Edgar Wallave
Es gab Gelegenheiten, bei denen Sanders mit der Außenwelt in Berührung kam; dann erfuhr er mit Betroffenheit, daß es jenseits der finsteren Wälder, jenseits der träge dünenden blauen See Männer und Frauen gab, die in richtigen Häusern wohnten, und die ein Gesprächsthema wie gewaltsamen Tod und solche schreckliche Vorkommnisse peinlichst vermieden, die Tag für Tag den Inbegriff seines Lebens ausmachten.
Er hatte es mit einem Volke zu tun, dessen Hauptcharakterzug Inkonsequenz war, mit einem Volke, das an Geister glaubte. Wenn man es mit dem Regieren so beeinflußter Rassen zu tun hat, dann ist juristische und volkswirtschaftliche Kenntnis ziemlich wertlos.
Ein Schlag Menschen nur kann diese Bezirke weise regieren, und dieser Schlag Menschen wird am besten durch Sanders dargestellt.
Einmal kam ein junger Mann aus England, dem ein gewisser Ruf voranging. Dieser Herr wurde vom Kolonialamt hinausgesandt, um unter Sanders einen Bezirk als Stationsleiter zu verwalten. Er war Doktor der Rechte, Wissenschaftler und hatte – theoretisch – Bekanntschaft mit Eingeborenensprachen, Bakteriologie und der medizinischen Wissenschaft im allgemeinen gemacht. Er war ein sehr ernster junger Mann, und in der ersten Nacht nach seiner Ankunft hielt er den oft und heimlich gähnenden Sanders vom Zubettgehen ab, indem er diesem ein System entwickelte, nach dem die Eingeborenen bekehrt werden sollten, nicht seelisch verwandelt, aber von unproduktiven Herumlungerern zu dem Standpunkt eines rechtschaffenen seßhaften Staatsbürgers bekehrt.
Sanders äußerte dazu nichts als den konventionellen Ausdruck höflichen Interesses und entließ den jungen Mann und dessen Reisegepäck mit seinem amtlichen Segen nach einer Inlandsstation.
Torrington – so hieß der ernste junge Mensch – ließ sich in Entoli nieder und begann sofort in die heidnischen Schädel die elementarsten Grundsätze angewandter Mechanik hineinzupfropfen. Mit anderen Worten, er lehrte sie durch das Medium der Suahelisprache, die sie nur höchst mangelhaft verstanden, und mit Hilfe eines Zinnkessels die Lehre vom Dampf.
Sie verstanden den Teil dieses Unterrichts, soweit er vom Kessel handelte, aber sie begriffen nicht ganz, was für eine Sorte Fleisch er darin kochte; und als er zum vierzigsten Male erklärte, daß er nur Wasser koche, schielten sie einander an und stimmten darin überein, daß der Weiße in seinem Kopfe nicht ganz richtig sei.
Sie sagten ihm das allerdings nicht ins Gesicht, denn Menschenfresser haben sehr gute Manieren, wenn auch ihre Tischgepflogenheiten viel zu wünschen übriglassen.
Mr. Torrington versuchte es bei ihnen auch mit chemischen Experimenten, indem er ihnen zeigte, wie Schwefelsäure, auf Zucker angewendet, Su2, Su4 oder ähnlich lautende Ergebnisse hervorbrachte. Das Resultat für Torrington war, daß er einen Ruf als Zauberer gewann. In mehr als einer Hütte wurde er als ein großer und schlauer Teufel angesehen und verehrt, was er ja in gewisser Hinsicht auch war. Aber beim ersten Mal, als er auf den wirklichen Geist dieses Volkes stieß, gingen seine ganze Wissenschaft und seine eingepökelten Theorien zum Teufel.
Da trat Sanders auf die Szene; Sanders, der alle Chemie vergessen hatte, die er jemals gelernt, und der als Rechtsgelehrter der kläglichste Mißerfolg war, den man sich denken kann.
