Diese Geschichte fängt an wie ein Märchen:

Es war einmal ein Mann, der lebte in der heiligen Stadt Kandy und dazu garnicht weit vom Tempel des heiligen Zahnes. In der Gesetzes-Gasse hatte er einen Laden und ernährte sich schlecht und recht.

Als dieser Mann fühlte, daß es mit ihm wohl bald zu Ende gehen könnte, sprach er zu seinem Sohn: „Nala, mein Sohn, du weißt, deine Mutter und Geschwister haben uns schon verlassen und sind weiter gewandert, (er meinte: sie sind gestorben und haben eine neue Wiedergeburt erlebt.) Auch meine elende Körperform, dieser Haufe Sankhāra steht im Begriff sich aufzulösen und sich zu neuer Form wieder zusammen zu schließen; denn das Nirvāna ist mir noch fern. Nun habe ich viel geschwankt, ob ich mein Hab und Gut dem Tempel zum heiligen Zahn vermachen oder dir hinterlassen soll. Als ich dich aber neulich deswegen befragte, und du antwortetest: ‚Wie es dir beliebt, Vater,‘ da sah ich, daß du die glückselige Gabe der Nachdenklichkeit besitzest und daß du das Geld nicht dazu verwenden wirst, nur noch mehr zusammen zu häufen. Darum will ich dir alles hinterlassen, nicht um dich träge zu machen, sondern um dir das Leben der Nachdenklichkeit zu erleichtern. Denn es ist schwer, nachdenklich zu sein, wenn man sein tägliches Brot erjagen muß. Aber heilig und teuer mußt du mir zweierlei geloben: Erstens beherzige stets den Satz des Buddha: ‚Wer nichts Liebes hat, der hat auch nichts Leides‘ und zweitens: stelle nie eine Frage an ein Weib.“

Der Sohn versprach heilig und teuer, es sein Leben lang wie ein Gelübde zu halten.

Darauf fuhr der Vater fort: „Dieses habe ich von dir verlangt, weil ich dir all mein Gut hinterlassen habe, wo es doch viel verdienstlicher für mich wäre, und mir bessere Wiedergeburt sichern würde, wenn ich es dem Tempel schenkte. Denn du weißt, mein Sohn, daß im Tode die Wege von Eltern und Kindern sich trennen, und daß niemand mit uns geht als unsere Tat. Jetzt gebe ich dir aber einen guten Rat, den du befolgen magst oder nicht: führe nicht diesen Handel fort, den ich führe. Mein Karma war es, Weib und Kinder zu haben; darum mußte ich Handel treiben, um sie zu ernähren. Am makellosesten lebt aber der Mensch, wenn er von der Erde lebt. So kann er andere am wenigsten schädigen.“

Auch diesen Rat versprach der Sohn zu befolgen.

Einige Zeit danach starb der Alte. Der Sohn betrauerte ihn in gebührlicher Weise, weil er aber ein guter Sohn war, so tröstete er sich mit dem Gedanken an die Vergänglichkeit alles Entstandenen. Dann nahm er alles, was sein Vater ihm hinterlassen hatte, und kaufte sich oben am Berge auf der anderen Seite ein Häuschen mit einem Stück Land und lebte dort einsam, aber friedlich. Wenn er in die gewaltige Ebene zu seinen Füßen sah, in der die fernen Felsrücken Schiffen im Ozean glichen, und die Ströme Silberadern, dann war ihm so froh, so ruhig zu Mut. Tag für Tag dachte er: „Wie herrlich ist dieses Leben. Wer nichts Liebes hat, der hat auch nichts Leides.“

Eines Tages nun sah er in seinem Garten ein Vögelchen, das war nicht bunt und schillernd wie die anderen, sondern einfach schwarz und weiß gefärbt und wippte mit dem Schwänzchen, daß es ein Vergnügen war, es zu sehen.

Nala dachte: „Was bist du denn für ein kleiner Patron?“ und blieb behutsam stehen, um es nicht zu stören. Da begann das Vögelchen eilig zu tippeln und nach Insekten zu schnappen, immer von einem Ende des Gartens zum anderen. Dann blieb es wohl ein Weilchen stehen, so recht keck breitbeinig und sah zutraulich zu Nala hin. Mit dem Schnabel bearbeitete es sein Gefieder, so weit es nur kommen konnte, und am drolligsten sah es aus, wenn es oben am Hals herumpickte. Dann breitete es einen Flügel aus und trat kräftig drunter, dann den anderen. Wenn es aber sein Füßchen nahm und sich am Kopf kratzte, erst eine Seite, dann die andere, so konnte Nala kaum vor Lachen an sich halten.

