Japans klassische Dichtung ist von der modernen europäischen Dichtung wesentlich verschieden. Unsere umfangreichen epischen und dramatischen Formen sind nicht vorhanden. Vorhanden ist vorzugsweise die Lyrik. Der japanische Dichter verzeichnet so wie der japanische Maler mit einigen kraftvollen oder zarten Pinselstrichen einen Eindruck, die Regung seines Herzens oder sein Entzücken vor der Natur. Der japanische Dichter dichtet im vollen Bewußtsein seiner Kunst sowohl als der Grenzen seiner Begeisterung.

Dies erklärt leicht die Kürze fast aller japanischen Gedichte. Der klassische Typus der höfischen Dichtung ist das »Kurzgedicht« (Mijika-uta, Tanka), eine Strophe von fünf Versen von abwechselnd fünf und sieben, zuletzt jedesmal wiederum sieben Silben. Auch die Langgedichte (Naga-uta, Choka) sind in demselben wechselnden Silbenmaß geschrieben und nicht allzu lang. Trotzdem wurde auch diese Form fallen gelassen, die Tanka später, in der Tokugawa-Zeit, durch den bloßen Dreizeiler ersetzt. Aber in diesen Formen weiß der Japaner doch sehr vieles auszudrücken. Der Reim und Silbenwert werden ersetzt durch den natürlichen reinen Klang der Sprache, aus der für die Dichtung jedes chinesische Wort ausgeschlossen bleibt. Auf diesem zarten Instrument spielt der Dichter liebevoll in geistreichen Wortspielen, die oft den Hauptteil seiner höfischen Kunst ausmachen. Besonders drei Arten solcher Koloraturen der Lyrik müssen für jedes Verständnis erwähnt werden: Das sogenannte »Kissenwort« (makura-kotoba), ein Epitheton ornans, das oft den ganzen ersten Vers erfüllt, mitunter – in der vorklassischen Zeit – sich zum Gedicht selbst erweitert und eine ferne, geheiligte Vorstellung erweckt. Von solchen Kissenworten findet man in den hier mitgeteilten Gedichten sehr viele, aber eine große Anzahl auch in der Prosa, so zum Beispiel in dem »Idsumo-Grundriß« und der weiter unten gegebenen »Vorrede zum ›Kokinshu‹«. Der Sinn all dieser Beiworte war dem primitiven Japaner natürlich; einige entsprechen übrigens den homerischen. Allmählich aber wurden sie mehr oder minder feierlich und geheimnisvoll, eine Art Thema der auf sie aufgebauten Gedichte. Daher der befremdliche Name. Eine weitere Spielform ist die »Introduktion« (Jo), durch welche die ersten drei Verse der Tanka mit ihrem Abgesang durch ein leichtes Wortspiel verbunden werden, wodurch der ganze erste Dreizeiler wieder zu einer Art »Kissenwort« des Schlusses wird. Endlich verwendet der japanische Dichter sehr häufig das Doppelsinnige Wort (kenyogen), von den europäischen Japanologen Pivôt genannt; oder auch nur eine doppelsinnige Silbe, die wie eine ›Türangel‹ alles Nachfolgende mit dem Vorhergehenden verbindet. Hat man ihr diese spielenden Eigenschaften einmal zugestanden, so wird die japanische Dichtkunst außerordentlich reizvoll, eine wundervolle Vereinigung lyrischen Schwungs und strenger Gesetze. Sie gibt sozusagen ziselierte Eindrücke, die freilich durch allzu sorgfältige Ausführung auch oft den Inhalt unter dem äußeren Glanz verschwinden lassen. Bei allem muß jedoch ein bislang noch gänzlich unaufgeklärter Zusammenhang mit Gruß- und Spottliedern und mit primitiv-religiöser Rhythmik angenommen werden, dessen Feststellung und Aufhellung zu den auch sonst zahlreichen Aufgaben einer noch nicht bestehenden ethnologischen Japandurchforschung gehört.

So kurze Kunstformen können natürlich nicht leicht einen Gedichtband ausmachen. Vielleicht auch darum vereinigte man von Anbeginn die Gedichte mehrerer Dichter zu Anthologien. Die Japaner betrachteten auch immer, und nicht mit Unrecht, die Dichtkunst ihrer Dichter als das Erzeugnis einer bestimmten Epoche. Der Kaiserhof ließ von Zeit zu Zeit die besten Gedichte der letztvergangenen Zeiten zu den uns erhaltenen und in unserem Buche auszugsweise übertragenen Sammlungen veranstalten.

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