Das ereignete sich folgendermaßen: Ein junger Isisimann hatte gewahrsagt, daß an einem bestimmten Tage zu einer bestimmten Stunde der Fluß über seine Ufer treten und das ganze Volk ertrinken würde. Als Mr. Torrington von dieser Prophezeiung erfuhr, lachte er darüber und kümmerte sich zunächst nicht darum. Aber dann fiel ihm ein, daß sich hier eine glänzende Gelegenheit böte, den Barbaren etwas von dem Wissen zu enthüllen, mit dem er so überreich gesegnet war.
Torrington zeichnete also eine große topographische Karte, die zeigte
- das Flußbett,
- die Höhe des Flußufers,
- den höchsten bisher erreichten Wasserstand,
- die Höhe des umliegenden Landes,
und er bewies so einfach wie möglich die vollständige Lächerlichkeit der Prophezeiung.
Dennoch waren die Schwarzen von seinen Ausführungen nicht überzeugt und machten sich bereit, die Gegend zu verlassen, als Sanders erschien.
Sanders sandte nach dem Propheten, einem jungen Menschen mit einer leichten Neigung zur Nervosität. Sanders hatte einen Holzkäfig am Fluß bauen lassen, in den dieser junge Mann hineingebeten wurde.
»Du wirst hierdrin bleiben!« befahl Sanders ihm. »Und wenn der Fluß steigt, mußt du prophezeien, daß der Fluß wieder fallen wird, denn sonst wirst du sicherlich ertrinken.«
Darauf beruhigten sich die Schwarzen und warteten darauf, daß der Fluß den Propheten ertränkte und so dessen Prophezeiung bestätigte. Aber der Fluß fiel um diese Jahreszeit stetig, und dem Propheten ging es so wie vielen anderen Propheten, er galt nichts in seinem Vaterlande.
Sanders ging, und Torrington nahm, obwohl etwas entmutigt, doch seine Versuche wieder auf.
Zuerst versuchte er es mit der Schlafkrankheit und verwandte darauf drei Monate vergebliche Arbeit. Er imponierte damit niemand als einem ältlichen Herrn, von dem im nächsten Kapitel mehr gesagt werden wird. Dann gab Torrington auch dieses Studium plötzlich auf und sprang zu einem anderen über.
Er hatte die Idee, die Leute impfen zu wollen; aber das erste Baby, das er geimpft hatte, starb an häutiger Bräune, und Torrington kam in eiligster Fahrt den Fluß herunter und erzählte Sanders eine wirre Geschichte von rasend gewordener Bevölkerung, die sein Blut verlangte.
Dann fuhr Torrington auf Heimatsurlaub.
»Das Land ist jetzt ruhig«, schrieb Sanders mit beißendem Humor an den Gouverneur. »Da schweben zahlreiche Palaver, aber keines von besonderer Wichtigkeit. Die Isisileute sind ungewöhnlich ruhig, und Bosambo, der Monrovianer, von dem ich Euer Exzellenz schrieb, gibt einen Musterhäuptling für die Ochoris ab. Ihm konnten keine Diebstähle während der letzten drei Monate nachgewiesen werden. Ich wäre Euer Exzellenz aber dankbar, wenn ich volle Aufklärung über die Expedition erhielte, die augenblicklich das Land unter der Firma ›Isisi-Ausbeutungs-Syndikat‹ durchquert.«
Seltsam genug, Torrington hatte vergessen, daß ein Mitglied dieser Expedition einer der interessiertesten Schüler seiner Schlafkrankheit-Klinik gewesen war.
Das Isisi-Ausbeutungs-Syndikat m. b. H. wurde zwischen dem ersten Gang und dem Dessert eines Diners gegründet, das in dem Hause eines Gentlemans stattfand, der mit Vornamen Isidor hieß, und der im Maidatal wohnte.