Als es so ein paar Stunden gejagt und sich vergnügt hatte, flog es zwitschernd davon.

Am nächsten Morgen, Nala sitzt ruhig in seinem Garten und schaut in die Ebene hinab, ist plötzlich das Vögelchen wieder da und beginnt dasselbe Spiel.

So ging es nun alle Tage, Woche für Woche. Sein erster Blick, wenn er morgens in den Garten trat, galt dem Vögelchen. Und wenn es da war, so hielt er sich sorgsam in der Seite des Gartens, in welcher es gerade nicht jagte, oder er hielt sich gar im Hause, um es nicht zu stören. Wenn es im Eifer ganz nahe an ihn herankam, so pflegte er zu sagen: „Sieh doch einer den frechen kleinen Kerl.“ Und wenn er sich nicht in den Garten traute, um es nicht zu stören, so meinte er schmunzelnd: „Hier heißt es auch: Wem’s Haus gehört, der scher’ sich raus!“

So ging es viele Wochen. Eines Tages aber blieb das Vögelchen aus. Nala wartete und wartete, aber vergebens. Ebenso am nächsten Tage und an den folgenden: Das Vögelchen kam nicht. Da wurde er traurig, das Essen schmeckte ihm nicht, und die Sonnen-Auf- und -Untergänge sagten ihm nichts mehr.

„Was mag dem Vögelchen zugestoßen sein?“ dachte er. „Ist es mir untreu geworden, weil es einen besseren Jagdgrund gefunden hat? Ist es von einem Habicht oder einer Schlange gefressen worden? Ist es in eine Schlinge geraten?“ Eine Möglichkeit war ihm so schmerzlich wie die andere. Da merkte er, daß er etwas Liebes hatte, darum hatte er jetzt dieses Leid.

„Wie recht hat doch der Erhabene“, dachte er, „wenn er sagt: ‚Wer nichts Liebes hat, hat auch nichts Leides.‘ Ich muß mich sorgfältiger hüten.“ Im stillen aber wartete er immer noch auf das schwarz-weiße Vögelchen mit dem wippenden Schwänzchen und musterte alles Gefiederte ringsum.

Da sah er eines Tags, wie ein Sperling sein Junges fütterte. Das saß auf einem spitzen Ast, und das Alte hielt sich mühsam flatternd vor ihm, bis es das Futter in den aufgesperrten Schnabel hineinbefördert hatte. Das wiederholte sich wieder und wieder.

Nala sah nachdenklich. „Wie wundervoll!“ dachte er. „Nicht genug, daß diese Mutter sich die Nahrung entzieht und gibt sie dem Jungen, läßt sie sich auch die Mühe nicht verdrießen, ihm flatternd die Nahrung zu geben. Sie sagt nicht: Du, komm herunter von deinem spitzen Ast, Du machst mir die Arbeit zu schwer! Wundervoll, fürwahr!“ Das machte, sein Herz war voll von Liebe wegen des Vögelchens.

Da sann Nala hin und her, vom Morgen bis zum Abend. Nachts schlief er. Endlich sagte er sich: „Es ist doch besser, ich nehme ein Weib. Es scheint mir nicht gut, sich der Natur zu widersetzen. Meine beiden Gelübde kann ich doch halten. Es ist nicht verboten, sein Weib zu achten und zu ehren, und fragen will ich sie nimmer.“

Als er so entschlossen war, setzte er sich vor die Tür an die Straße. Er dachte: „Vielleicht kommt die Rechte hier vorbei.“ Es kam aber nur ab und zu ein Lastträger oder ein altes Weib mit einem Korb auf dem Kopfe. Die sagten nichts als: Guten Tag! und gingen vorüber.

Da er nun einsah, daß es so unmöglich ging, spazierte er hinunter in die Stadt. Er war aber schüchterner Natur und wagte kaum ein Weib anzusehen.

Nahe vor der Stadt kam er an einer einzelnen Hütte vorbei. Vor der saß ein Mädchen und hatte vor sich auf einem schwarzen Brettchen ein Zuckerrohr, ein Stück Büffelhorn und ein Stück Elfenbein liegen.

Nala blieb stehen und besah sich alles. Für sein Leben gern hätte er gefragt, was das bedeute, aber er durfte ja nicht.

