augen hefteten sich auf einen gemeinsamen Mittelpunkt, einen kellerähnlichen Schacht zunächst der Mauer, an dessen Rand ein riesiger Haufe bearbeiteter Steine aufgeschichtet lag. Die Spitze einer Leiter sah daraus hervor und Hammerschläge tönten von innen. Rechts und links von diesem Schacht hatten sich die Würdenträger aufgestellt und bewaffnete Männer hielten dahin ein Gasse frei, indem sie die angehäufte Menge von beiden Seiten zurückstauten.

»Was geht hier vor? dachte ich und wagte vor Beklemmung nicht zu atmen. Ganz zufällig fiel mein Blick über die Köpfe der Menge weg nach der glühenden, vor Hitze zitternden Ebene hinunter, denn ich hatte mich auf die Zehen gestellt, und ich gewahrte einen schwarzen beweglichen Strich, den ich zuvor nicht gesehen hatte. Er glich aufs Haar einer wimmelnden Ameisenprozession und zog sich vom Fuß unsres Hügels in unabsehbare Ferne bis an die Berge hinüber. Erst allmählich erkannte ich, daß es eine lange Kette von Menschen war, und ihre Unruhe rührte von der Bewegung her, mit der sie schwere Steine von Hand zu Hand reichten.

»Mich durchzuckte es wie ein Blitz: Die Wahnsinnigen, sie bauen einen neuen Turm!

»Ehe ich mir diesen Gedanken völlig klar gemacht hatte, erscholl eine fremdartige Musik, die nur aus wenigen, immer wiederholten Tönen bestand und etwas unendlich Klagendes hatte. Ueber die Menge lief eine wallende Bewegung, alle Köpfe drehten sich nach der Seite, von der die Töne kamen. Durch die Menschengasse schritten Musikanten daher, mit seltsam geformten, mir unbekannten Blasinstrumenten, ihre Beine steckten in grellfarbigen engen Geweben, dergleichen auch viele von den Zuschauern trugen, und ich fand es gar nicht auffallend, daß sich auch die altertümliche Tracht erhalten hatte in dieser Stadt, die selber ein Stück versteinerter Vergangenheit ist. Sie bewegten sich jetzt vor mir in vollkommen greifbarer Deutlichkeit und ich verstand nicht mehr, wie es kam, daß ich sie vorher nur so blaß und wesenlos wahrgenommen hatte; es war, als habe sich mein Auge jetzt an eine neue Art von Sehen gewöhnt.

»Den Musikanten folgten zwei Männer, deren Anblick mir unvergeßlich bleibt. Der eine zur Rechten, im schwarzen, mit Sternbildern besäten Mantel, hatte eine ernste, unnahbare Haltung, und als er den Kopf wandte, so daß sein Blick nah an mir vorüberstreifte, erinnerte er mich an ein Gesicht, das ich kurz zuvor gesehen hatte; ob es aber der gemalte Stadtheilige war oder eines von den Bildern an den Kirchenwänden, wüßte ich jetzt nicht mehr zu sagen. Der andre dagegen ist mir noch so lebhaft im Gedächtnis, daß ich ihn zeichnen könnte, – eine lange, hagere Gestalt im gegürteten Arbeitsrock, Meßstab und Hammer in der Hand, ich hielt ihn für den Baumeister. Sein Gesicht war zerrüttet wie eine Stadt, die vom Erdbeben heimgesucht worden ist, und hatte einen furchterregenden Ausdruck, als sei einmal ein übermenschlicher Jammer darüber hingegangen und von einem übermenschlichen Willen niedergekämpft worden. In seinen hohlen Augen glühte eine erbarmungslose Energie; so mag ein Verdammter blicken, der um einen hohen Preis seine Seele verkauft hat und sich noch des Handels freut. Den Beiden folgte ein Diener, einen verhüllten Gegenstand in den Armen haltend.

»Am Rand des Schachtes erhob der Schwarze seinen Stab, der in verschnörkelte astrologische Zeichen auslief. Das Glöckchen bimmelte, das Volk fiel auf die Kniee und Totenstille breitete sich über die Versammlung. Ich sah, wie von innen die Leiter fester angelegt wurde und der, welchen ich für den Baumeister hielt, streckte die Arme nach dem Gegenstand aus, den der Diener aus den Tüchern schälte. Da begann sich etwas zu regen und man vernahm das Wimmern eines Kindes, das sofort durch eine Männerhand erstickt ward.

»Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn und im Nu kam mir ein Aberglaube aus finstern Zeiten zum Bewußtsein, wonach ein Lebendiges, in die Grundsteine vermauert, einem Gebäude Dauer sichern soll bis ans Ende der Tage.