Eines Abends, beim Souper mit einem guten Freunde, der sich das ganze Jahr über McPherson nannte – mit Ausnahme des Versöhnungsfestes, an dem er offen zugab, daß er ein Sohn Isaaks sei –, tauchte die Frage nach einer guten Firmenbezeichnung für eine Gesellschaft auf, und McPherson sagte, er habe die »Isisi-Ausbeutung« schon seit vielen Jahren im Kopf. Mit Hilfe des Atlas wurde das Isisiland entdeckt; es war einer jener Atlanten, auf deren Karten die Landesprodukte angegeben waren, und quer über Isisi las man die Wörter: Gummi, Kolanuß, Mahagoni und Tabak.
Ich bitte den Leser, besonders den »Tabak« im Gedächtnis zu behalten.
»Da ist ‘n Häuptling, mit dem ich etwas korrespondiert habe«, sagte McPherson, nachdenklich seine Zigarre kauend, »von dem könnte man ‘ne Art Konzession kriegen. – – – Ich möchte das jedoch in aller Stille getan haben, denn das Land steht unter britischem Protektorat. Nun, wenn wir jemand finden könnten, der den ›Bims‹ dazu gibt, und den wir hinaussenden könnten, um die Konzessionen zu deichseln, würden wir einen Konzern flottmachen, ehe einer ›Kicks‹ sagen kann.«
Weise erwogene Nachfrage entdeckte den gesuchten Mann in Claude Hyall Cuthbert, einem jungen Gentleman aus Finanzkreisen, der auf Grund der Tatsache, daß er einmal beinahe einen Löwen in Uganda geschossen hätte, von einem großen Bekanntenkreise als eine Autorität in afrikanischen Dingen angesehen wurde.
Cuthbert, der in Effekten und Aktien plätscherte, war eine Errungenschaft für jedes Syndikat, und nachdem man ihm zu verstehen gegeben hatte, daß es ein Teil seiner Aufgabe wäre, die Konzessionen zu bekommen, finanzierte er gern das Unternehmen bis zum Betrage von siebentausend Pfund Sterling; hiervon gaben ihm die Herren Isidor und McPherson gütigst viertausend Pfund zur Deckung der Expeditionskosten zurück; die anderen dreitausend Pfund Sterling wurden für Bürokosten verbucht.
Mister McPherson gestand offen:
»Was immer passiert, mein Junge, wir sitzen auf Samt.«
Und das war buchstäblich wahr.
Vor Cuthberts Abreise gab ihm McPherson einen kleinen Rat:
»Was immer Sie tun, steuern Sie klar von diesem verdammten Bezirksamtmann Sanders; er ist einer von denen, die spionieren und sich in alles mischen.«
»Kenn’ die Sorte!« antwortete Cuthbert überlegen. »Das ist nicht mein erster Besuch Afrikas. Hatte ich Ihnen schon von dem Löwen erzählt, den ich in Uganda geschossen habe?«
Eine Woche später segelte er los.
*
Im Laufe der Zeit kam ein fremder Weißer durch Sanders’ Bezirk. Dieser Weiße – es war Cuthbert – folgte dem »grünen Pfad zum Tode«, aber das wußte er nicht.
Er »warf sein Gesicht auf den Wald«, wie die Eingeborenen sagen, und lachte; und die Leute des Otembedorfes standen vor ihren Hütten und beobachteten ihn mit schweigender Verwunderung.
Es war ein breiter Pfad zwischen Riesenbäumen, und das Grün des Unterholzes war gefleckt vom Sonnenlicht; und in der Tat, der grüne Pfad war wunderbar anzuschauen, da er der Allee einer Parklandschaft nicht unähnlich sah.
N’Beki, der Häuptling des Otembedorfes, ein sehr gutmütiger Alter, ging auf den Pfad hinaus, als der Weiße seine Wanderung begann.