Als er ein Weilchen schweigend gestanden hatte, begann das Mädchen: „Was stehst Du denn da und fragst nicht, was das bedeutet?“

„Ich darf keine Fragen stellen“, sagte Nala.

„Weshalb denn nicht?“ lachte sie.

„Weil ich es meinem Vater gelobt habe.“

„O, so bist Du Nala aus der Gesetzesgasse!“ Das Mädchen lachte laut.

„Ich wohne nicht in der Gesetzesgasse“, sagte Nala. „Ich wohne oben am Berg auf der anderen Seite und habe dort ein hübsches Häuschen.“

„Schadet nichts. Ich weiß schon, Du bist Nala.“ Dabei lachte sie, daß alle Zähne zu sehen waren.

Wieder hätte er von Herzen gern gefragt: „Weshalb lachst Du denn so?“ aber er durfte ja nicht. Da begann sie auch schon:

„Die Leute sagen, daß Du niemals ein Weib irgend etwas fragen dürftest. Wie willst Du aber jemals eine Frau bekommen, wenn Du nicht fragen darfst, ob sie Dich will?“

Nala bekam einen gewaltigen Schreck. Wahrhaftig! Daran hatte er noch garnicht gedacht. Er kratzte sich hinterm Ohr und sah das Mädchen bestürzt an.

„Nun“, meinte sie, „vielleicht wird es nicht so schlimm. Schließlich findest Du auch so schon eine, wenn Du recht suchst. Aber wenn Du doch mal nicht fragen darfst, so will ich dir erklären, was das Brettchen hier zu bedeuten hat: Das Zuckerrohr bedeutet: Süß muß mein Liebster sein wie Zuckersaft. Das Büffelhorn bedeutet: Stark muß er sein wie ein Büffel. Das Elfenbein bedeutet: Edel und klug muß er sein wie ein Elefant.“

„Himmel“, dachte Nala, „wenn die Weiber alle so anspruchsvoll sind, wie soll dann selbst ein Mann, der fragen darf, zu einer Frau kommen?“ Daß die Dirne ihn aber so ausgelacht hatte, das verdroß ihn sehr. Er sagte sich: „In Kandy bekommst du nie und nimmer ein Weib. Sie werden dich alle auslachen.“

Da kehrte er denn betrübt zurück, verschloß sein Haus und wanderte nach Norden zu. Er wollte so wandern, bis ihm der Zufall ein Weib zugeführt hätte. So wanderte er Tag und Tag, und wenn die Karrentreiber auf der Straße ihn frugen: „Wo willst Du hin?“ so sagte er: „Ich weiß nicht.“ Dann lachten sie und meinten, er wäre nicht recht bei Troste. Er aber dachte: „Lacht ihr nur!“ Um keinen Preis wollte er jedem Hans auf der Landstraße erzählen, daß er nach Norden zöge, um ein Weib zu suchen.

Eines Tages sah er ein Stück von der Landstraße entfernt einen schönen See liegen, der gar lockend aussah mit dem Kranz schattiger Bäume ringsum. Er ging darauf zu und war gerade im Begriff sich behaglich am Ufer hinzustrecken, da hörte er einen Schrei und sah ein Mädchen von einem Baum stürzen. Schnell sprang er zu. Es war nichts böses geschehen, aber ein Knöchel war verrenkt.

Nala setzte sich neben das Mädchen und wartete, bis sie ausgejammert hatte, denn sie gebärdete sich, nicht als ob sie einen Knöchel verrenkt, sondern als ob sie beide Beine gebrochen hätte.

Als sie endlich still geworden war, fing sie an, sich zu wundern, daß er immer noch nichts sagte. „Weshalb sagst Du denn nichts? Weißt Du denn, wie ich auf diesen Baum gekommen bin?“

„Nein.“

„Nun, so frag’ doch!“

„Ich darf nicht fragen. Es ist ein Gelübde.“

„Lieber Himmel! Was für ein böses Gelübde“, sagte das Mädchen mitleidig. „Wie machst Du es aber, wenn Du den Weg verloren hast und weißt nicht wohin?“

„Es ist nicht so. Ich darf nur ein Weib nichts fragen.“

„O, das ist es“, lachte sie. „Weil Du doch nicht fragen darfst, so will ich es Dir von selber erzählen, wie ich auf diesen Baum gekommen bin. Aber wie heißt Du eigentlich?“

