von Ludwig Thoma

Der alte Buchberger Hans saß auf der Hausbank und ließ sich so behaglich wie die Katze neben ihm die warme Märzensonne auf den Pelz brennen. Auf dem Dache zerging der letzte Schnee, und eintönig plätscherte es von der Rinne auf die Kieselsteine. Drüben am Waldrande lag schon ein grüner Schimmer über den Sträuchern, und dem Hans kamen fröhliche Gedanken von schönen Tagen und Wiederaufwachen aus langem Schlafe.

Zufrieden patschte er sich auf das linke Knie und rieb ein wenig daran.

Das war auch wieder gut geworden; viel besser, als er geglaubt hatte nach dem bösen Fall im vorigen Jahre.

Hätte leicht steif bleiben können, und das wäre ihm hart gefallen in seinen alten Tagen, und weil er ja auch noch arbeiten wollte neben den Jungen in dem kleinen Haushalte, der jede Beihilfe brauchen konnte.

Aber so war es nun wieder recht geworden. Der Unfall zahlte ihm fünfzehn Mark alle Monate, und weiß Gott, wie wohl ihnen das Bargeld tat, wenn es noch so wenig war, und faulenzen brauchte er deswegen doch nicht.

Er schlenkerte mit dem Fuß und streckte ihn wieder geradeaus.

Es ging schon, jawohl, und vor ein paar Tagen war er mit dem Jungen auch auf der Bergwiese droben gewesen und war rechtschaffen müd geworden.

Aber es ging und wurde alleweil besser.

Alleweil besser.

Da schau her! Den sonnigen Hang herauf kam ein Spaziergänger, ein städtischer Herr, der oft stehenblieb und ausschnaufte.

Tat halt einem jeden wohl, Wärme und Sonnenschein.

Jetzt nahm der Herr den Hut ab und trocknete sich die Stirne.

Der sah beinahe aus wie der Bezirksarzt mit seinem langen Vollbart, und so groß und breitschultrig war er auch.

Richtig, da fiel dem Buchberger ein, daß die Leitnerbäuerin krank war, und vielleicht ging jetzt der Doktor zu ihr …

Und war schon so.

Von weitem schon lachte der Bezirksarzt freundlich, wie er den Alten erkannte, und der Hans stand auf und grüßte höflich.

„Das is ja der Buchberger? Grüß Gott! Darf ich mich a bissel hersetzen?“

„Ja freili, Herr Bezirksarzt! Oder soll i an Sessel außa hol’n?“

„Na! I sitz gut g’nug.“

„Gengan’s g’wiß zum Leitner aufi?“

„Ja … mhm … no, wie geht’s Ihnen?“

„Guat … Herr Bezirksarzt … Bin woh z’fried’n …“

„Das hört man gern … ja! so ein alter Veteran laßt nicht aus!“

Der leutselige Bezirksarzt klopfte dem Hans auf die Schulter und schaute ihm mit herzlichem Wohlwollen in die Augen.

„Sie sind ja noch einer von Anno siebzig?“ fragte er.

„Siebazgi und sechsasechzgi.“

„Und sechsundsechzig! Allen Respekt! Da haben Sie was durchg’macht im Leben!“

„Ja … dös ko ma wohl sag’n.“

„Fürs deutsche Vaterland!“

Und der freundliche Mann tätschelte wieder den braven alten Soldaten auf die Achsel.

„No, von sechsasechzgi kann i net viel prahl’n,“ sagte der Hans. „Da san ma de mehra Zeit retariert, weil si koa Mensch net auskennt hot und überhaupts …“

„Ja … ja … der Bruderkrieg!“ sagte der Arzt lächelnd.

„Aba … siebazgi! Sakera Hosenzwickl! Da hamm’s as ins dafür ei’kocht! I bin bei Wörth dabeig’wen und bei Sedan … und nacha bei Orleanß hinten! Bei Kulmirs hamm s’ an Major Gruaba neben meiner aufi g’schoss’n, und i und da Hage Pauli, mir hamm an im größt’n Feuer z’ruckbracht … und hab aa ’s Eiserne Kreuz kriagt für dös und bin belobigt wor’n vorn ganz’n Regament …“

„Ja, was Sie sagen!“

Der Bezirksarzt streckte dem eifrigen Alten seine Hand hin. „Respekt — Buchberger! Ein deutscher Ritter des Eisernen Kreuzes! Da müssen wir Jüngeren den Hut ziehen!“

„No ja! Es hätten’s eigentli alle vadeant, denn was mir selbigsmal durchg’macht hamm, dös war a wengl hart … und i sag’s oft, de junga Leut achten’s nimmer a so, aba es hat scho was braucht!“

„Ja, die jungen Leute! Die werden von den sozialdemokratischen Zeitungen vergiftet. Das findet man nicht mehr, wie früher … diese … diese Einfachheit und … ah … diese … diese Vaterlandsliebe …“