»Weißer Mann!« sagte er feierlich. »Das ist der Weg zur Hölle, wo alle möglichen Sorten von Teufeln ihr Wesen treiben. Nacht bringt Reue und Morgen Haß gegen sich selbst, was schlimmer ist als der Tod.«
Cuthbert, dessen Kenntnis der Eingeborenensprache mangelhaft und dessen Bomongo gleich Null war, grinste ungeduldig, als sein Küstenjunge das ins Prosaische übersetzte:
»Verdammten Buschnigger sagen, nach und nach du sterben.«
»Sag’ ihm, er soll sich zur Hölle scheren!« polterte Cuthbert. »Und – hörst du, Flaggstock, frag’ ihn, wo’s Gummi gibt! Sag’ ihm, wir kennten den Urwald in- und auswendig – und frag’ ihn nach den Elefanten, und wo der Wechsel der Elefanten ist.«
Cuthbert war breitschultrig und untersetzt, und sein Gesicht war unter dem breiten Tropenhelm sehr heiß und feucht.
»Sage dem Weißen«, antwortete der Häuptling ruhig, »Gummi gibt es nicht innerhalb von sieben Tagereisen im Umkreise, und Elfenbein kennen wir kaum. Elefanten gab es hier wohl früher einmal, aber das ist lange her und nun nicht mehr!«
»Er is’n Lügner!« war Cuthberts einzige Bemerkung. »Los! Avanti! Treck! Mach’ diesen Bettlern Beine, Flaggstock.«
»Diese Bettler« – eine lange Reihe von ihnen – nahmen ihre Lasten ohne Klagen auf.
Es waren gute Träger, soweit man das von Trägern an sich sagen kann, und nur zwei waren gestorben, seit der Marsch begonnen hatte.
Cuthbert stand und beobachtete ihren Vorbeimarsch. Er ließ seinen Stock mitleidlos auf die Säumigen niedersausen. Dann wandte er sich auch zum Gehen.
»Frag’ ihn«, befahl er schließlich, »warum er diesen Weg hier den – äh – Dingsda nennt.«
Der Alte schüttelte den Kopf.
»Wegen der Teufel«, sagte er einfach.
»Sag’ ihm, er ist ein verrückter Esel!« brüllte Cuthbert los und folgte seinen Trägern.
Dieser natürliche Fußpfad, den die Karawane marschierte, führte in seiner ganzen Ausdehnung fast in einer geraden Linie durch den Urwald.
Es war ein sonderbar gangbarer Weg, denn er war sehr eben, und der einzige Nachteil lag in der Tatsache, daß er die Brutstätte von Fliegen, schwarzen Fliegen, war, Fliegen, so groß wie die bekannte Stubenfliege, eher etwas größer.
Diese erschreckten die Eingeborenen aus vielen Gründen, aber hauptsächlich, weil sie stachen. Sie erschreckten Cuthbert nicht, denn er war in Khaki gekleidet; nichtsdestoweniger fanden sie manchmal Zugang durch seine Ausrüstung und machten ihn wütend.
Dieser Pfad dehnte sich zehn Meilen aus und war angenehm zu gehen. Dann folgte der Forscher einem anderen Pfad quer durch den Busch, der sehr begangen, aber schlechter war.
Auf verschiedenen Wegen kam Cuthbert mitten in Sanders’ Bezirk, und es glückte ihm, Sanders zu meiden. Er hatte eine Karawane von sechzig Mann bei sich, außer einem Dolmetsch, und erreichte im Laufe seines Marsches den Ort eines großen Häuptlings, der einen beträchtlichen Landstrich regierte, den Ort Bosambos, des Oberhäuptlings der Ochoris aus Duldung, der einst Steward der Elder-Dempster-Linie, ferner ehemaliger Krumann, aber nichtsdestoweniger eine interessante Persönlichkeit war.
Bosambo kam heraus, um seinen Besuch zu begrüßen.