„Ich heiße Nala.“

„Und ich heiße Katha. Du darfst nicht denken, daß das mein richtiger Name ist, aber die Leute rufen mich so, so magst Du es auch tun. Also siehst Du, von diesem Baum sagen die Leute im Dorf, wenn ein Mädchen bei Tage hinaufklettert und alle Beeren ißt, ohne von einem Menschen gesehen zu werden, — Du mußt wissen, hier baden viele Leute —, so ist der erste Jüngling, den sie nachher trifft, ihr Zukünftiger. Wird sie aber dabei von jemandem überrascht, so ist alles verloren. Das böse ist nun, ich hatte gerade die letzte Beere gepflückt und mein Leib ist voll wie eine Tonne, da kommst Du dazu und verdirbst mir alles. Wie ich Dich sehe, erschrecke ich, trete fehl und falle runter.“

„Das tut mir entsetzlich leid,“ sagte Nala und blickte sie ganz bekümmert an. „Aber was bin ich für ein Dummkopf,“ rief er plötzlich, sich vor die Stirne schlagend. „Ich habe Dich ja gar nicht auf dem Baum gesehen, sondern erst, als Du runterfielst.“

„So? Bist Du ganz gewiß?“

„Ganz gewiß! Verlaß Dich drauf. Deine Hacke war mindestens eine Handbreit vom Baum, als ich Dich sah.“

„Bin ich denn kopfüber gefallen, Nala?“

„Wahrscheinlich doch, Katha.“

„Hab’ ich denn sehr albern ausgesehen beim Hinunterfallen?“

Nala sann nach, während sie ihn scharf fixierte. „Besinn’ Dich ja!“ mahnte sie.

„Wahrhaftig, ich weiß es nicht. Du warst so schnell unten.“

„Hast Du schon ’mal ein Mädchen vom Baum fallen sehen?“

„Nie in meinem Leben.“

Nach einem Weilchen begann sie: „Wenn Du sicher bist, Nala, daß meine Hacke schon aus dem Baum heraus war, so kann ja alles noch gut werden. Aber was ich für ein Dummkopf bin,“ rief sie plötzlich, sich vor die Stirn schlagend. „Wenn Du mich nicht mehr auf dem Baum gesehen hast, so…“ Sie stockte.

„Wahrhaftig, Katha, Du hast recht.“ Er stockte auch.

„Ich muß jetzt nach Hause,“ sagte sie und wollte sich erheben. Sie hatte aber ihren kranken Knöchel vergessen und schrie laut auf vor Schmerz.

„Du lieber Himmel, wie soll ich nach Hause kommen?“ jammerte sie.

„Ich trage dich hin“, sagte er entschlossen.

Sie lachte wieder. „Das ist ja viel zu weit. Aber weißt Du was, trage mich nur bis an die Landstraße. Dort warte ich auf einen Karren, der wird mich mitnehmen.“

Da nahm er sie auf seinen Arm und trug sie zur Landstraße hin. Sie beugte sich von ihm ab.

„Leg’ Deinen Arm um meinen Hals“, sagte er. „Ich kann Dich so nicht tragen.“

Da legte sie den linken Arm um seinen Hals, und weil sie nun doch schon mal diese Stellung hatte, so sagte sie: „Nala, ich habe Dich lieb.“

„So kannst Du mein Weib werden, Katha“, rief Nala geschwind.

„Kann ich wirklich?“ antwortete sie schnippisch. „Da sind mehr, die auf mich warten, als Du allein.“

„Ich dachte nur, weil Du auf den Baum geklettert bist,“ sagte Nala kleinlaut.

„O“, entgegnete sie so recht von oben herunter, „das sind solche Mädchenstreiche. Alle Mädchen im Dorf tun das. Du mußt nicht denken, daß Dir nun schon alles sicher ist, weil Du mich hast vom Baum fallen sehen.“

„So bin ich aber doch Dein Zukünftiger“, beharrte Nala.

„Ja, wenn ich Dich will.“

„Du hast aber doch gesagt, daß Du mich lieb hast.“

„Das sagt garnichts. Wie kann ich Dein Weib werden, wenn Du mich nicht darum fragst?“

„Aber ich darf doch kein Weib fragen, Katha.“

„Willst Du denn in der Ehe Dein Weib auch nicht fragen, ob sie Dich noch lieb hat?“

„Ich darf nicht, Katha.“

„Nala“, sagte sie und legte ihren Arm etwas fester um seinen Hals, „bist du schon müde?“

„Ich fühle noch garnichts“, sagte er munter und schwenkte sie etwas zur Bekräftigung.