»Jetzt aber zerriß ein Schrei die Stille – ich darf nicht sagen ein Schrei, es war nur wie das Gespenst eines Schreies, denn man hörte nichts, man fühlte nur das scharfe Schneiden durch die Luft. Ein Weib kam durch die offene Gasse dahergerannt und wollte sich auf den Baumeister werfen, aber die Bewaffneten stießen sie zurück. Sie trat und schlug um sich wie rasend und stieß im Ringen kurze schrille Schreie der Verzweiflung aus, die sich in kurzen Absätzen folgten und mir durch Mark und Bein schnitten. Einer von den Männern preßte ihr die Hand auf den Mund, andre ergriffen sie bei Armen und Beinen und schleppten sie durch die Menge heraus. Ich wollte ihr zu Hilfe kommen, ich wollte rufen: Wozu die nutzlose Grausamkeit, der Zauber ist ja doch gebrochen! – denn ich verstand wie durch Erleuchtung den ganzen Vorgang, ich begriff, daß das Werk nur gelingen konnte, wenn kein Ton laut ward.

»Aber mein Körper blieb gelähmt, mein Mund versiegelt. Das Weib wurde ganz nahe vor mir ohnmächtig vorbeigetragen; ich sah in ihr Gesicht, es war die Bettlerin, die ich beim Stadtthor neben dem Brünnlein gesehen hatte – oder nein, es war nicht sie selbst, aber eine, die ihr glich, eine, von der das Weib am Brunnen das verjüngte Abbild war. Auch trug sie eine von der heutigen ganz verschiedene Tracht.

»Mit einem Ruck ließ mich der Bann los, ich fand meine Kraft wieder und warf mich unter das Volk, aber die dichte Menge, die Bewaffneten, die Priester, alles spaltete sich vor mir wie Luft. Ich fand im Herausstürzen gar keinen Widerstand und mein Anlauf war so heftig, daß ich fiel. Wohin, ins Leere, in die offene Grube? Ich weiß es nicht.

»Ich war gleich wieder auf den Füßen und fühlte mich unverletzt, aber um mich her war es stichdunkel. Ich suchte die Leiter, die ich vorher gesehen hatte, aber ich stieß nur auf gemauerte Wände. Kein Strahl drang von oben herein und Totenstille umgab mich. Was war geschehen? Wo befand ich mich? War ich selber eingemauert? Ein Krampf der Angst befiel mich, und im Umhertappen merkte ich, daß ich in einen Gang geriet, ich bekam eine feuchte Erdwand zu fassen und der Grund, auf dem ich mich forttastete, senkte sich nach abwärts. Tiefer, immer tiefer ging’s in zahllosen Windungen, ich mußte mich unterhalb der Straße befinden, denn über meinem Kopfe wanderten hallende Schritte auf dem Pflaster. Plötzlich stieß ich mit der Zehe schmerzhaft an einen herabgefallenen Stein, und durch den Gang, der hier zu Ende war, fiel ein schwaches Licht.

»Ich untersuchte das zerbröckelte Gemäuer und geriet an eine Oeffnung, die groß genug war, um einer Person Einlaß zu gewähren. Mühselig zwängte ich mich hindurch und fand unter meinen Füßen ein paar Stufen, die ich vorsichtig hinunterstieg. Ich war auf eine große Tiefe gefaßt, aber unversehens trat ich wieder auf erdigen Grund und sah mich in einem verließartigen Raum tief unter den menschlichen Fußtritten. Ein Lämpchen stand in der Ecke am Boden und warf seinen unsicheren Schein auf feuchte Tuffsteinwände.

Im Halbdunkel, auf einem moosbewachsenen Stein regte sich eine sitzende Gestalt. Es war das Mädchen von der zersprungenen Holztafel, ich erkannte sie auf der Stelle. Ihre langen Haare waren aufgekämmt und lagen wie ein faltiges Gewand um sie her am Boden. Und richtig, zu ihren Füßen stand auch der Muschelteller mit der durchschnittenen Granate.

»Es kam über mich wie ein großes Glück und ein großer Schmerz. ›Silvia!‹ rief ich, denn ich wußte auf einmal sicher, daß sie so hieß, aber als sie den Kopf aufhob, sah ich auf ihrem wunderschönen Gesicht dieselben Moderflecken wie auf dem Gemälde, und sie lächelte traurig über meine Bestürzung.

»›Ja, ich bin sehr verändert,‹ sagte sie leise.

»Ich drückte ihre Hände, um ihr zu sagen, daß ich sie auch so noch schöner fand, als jedes schöne glückliche Geschöpf, und ich weiß nicht genau wie es zuging, daß ich mich gleich danach auf jenem bemoosten Steine sitzend fand, wobei mein Arm um ihren Nacken lag.

»›Erschrick nicht, daß ich so häßlich bin,‹ sagte sie, ›ich liege schon so lange hier unten und höre, wie der Sturm an den Türmen rüttelt, aber sie stehen noch immer.‹

»›Und wer – wer hat das gethan?‹ wollte ich fragen, aber ich konnte es nur denken, denn meine Stimme hatte keinen Ton.