»Sag’ ihm«, befahl Cuthbert seinem Dolmetscher, »ich sei stolz, einen so großen Häuptling zu sehen.«
»Großer Häuptling!« sagte der Dolmetsch in der Landessprache. »Dieser Weiße ist ein Narr und hat viel Geld.«
»Das sehe ich«, antwortete Bosambo.
»Sag’ ihm«, befahl Cuthbert mit der Würde eines Gesandten, »daß ich gekommen bin, um ihm höchst wunderbare Geschenke zu überbringen.«
»Der Weiße sagt«, übersetzte der Dolmetsch, »daß er dir Geschenke geben will, wenn du ein guter Mann bist. Nun«, fügte der Dolmetsch vorsichtig hinzu, »da ich der einzige bin, der für dich sprechen kann, laß uns etwas vereinbaren: Du hast mir ein Drittel von allem abzugeben, was er dir anbietet. Dann will ich ihn überreden, daß er noch mehr gibt, denn er ist der Vater der Verrückten.«
»Und du«, schnitt Bosambo ihm das Wort ab, »du bist der Vater aller Lügner.«
Damit gab Bosambo seiner Leibwache ein Zeichen, und man packte den unglücklichen Dolmetscher und führte ihn ab.
Cuthbert, in Angstschweiß gebadet, zog einen Revolver.
»Herr!« rief Bosambo, »machen Sie keinen Unsinn! Diesem verdammten Nigger nix gut! Ihm schlechte Dinge reden! Ich sprechen dem Englisch propper! Setz’ dich! Mer snackens.«
So ließ sich Cuthbert in dem Ochoridorf nieder, und während dreier Tage war ein großes Geschenkegeben und Unterschreiben von Abtretungen.
Bosambo trat das gesamte Ochorigebiet ab. Das war eine Kleinigkeit. Er trat die Rechte auf den Wald der Isisijeute ab, er verkaufte die Akasavaleute, er verschacherte die Lulungoländer und deren Eingeborenenprodukte (ich zitiere das von dem handschriftlichen Aktenstück, das im britischen Kolonialamt aufbewahrt wird, und das die Unterschrift Bosambos trägt), und er fügte – als eine großherzige Zugabe – den Ikelibezirk hinzu.
»Nun, und was wegen der Stromrechte?« fragte Cuthbert entzückt.
»Was willst du dafür geben?« fragte Bosambo vorsichtig.
»Vierzig englische Pfund«, schlug Cuthbert vor.
»Ich nehme es.«
Es war ein außerordentlich einfacher Handel. Ein besser unterrichteter Mann als Cuthbert wäre erschrocken gewesen über die Leichtigkeit seines Erfolges, aber Cuthbert war zu eingenommen von sich, um über irgend etwas erschrocken zu sein.
Sein Abschied von Bosambo war rührend. Bosambo weinte und küßte seinem Wohltäter die Füße – erzählt man sich.
Jedenfalls hatte Cuthbert seine Konzessionen in der Tasche und trat, stets bemüht, Sanders aus dem Wege zu gehen, seine Rückreise nach der Küste an.
Er kam nach Entebi, wo ihn der Stationsleiter – damals war es Torrington – mit offenen Armen empfing.
Um diese Zeit war Torrington ungeheuer beschäftigt, ein Verfahren ausfindig zu machen, um die Schlafkrankheit auszurotten.
Bis dahin hatte Cuthbert unter dem Eindrucke gelebt, daß das eine angenehme Krankheit wäre, deren hauptsächlichstes Symptom eine schmerzlose Schlafsucht sei. Interessiert daran, dehnte Cuthbert seinen Aufenthalt bei Torrington auf vierzehn Tage aus und gewann manchen fürchterlichen Einblick, denn Torrington hatte eine Sorte Amateurklinik errichtet, und jeden Tag kamen hundert Fälle unter seine Behandlung.