Sie lachte vor Vergnügen und sagte: „Nala, ich kann Dir die Frage eigentlich nicht erlassen. Wenn Du aber garnicht kannst, so will ich Dir erlauben, etwas anderes dafür zu tun. Wenn Du mich von hier nach meinem Dorfe trägst, so will ich dein Weib sein ohne Frage und Dir den schönsten Verlobungskuß geben. Wenn Du unterwegs auch nur frägst, ob Du absetzen darfst, so hast Du schon verloren. Wenn es Dir aber zu schwer wird, so brauchst Du nur zu sagen: ‚Katha, willst Du mein Weib werden?‘ so ist alles gut.“

Sie waren jetzt an der Landstraße. Nala war ein kräftiger Bursche. Er dachte: „Ich schaff’s schon. Überdies kann ich wandern, bis ich alt und grau bin, wenn es mir hier nicht glückt.“ Er hielt die Weiber für den rarsten Artikel der Welt. Darum sagte er:

„Gut, Katha, das soll ein Wort sein. So trage ich Dich denn bis ins Dorf.“

„Nein! Wo denkst Du hin! Nur bis an das Buddha-Bild. Ich zeige es Dir schon. Es ist nur eins.“

„Gut, aber ich habe auch meine Bedingungen.“

„Was denn für welche?“

„Erstens erlaube, daß ich Dich noch einmal hier absetze.“

„Das darfst Du, Nala.“

Er ließ sie vorsichtig auf das Gras gleiten.

„Zweitens mußt Du Dich ganz fest an mich halten, damit ich es leichter habe.“

„Auch das will ich, Nala.“

„Und drittens darfst Du kein Wort unterwegs sprechen. So wie Du nur einen Laut von Dir gibst, hast Du verloren und ich habe gewonnen.“

„Ich gelobe es Dir heilig und teuer.“

So glaubte Nala sich gut vorgesehen zu haben. Nur eins hatte er vergessen zu fragen: wie weit es denn überhaupt sei bis zu ihrem Dorf.

Als er sich ausgeruht hatte, nahm er sie wieder auf den Arm wie man ein Kind nimmt. Sie schmiegte sich, ihrem Versprechen getreu, so eng an ihn, daß ihr fester runder Busen voll auf seiner Brust lag.

„Ist’s recht so?“ fragte sie. „Das gilt aber noch nicht mit, weil Du noch nicht gehst.“

„Es ist recht so“, sagte er mit gepreßter Stimme. „Jetzt gehe ich.“

Damit begann er vorwärts zu schreiten. Ihm war, als ob er sein ganzes Leben so wandern möchte mit dieser Last im Arm. Er hörte förmlich, wie das kleine Herz Schlag für Schlag tat, er fühlte wie Busen und Leibchen sich hoben und senkten, und jeder Atemzug ging ihm wie ein kühler Hauch über die Wange. Er meinte, ihm wäre noch nie so wohlig gewesen. Glücklich still schritt er fürbaß. „Weshalb hat der Erhabene nur gelehrt: Wer nichts Liebes hat, hat auch nichts Leides?“ dachte er. „Was soll mir aus diesem Lieben hier für Leides erwachsen!“ Nie ist ein Gelübde in größerer Gefahr gewesen.

Nun war es gerade die frühe Nachmittagszeit, und die Sonne brannte unbarmherzig. Nala war noch keine tausend Schritt marschiert, als es ihm schon gewaltig heiß und durstig war. Aber tapfer schritt er weiter. Das Mädchen lag lautlos an seiner Brust. Immer langsamer wurde sein Schritt, immer stärker die Versuchung, die kleine Frage zu tun, die ihm mit einem Schlag alles gab und ihm nur eines nahm: sein Gelübde.

Er wartete still, ob sie nicht vielleicht sich vergessen und etwas sagen würde, etwa: „Sieh nur den schönen Vogel, Nala!“ oder: „Dort ist ein Stein, Nala! Nimm Dich in Acht!“ oder: „Dort ist ein schöner Schatten, geh dort, Nala!“ Aber nichts dergleichen geschah. Sie war stumm wie ein Fisch. Er begann zu keuchen. Vom purpurroten Gesicht rieselte der Schweiß. Der lebensvolle Leib, vorhin Inbegriff der Wonne, war ihm jetzt wie Blei und hitzte ihn unerträglich. Von Zeit zu Zeit lüftete er die Last ein wenig, um auch seiner Brust einen Moment Freiheit zu gönnen. „Wie hartnäckig ist solch ein Weib“, dachte er.