»Sie verstand mich doch, denn sie sagte so leise, als spreche sie ein furchtbares Wort aus: ›Mein Vater.‹

»Ihr Vater! – Ja, das war’s! Ich wußte es ja bereits – es war die alte gräßliche Geschichte, die ich schon einmal gehört und wieder vergessen hatte; so wenigstens schien es mir jetzt.

»Ihr Vater war der größte Baumeister von San Gimignano gewesen und sein Ehrgeiz flog so hoch, daß er sich verschwor, seine Türme sollten dauern bis ans Ende der Tage. Ein Astrolog stand ihm zur Seite, der die Sternenstunde ansagte, dann wurde der Grundstein gelegt und ein Kind lebendig in den Schacht vermauert. So viel Türme, so viel Verbrechen. Aber als er den höchsten und stärksten Turm baute, da zwang ihn das Volk, seine eigene Tochter lebendig zu begraben. Sie war das schönste Mädchen der Stadt und hieß Silvia.

»Sie schmiegte sich näher an mich, daß ich die Kälte ihres Körpers fühlte, und sagte, wie um meine Gedanken fortzusetzen: ›Ich war verlobt mit einem edlen Jüngling – der hat nun längst eine Andre heimgeführt, während ich hier unten liege und verzweifle. – Wollen denn die Reiter auf den weißen Rossen noch immer nicht kommen?‹ fragte sie nach einer Weile.

»›Ich habe keine Reiter gesehen,‹ sagte ich.

»Nun erfuhr ich, daß einmal in ferner, ferner Zeit, am Ende der Tage, von Westen her die weißen Reiter kommen und alles Land zurückholen werden, denn die weißen Reiter, sagte sie mir, seien die Urbewohner des Bodens. Dann würden nach einer uralten Prophezeiung auch diese Türme fallen, aber eher nicht.

»Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als mir ein brennender Durst, den ich vorher nicht gespürt, zum Bewußtsein kam. Sie schien auch das zu wissen, denn sie reichte mir mit einem seltsamen Lächeln den Muschelteller mit der Granatfrucht. Ich wollte zugreifen, aber erschrocken fuhr ich zurück, denn die Flecken auf ihren Wangen wurden tiefer, das Gesicht hohler, immer hohler, bis die Knochen durchschienen, ein Totenkopf starrte mich an – nur einen Augenblick, dann lief ein Ruck durch ihre Glieder und ein Gerippe zerbrach in meinen Armen.

»Mit einem fürchterlichen Schrei fuhr ich zurück und schlug den Kopf ans Gemäuer. Ich lag noch immer im Schatten der Olive, aber mit der Stirn auf einer Steinkante und mit dem Körper in dornigem Gestrüpp. Alles war verändert, an Stelle des gemauerten Schachts befand sich eine mit Kies gefüllte Grube und zerbröckeltes Gestein, zwischen dem der graue, scharfriechende Wermut rankte. Ich blutete aus der Stirn und hatte mir beim Herabrutschen ins Geröll die Hände zerschürft, daß ich mich an dem tiefen Ziehbrunnen reinigen mußte. Alles ging mit mir im Kreise, und der Boden war so unsicher unter meinen Füßen, als könnte ich jeden Augenblick hinunterstürzen in ein neues Schrecknis hinein. Die silbernen Olivenhügel in der Ebene drunten erschienen mir jetzt wie zahllose Reitergeschwader auf milchweißen Rossen, und ich meinte den Schaum von den Mähnen spritzen zu sehen.

»Von Grauen geschüttelt, kam ich in meiner Herberge an, wo das Unglücksbild schon verpackt und verschnürt meiner wartete. Ich gab dem Wirt eine kleine Entschädigung, damit er es behalte, und um keinen Preis hätte ich mich entschlossen, eine Nacht unter diesen Türmen zu verbringen.

»Sobald die Sonne sich neigte, stieg ich den Berg hinunter, von dem stummen Orazio noch eine weite Strecke begleitet, und trat den Rückweg durch das Hügelmeer an. Die Türme sahen mir noch lange nach, aber ich wandte nicht eher den Kopf zurück, als bis das steinerne Alpdrücken hinter mir in blauem Duft versunken war.« – –

Als er geendet hatte, fragte man ihn von allen Seiten: »Und das Bild? Haben Sie nie etwas Näheres darüber erfahren?«

»Ich bin nie nach San Gimignano zurückgekehrt.«

»Solch ein Angsttraum kann einem freilich das Wiederkommen verleiden,« meinte jemand.

Der Erzähler antwortete nicht, sondern sagte mit seiner dunklen Stimme nachdenklich vor sich hin: »Es giebt auch Ereignisse, die nicht schlafen können.«

»Es giebt auch Gespenster von geschehenen Dingen,« setzte er hinzu und sah sich auf eine Weise im Zimmer um, daß es Alle überlief.