»Und das kommt vom Stich der Tsetsefliege?« fragte Cuthbert. »Zeigen Sie mir doch, bitte, so ‘n Viech!«
Torrington tat ihm den Gefallen, und als Cuthbert das kleine schwarze Insekt sah, wurde er totenbleich.
»Großer Gott!« stammelte er. »So eine hat mich gestochen.«
»Es muß ja nicht daraus folgen – –« versuchte Torrington ihn zu beschwichtigen, aber Cuthbert war außer sich und stürzte, besessen von Furcht, in das Lager seiner Träger.
»Lasten auf!« gellte er. »Raus aus diesem verfluchten Lande, so schnell, als wir können.«
Torrington bemühte sich, ihn zu beruhigen, aber Cuthbert war nicht zu halten. Er verließ Entebi noch in derselben Nacht und lagerte im Urwald. Drei Tage später erreichte er eine Missionsstation. Dort klagte er über Kopf- und Halsschmerzen – er hatte nicht umsonst in Torringtons Klinik aufgepaßt.
Der Missionar schloß aus Cuthberts hagerem Äußeren und dessen allgemeinen abgerissenen Bemerkungen, daß er einen Malaria-Anfall habe, und empfahl ihm ein paar Tage Rast, aber Cuthbert war in wahnsinniger Hast, die Küste zu erreichen.
Zwanzig englische Meilen hinter der Missionsstation schickte er seine Träger zurück und sagte, er marschiere die letzten hundert Meilen allein.
Die Schwarzen waren mit diesem Vorschlage einverstanden.
Von diesem Tage an entschwand Cuthbert völlig den Augen der Menschen.
*
Sanders war quer durch den Busch marschiert, um die endlosen Windungen des Flusses zu vermeiden, als er plötzlich in ein Totendorf gelangte: vier traurige kleine Hütten, in Eile zwischen einem Gewirr von Unterholz errichtet.
Sanders rief, aber niemand anwortete ihm. Er war zu vorsichtig, um eins dieser Verrücktenheime zu betreten; er kannte diese kleinen Ansiedlungen im Urwald. Es war Eingeborenensitte, die Alten und die Sterbenden – besonders die der Schlafkrankheit Verfallenen – in entlegene Gegenden außerhalb jeder Möglichkeit einer Begegnung mit Menschen zu bringen; man versah sie dort mit Nahrung für eine Woche und mit Feuer, damit sie ungestört in der Einsamkeit sterben konnten.
Sanders rief von neuem, aber nur der Urwald antwortete, der laute geschwätzige Urwald, alles ein Knistern von der Bewegung verborgener Dinge. Dennoch brannte ein Feuer und erzählte von Leben.
Sanders nahm seine Wanderung wieder auf und veranlaßte zunächst die Hinterlegung von Lebensmitteln an einem auffällig sichtbaren Ort für den Menschen, der das Feuer angemacht hatte.
Sanders war, im Begriff, Beweise über das Verschwinden Cuthberts zu sammeln; es war schon die vierte Reise, die er deshalb unternahm, und unzählig waren die Palaver gewesen, die er deshalb abgehalten hatte.
Bosambo, Häuptling der Ochoris, hatte reuevoll die Geschenke herausgegeben, die er von Cuthbert erhalten hatte, und gab seine Fehler zu.
»Herr«, gestand er Sanders, »als ich bei den Weißen an der Küste war, lernte ich die Kunst zu schreiben – es ist eine verfluchte Gabe, sonst wäre all diese Schererei nicht über mich gekommen. Denn um meinem Volke zu zeigen, was für ein bedeutender Mann ich sei, schrieb ich einen Brief nach englischer Weise und schickte ihn mit einem Boten an die Küste und von da nach Sierra Leone an meine Freunde. Diesen erzählte ich von meinem Glück; auf diese Weise erhielten die Leute in London Kenntnis von den Reichtümern dieses Landes.«
Sanders brachte seine Ansichten über Bosambos Genie in wenigen Sätzen zum Ausdruck, die an Klarheit nichts zu wünschen übrigließen.