„Gel? I sag’s aa’r allaweil! De Patriot’n san nimmer gar so viel! Und wenn ma was sagt, wurd ma glei ausg’lacht von de Grasteufl!…“

„Es ist schlimm, Buchberger! Schlimm! Aber ein alter Soldat, wie Sie, der laßt sich nicht irrmachen …“

„Ja, was waar denn net dös? I laß net aus.“

„Einer von der alten Garde! Han?“

„Und de Erinnerung gab i net her … dös derfen S’ g’wiß glaab’n, Herr Dokta … Sakera Hosenzwickl … wia mir einmarschiert san …“

„In Paris? Was?“

„In Paris net; da bin i net dabeig’wen, weil inser Regament heraußd bleib’n hat müass’n … aba in Münk’n … do bin i nobl mit …“

„Vor dem Kronprinz’n?“

„Und an Kini; vor der Feldherrnhalle san ma an eahm vorbei …“

„Parademarsch?…“

„Dös glaab i! Neig’haut, daß d’ Stoa g’wackelt hamm!“

„Eins … zwei! Eins … zwei …! Ob’s heut noch ging, Buchberger?“

„Probier ma’s!“ lachte der Alte und sprang von der Bank auf und nahm die Hände an die Hosennaht. Augen links! nach dem Bezirksarzt, und eins und zwei … eins und zwei … und es ging noch.

Freilich nicht mehr so stramm, daß die Steine wackelten, aber ganz passabel, daß der joviale Arzt in die Hände patschte und herzhaft lachte.

„Bravo, Buchberger!“ rief er, als sich der Hans wieder setzte und patschte ihm urkräftig auf das Knie … „ja, ihr alten Veteranen, ihr seid aus einem andern Stahl als wir!“

„Woaß net,“ sagte der Hans, „i g’spüret’s glei im Hax’n …“

„I wo! Sie sind ja marschiert wie ein Gardeleutnant … also, jetzt muß ich aber gehen … es hat mich recht g’freut …“

„Mi scho aa, Herr Bezirksarzt, und kehren S’ wieder amal zua! Adjes!“

„Dös is a liaba Mo!“ sagte er noch vor sich hin, als sich der Doktor langsam entfernte — „a ganz a g’führiger Mo!“

***

Eine Woche später, und es war schlechtes Wetter, regnete und schneite durcheinander, brachte der Postbote dem Buchberger ein Schreiben, das sich der Länge und Breite nach amtlich ausnahm und auch einen Stempel trug.

„Geh, Alte, hol mir mei Brill’n!“ Als er sie bedächtig aufgesetzt und das Schreiben geöffnet hatte, las er langsam die Mitteilung, daß ihm die monatliche Unterstützung von fünfzehn Mark entzogen werde … entzogen werde … indem daß der Königliche Bezirksarzt Dr. Stierlinger sich persönlich davon überzeugt habe … daß genannter Buchberger von den Folgen des Unfalls gänzlich geheilt sei und nicht die geringsten Beschwerden … Beschwerden am Fuße mehr verspüre …

Ah!

Ja … Himmel … Herrgott …

Unser guater, alter Herzog Karl

Das neue Jahr soll uns eine andere Behandlung der Majestätsbeleidigung bringen. Ich will es nicht entscheiden, ob die Neuerung viel verbessern wird in der deutschen Welt.

Aber eines weiß ich, und eines bedauere ich.

Mein alter Freund Simon Lackner wird sich nicht mehr so leicht ein billiges Winterquartier verschaffen können.

Und das ist hart.

Denn Simon Lackner ist neunundsechzig Jahre alt; ein herzensguter Kerl.

Jetzt soll er als Greis eine neue Methode ersinnen, nachdem er sechzehn lange Jahre hindurch mit der alten so schöne Erfolge erzielt hat.

Ihr lieben Mitmenschen, denkt euch in seine Lage!

Von Jugend auf war er ein stellenloser Schreinergehilfe; ein fahrender Handwerksbursche. Das ist wohl ein schönes Metier, wenn der Apfelbaum am Straßenrand blüht, und wenn ein Mensch, der auf dem Rücken im Grünen liegt, mit blinzelnden Augen der Lerche hoch hinauf in die blaue Luft nachschaut. Das ist wohl ein schönes Metier, wenn die Kornähren sich über dem müden Haupte wiegen und am heißesten Sommertag einen erquickenden Schatten spenden. Auch ist es fröhlich und freudenvoll, wenn noch eine mildtätige Herbstsonne auf den Buckel brennt, und wenn die zerrissenen Schuhe durchs gelbe Buchenlaub rascheln.