Sie ihrerseits fühlte sich ganz behaglich und kalkulierte folgendermaßen: „Wenn er solch ein Starrkopf ist, daß er lieber umfällt vor Erschöpfung, als dieses törichte Gelübde aufgibt, so muß ich bei Zeiten seinen Starrsinn brechen. Geb’ ich heute nach, so muß ich immer nachgeben. Im Übrigen: was hab’ ich zu riskieren? Setzt er ab, hab’ ich gewonnen. Trägt er bis zu Ende, nun so hab’ ich nichts verloren.“ So ließ sie sich ganz ruhig auf und ab wiegen und hörte seinem Keuchen zu wie der Schiffer dem Knarren seines Schiffes.

Als aber das Keuchen immer schwerer wurde, fast ein Stöhnen; als der Schritt immer unsicherer wurde, da bog sie vorsichtig ihren Kopf rückwärts und blickte ihm ins Gesicht. Es war blaß geworden, fingerdick traten die Adern an Hals und Schläfen heraus und die Augen schienen aus den Höhlen quellen zu wollen.

Nala merkte die Bewegung und dachte: „Dem Himmel sei Dank! Endlich! Jetzt wird sie sagen: Es ist genug!“

Die erschrak freilich, als sie dem Mann in’s fremde Gesicht sah, aber sie kniff die Lippen aufeinander. Das hieß: „hält er sein Gelübde, halt’ ich’s auch.“

Nala dachte: „Wie unbarmherzig ist solch ein Weib.“ Er machte eine letzte Kraftanstrengung. An einer Biegung des Weges winkte das Buddha-Bild. Mit schlotternden Knien, dem Hinstürzen nahe, setzte er seine Last auf den Sockel des Bildes nieder.

Das Mädchen breitete allsogleich gar lieblich die Arme aus und spitzte das Mäulchen zum Verlobungskuß. Nala aber tat ein paar gewaltige Schnaufer, so als ob sich einer ordentlich das volle Herz frei schnauft, dann sagte er: „Wart’ ein wenig, Katha!“

Damit begann er sich den Schweiß zu wischen, erst mit dem Handrücken. Aber was war der Handrücken für diese Bäche. Dann nahm er das Sacktüchlein, dann die Ärmel seines weißen Jacketts, endlich gar den Zipfel des Lendenschurzes. Und er übereilte sich nicht, ja fast sah es aus, als wenn er sich so recht zum Vergnügen Zeit ließ, und der steinerne Buddha sah ihm zu und lächelte. Derweil saß das Mädchen fest auf ihrem Piedestal, wie einer, der niesen will und nicht kann, oder wie einer, dem das Wasser im Munde zusammengelaufen ist und der doch nicht ausspucken darf.

Als nun Nala endlich fertig war, sagte er freundlich: „Jungfer verzeiht! Es ist mir unterwegs eingefallen, Eure Hacke war doch noch im Baum, als ich Euch runterfallen sah. So müßt Ihr schon noch mal Beeren essen gehen.“ Sprach’s, machte Kehrt und ging spornstreichs nach seiner Heimat zurück.

Dort angekommen, sah er wieder auf die gewaltige Ebene zu seinen Füßen, in der die fernen Felsrücken Schiffen im Ozean glichen, und die Ströme Silber adern, und alle Tage sah er die Sonne im Osten hoch- und im Westen niedergehen. Und weil er so in stiller Ruhe Jahr für Jahr lebte, kam er schließlich in das Ansehen eines Weisen, ja in den Geruch eines Heiligen. Und wenn Leute, Unglückliche, Beladene, zu ihm kamen und ihn fragten: „Vater, wie hast Du nur den Grad dieser stillen Heiterkeit erreicht?“ so pflegte er zu antworten: „Wer nichts Liebes hat, der hat auch nichts Leides!“ Und wenn der Besucher ein Mann war, so fügte er hinzu: „Richte nie eine Frage an ein Weib.“

So kam Nala in den Ruf immer größerer Weisheit und Heiligkeit. Und wem das Leben ein leidvolles Ding geworden ist, der mag nur hingehen und sehen, ob Nala noch lebt; denn sein Sprüchlein ist ein gutes Sprüchlein.