»Du Sklave und Sohn eines Sklaven, den ich vom Zuchthaus genommen habe, um die Ochoris zu regieren, warum hast du den Weißen betrogen und ihm Länder verkauft, die nicht dein waren?«
»Herr«, antwortete Bosambo treuherzig, »sonst war ja nichts da, was ich ihm hätte verkaufen können.«
Aber nirgends eine Spur von Cuthberts Verbleib! Weder auf der Missionsstation noch bei den Trägern, die auf Verdachtsgründe hin zurückgehalten worden waren, konnte man etwas erfahren.
Ein Mann hätte die Situation aufklären können: Torrington. Aber dieser befand sich in England und versah dort das Amt eines Prüfungsassistenten auf dem Technikum in Kensington, wo er mehr in seinem Element war, und wo er seine Mußestunden mit Vorträgen über »Die Wanderungen der Banturassen« ausfüllte.
So verlief das Ende von Sanders’ vierter Streife nicht erfolgreicher als die vorhergehenden, und Sanders marschierte etwas niedergeschlagen zum Sitz des Gouvernements zurück.
Er schlug den Pfad ein, auf dem er vorher den Urwald durchquert hatte, und stieß am Spätnachmittag auf das Sterbedorf. Das Feuer brannte noch, aber die Lebensmittel, die Sanders dort hinterlassen hatte, waren verschwunden. Er rief die Hütten in der Eingeborenensprache an; niemand antwortete. Sanders wartete eine Weile und gab dann Befehl, weitere Lebensmittel auf den Erdboden zu legen.
»Armer Teufel!« murmelte Sanders, als er den Befehl zum Abmarsch gab. Er selbst hatte etwa ein halbes Dutzend Schritte gemacht, als er stehenblieb; im schwindenden Licht des Tages glitzerte etwas zu seinen Füßen. Sanders bückte sich und hob es auf: eine abgeschossene Patrone. – Sanders untersuchte die Patrone sorgfältig, roch daran; sie mußte erst kürzlich abgefeuert worden sein.
Dann fand er noch eine: System Lee-Metford; sie trug das Zeichen »07«; das wollte sagen, daß sie weniger als ein Jahr alt war.
Er stand noch wie gebannt mit den kleinen Messinghülsen in der Hand, als Abiboo an ihn herantrat.
»Herr«, fragte der Haussa, »wer bindet Affen mit Stricken an Bäume?«
»Soll das ein Rätsel sein?« fragte Sanders ungehalten zurück, denn sein Hirn beschäftigte sich noch immer mit den Patronenhülsen.
Anstatt zu antworten, gab Abiboo Sanders ein Zeichen, ihm zu folgen.
Fünfzig Yards von der Hütte entfernt stand ein Baum, und an dessen Fuß, in Stricke verheddert, befanden sich, wimmernd und schnatternd, in einem Zustande tödlichen Schreckens, zwei schwarze Äffchen. Sie spuckten und fletschten wild die Zähne, als Sanders sich ihnen näherte; er sah von den Patronenhülsen auf die Affen und von den Affen auf die Patronenhülsen; dann begann er im Gras zu suchen.
Er fand zwei weitere Messinghülsen und eine rostige Lanzette, wie sie in dem Taschenbesteck jedes Forschungsreisenden gefunden werden kann.
Dann ging er zur Hütte zurück, vor der das Feuer brannte, und rief leise: »Mr. Cuthbert!«
Keine Antwort
Wieder rief Sanders: »Mr. Cuthbert!«
Aus der Hütte kam ein Stöhnen.
»Laßt mich in Ruh’! Ich bin hierhergekommen, um zu sterben«, antwortete eine dumpfe Stimme.