Aber wenn die kalten Novemberwinde pfeifen und alte Felber in die Gräben rollen? Wenn die Landstraßen aus dem Leim gehen und pfundschwerer Brei an den Sohlen hängen bleibt?

Wenn der kalte Regen mit tausend Nadeln sticht oder die Schneeflocken wirbeln? Wenn alle warmen Ofenbänke von hartherzigen Bauern besetzt sind, die für einen armen Handwerksburschen nicht zusammenrücken?

Da wird’s dem abgehärteten Landstreicher wehmütig ums Herz, und er sehnt sich nach einem trockenen Platz, nach einem Dach, unter dem es nicht tropft.

Simon Lackner widerstand lange, aber endlich kriegte er das Reißen in seinen Gliedern, und er fand ein Mittel, sich zu helfen. —

Im Herzogtum Neuburg regierte Karl III., ein gemütlicher, braver Landesfürst.

Natürlich, Simon Lackner kannte ihn nicht, aber er stand doch in gewissen Beziehungen zu ihm.

Denn wo er in einem Bauernwirtshaus um Gotteslohn eine Halbe Bier trank, sah er von der Wand das dicke Gesicht Karls III. herunterlächeln.

Und er begriff die Gutherzigkeit, welche sich in dem breiten Mund, in den hängenden Backen des Landesherrn ausdrückte.

Er sah mit Liebe in die kleinen, hinter Fettpolstern verschwimmenden Schweinsäuglein und dachte sich, wie bürgerlich und selchermäßig doch oft der liebe Gott die von seinen Gnaden regierenden Häupter ausgestaltet. Kein kleinstes Restchen Feindseligkeit haftete im Herzen des Simon Lackner.

Er liebte den Fürsten auf seine bescheidene Weise und nahm es ihm nicht übel, wenn seine Gensdarmen grob und rauhändig waren.

Denn nicht einmal der allmächtige Gott hat alle seine Geschöpfe liebenswürdig geschaffen.

Warum sollte man’s von einem irdischen Fürsten verlangen?

Trotz seiner Hinneigung war aber Simon Lackner gezwungen, alle Jahre einmal dem Herzog Karl III. eine Despektierlichkeit zu zeigen, die ihm nicht innewohnte.

Aber es war eben seine Methode, und es war notwendig, um unter ein schützendes Dach zu kommen.

Wenn zu Ende Oktober die kalten Winde anhuben, ging Simon Lackner zum herzoglich neuburgischen Gefängnisse, welches auf freiem Felde lag, hinaus.

Dort versteckte er sich in einem Holzschupfen, welcher gegenüber dem Eingange der Anstalt lag, und wartete.

Wenn dann einige Gendarmen kamen, trat er allsogleich hervor und schrie mit lauter Stimme:

„Unser guater, alter Herzog Karl is a Rindviech!“

Das erstemal und das zweitemal stürzten die Gendarmen gierig auf den frevelhaften Menschen und glaubten, daß sie einen wichtigen Fang gemacht hätten. Aber schon im dritten Jahre erlahmte ihr Eifer, denn sie wußten jetzt, daß Simon Lackner sich nur auf diese harmlose Weise ein Winterquartier verschaffen wollte.

Simon Lackner mußte oft und oft schreien, bis sie ihn gefangen nahmen.

Und das wiederholte sich sechzehn Jahre lang mit schöner Regelmäßigkeit.

Man wußte es nicht mehr anders.

Wenn gegen Ende Oktober schwere Wolken am Himmel aufzogen, schaute der Gefängnisinspektor in die herbstliche Natur hinaus und sagte: „Jetzt wird der Lackner bald wieder schreien.“ Und richtig: den andern Tag zogen sich nasse Bindfaden vom Himmel zur Erde herunter, und vom Holzschupfen herüber brüllte es: „Unser guater, alter Herzog Karl is a Rindviech.“

Die Gendarmen lächelten; Simon Lackner lächelte und betrat freudig die Halle des Gefängnisses, wo ihm der Inspektor wohlwollend entgegentrat.

Lackner wiederholte zur Sicherheit: „Unser guater, alter Herzog Karl is a ..“ „Weiß schon, weiß schon,“ sagte der Inspektor, „Sie kriegen schon Ihre fünf Monat.“

Wenn die Amseln pfiffen, kam Simon wieder heraus und walzte fröhlich durch das Herzogtum Neuburg.

Und wo er in einem Wirtshaus das Konterfei seines lieben Karls III. sah, lächelte er ihm verständnisinnig zu. Er hatte ja nie vergessen, ihn den guten, alten Herzog zu nennen, und das mit dem Rindvieh war nicht ernst gemeint.

Jetzt wollen sie den schönen Paragraphen ändern, mit dem mein Freund Simon Lackner seit sechzehn Jahren sich recht und schlecht über die Wintersnot hinweggeholfen hat.

Ist das nicht hart?