»Kommen Sie ‘raus, und seien Sie gefälligst höflich! Sterben können Sie nachher.«
Nach einigen Minuten Wartens kam aus der Hütte das Wrack eines Mannes mit langem Haar und einen Monat alten Bartstoppeln.
Mürrisch pflanzte er sich vor Sanders hin.
»Darf ich fragen«, wandte sich dieser an ihn, »was das Theater soll?«
Der andere schüttelte den Kopf; er bot einen bedauernswerten Anblick; seine Kleider hingen in Fetzen, er selbst war ungewaschen und schmierig.
»Schlafkrankheit«, sagte er müde. »Fühlte es kommen; hab’s gesehen, was für ‘ne schreckliche Sache das ist. Wollte niemand zur Last fallen. Gott, was für ein Narr war ich doch, in dieses dreckige Land zu kommen.«
»Das mag zutreffen«, antwortete Sanders. »Aber wer sagt Ihnen denn, daß Sie die Schlafkrankheit haben?«
»Weiß es! Weiß es!«
»Setzen Sie sich!« befahl Sanders.
Der andere gehorchte, Sanders machte die oberflächlichen Proben.
»Wenn Sie die Schlafkrankheit haben«, bemerkte Sanders nach dieser Prüfung, »dann leide ich an religiösem Wahnsinn! Mensch! Sie sind verrückt!«
Dennoch war irgend etwas in Cuthberts Gesichtsausdruck, was rätselhaft war; er war stumpfsinnig, schwerfällig und dumm; seine Bewegungen waren langsam, wie gelähmt.
Sanders beobachtete ihn, wie er eine schwarze Holzpfeife aus seiner zerrissenen Tasche zog und sie mit umständlicher Langsamkeit aus einem Lederbeutel stopfte.
»Es hat mich, sag’ ich Ihnen«, murmelte Cuthbert und brannte die Pfeife mit einem brennenden Ast vom Feuer an. »Wußte es – paff –, sobald dieser Kerl, der Torrington – paff – die Symptome beschrieb. – Paff – Fühlte mich elend und schläfrig – kriegte ‘n paar Affen; pumpte ihnen mein Blut ein. – Paff – Sie wurden auch schläfrig. – Sichres Zeichen!«
»Woher haben Sie denn den Tabak?« fragte Sanders hastig.
Cuthbert nahm sich Zeit zu antworten.
»Schwarzer gab mir ‘n. Häuptling Bosamba! Eingeborenentabak! Aber nicht schlecht! Gab mir ‘nen höllischen Haufen davon.«
»Das mein’ ich auch!« sagte Sanders, nahm ihm den Tabaksbeutel weg und steckte diesen in die Tasche.
*
Als Sanders Mr. Cuthbert sicher an Bord eines heimkehrenden Dampfers gebracht hatte, nahm er seine zwanzig Haussasoldaten mit nach dem Ochoribezirk, um Bosambo gefangenzunehmen. Er erwartete, daß Bosambo die Flucht ergreifen würde, aber der nicht aus seiner Ruhe zu bringende Häuptling erwartete ihn und empfing ihn mit den gebräuchlichen Ehrenbezeigungen.
»Ich gebe zu, daß ich dem Weißen den Hanf zum Rauchen gab; ich selbst rauche ihn ohne Schaden. Wie konnte ich wissen, daß ihn das schlafen machte.«
»Warum hast du ihm den Tabak gegeben?« forschte Sanders.
Bosambo sah dem Bezirksamtmann voll ins Gesicht.
»Herr, im verflossenen Mond kamst du und fragtest mich, warum ich ihm das Isisiland und das Recht auf den Kleinen Fluß gegeben hätte, die mir nicht gehörten; und jetzt kömmst du und fragst, warum ich dem Weißen Eingeborenentabak gegeben habe. Herr, es war das einzige, was ich ihm gab und was, mir gehörte.«