ZUM ZWEITENMAL
Anna Schieber
Als die Schuhmacher Bernerin vom unteren Eck in Hirzenbach in grauer Mor-genfrühe das Haus verließ, tat der Hund an seiner Kette wie unsinnig. Er stieg kerzengerad in die Höhe, an der Schuhmacherin hinauf und zerrte an der Kette, am liebsten hätte er die ganze Hundehütte mitgenommen. Denn mit wollte er, koste es, was es wolle. Aber die Schuhmacherin war auch eine von denen, die nichts verstehen, und wenn man es ihnen noch so laut in die Ohren brüllt. Auf diese Meinung, die er schon öfters gehabt hatte, kam der Nero heut wieder, denn sie gab ihm kurzerhand einen gehörigen Patscher auf die Vorderpfoten, so daß er sich verdutzt draufstellte, und sagte: »Viech dumms, unvernünftigs. Und wer soll dann vielleicht das Haus hüten und die Kinder, wenn ich dich mit-nehm’, he? Also da leg’ ich den Schlüssel unter den Schuhkratzer, im Fall die Pfarrmagd kommt und ihre Milch holen will. Und außer der Pfarrmagd läßt du mir niemand ins Haus.«
Der Nero konnte winseln, eine ganze Tonleiter herauf und hinunter, die Schuhmacherin fragte nicht so viel darnach, als unter den Nagel geht. Sie nahm ihren Korb mit dem Morgenessen für den Mähder an den Arm und schritt hurtig zu, denn es war weit an die Hölzleswiese und wenn einer von zwei Uhr an gemäht hat, will er um fünf Uhr sein Essen, das ist leicht wissen.
Auch war der Mähder keine bezahlte Kraft, sondern eine freiwillige, der Dötlesvetter, der Pate der drei Bernerskinder, der für den im Feld stehenden Hausvater eingesprungen war. Den durfte man schon gar nicht warten lassen.
Als die Schuhmacherin die Häuser hinter sich hatte und am oberen Eck den steilen Stich zum Dornbühl hinanstieg, hinter dem es dann auf die Hölzleswie-sen geht, war es ihr aber doch, als höre sie den Nero immer noch heulen.
»Was der nur hat heut?« dachte sie. »Es wird doch nichts unrecht’s um den Weg sein? Man hat schon so Sachen gehört, wenn’s irgendwo hat brennen wol-len, oder wenn eingebrochen worden ist, oder eh’ der Blitz an einem Ort ein-geschlagen hat, daß ein Hund so wüst getan hat. Die Leut’ sagen, so einem Ti-erle lieg’ es in den Gliedern.«
Aber es war etwas ganz anderes, was dem Nero in den Gliedern lag, als brennen oder einbrechen oder gar ein Blitzschlag. Es war um und um sic-her, und wer etwas vom Wetter verstand, der dachte auch heut an kein Gewit-ter. Der Tau lag dick auf allen Gräsern und Halmen und es wehte ein frisches Morgenlüftchen vom Berg herunter. Auch sangen die Vögel von Herzensgrund in den Kirschbäumen links und rechts am Weg und es war keiner darunter, der schütt, schütt schrie.
Wenn die Schuhmacherin hätte eine halbe Stunde Wegs voraussehen können, dann wäre ihr alles klar gewesen.
So aber ließ sie ihren Gedanken den schweren Lauf, den sie jetzt einmal hat-ten.
Dreiviertel Jahr ausgerechnet war’s jetzt, daß der Mann im Krieg war. Wenn man ihr damals gesagt hätte, als er ging, daß es so lang dauern werde, bis er wieder komme, dann hätte sie glaub’ ich gesagt: dann lieber gle-ich hinlegen und sterben. Denn sie war eine verzagte Natur von Haus aus; denn Frohmut im Haus hatte immer der Mann besorgt und ohne ihn wußte sie gar nicht wie man’s macht, daß man auf der Welt den Kopf aufrecht trägt.
Zudem hatte sie damals im siebenten Monat den Schorschle unter dem Herzen, der jetzt daheim im Kinderwagen lag.
Aber der Mann hatte sie über alles hinaus getröstet.
»Zur Tauf’ bin ich wieder da. Kann sein, schon vorher. Ich hab’ mir sagen lassen, der Kaiser hab’ gesagt, das gehe schneller, als man denke. Auch haben die schon gut vorgeschafft draußen in den sechs Wochen, seit der Krieg ist. Man liest’s ja alle Tage im Blatt.«
Vom Draußenbleiben, vom Fallen, da hatte er gar nichts gesagt.
Immer: »Wenn ich wiederkomm’, dann.«
Und jetzt war es schon so lange her.
Der Schorschle war geboren worden und getauft. Christtag war gewesen und Neujahr. Die Sau hatte man gemetzget und ihm immer wieder Würste und Speck ins Feld geschickt. Die zwei Großen hatten die roten Flecken gehabt und waren wieder gesund geworden. An Georgi war der Daniel mit seinen sechs Jahren in die Schule gekommen. Der Schorschle lernte das Lachen und fing an zu zahnen.
Ostern war gewesen, und man gärtelte, und die Baumblüte ging ins Land. Und jetzt war der Heuet und die Kirschen wurden rot. Aber vom Heim-kommen war gar keine Rede mehr; nicht in der Zeitung und nicht im Wirtshaus, soviel die Schuhmacherin wußte, war die Rede davon, daß bald Friede werde und die Männer heimkommen. Es war, als ob es sich um den Fri-eden gar nicht mehr handle, als ob der weiß kein Mensch wohin verbannt wäre und man sich auf der Welt ohne ihn einrichten müsse.
Fragte die Schuhmacherin hie und da zaghaft jemand, etwa den Kaufmann Schnorr im Laden, oder den Metzger Schwegler: »Was meinet Ihr auch – kann sein der Sommer geht noch herum, eh’ die Feierabend machen da draußen?« so bekam sie zur Antwort: »O je, wenn’s bloß der Sommer wär, da möcht’ man noch nichts sagen. Das kann noch lange gehen, bis das ein End’ nimmt. Jetzt sind noch die Italiener gekommen. Weiß kein Mensch, wer noch kommt. Das geht nicht so im Handumdrehen, Schuhmacherin.«
Da fragte sie lieber gar nicht mehr. Endlos, endlos sah das alles aus. Die Werkstatt war still und leer. Und das andere Bett in der Kammer und der Stuhl oben am Tisch war leer. Sie sah im Geist eine lange Zeit vor sich, in der das nicht anders wurde, und darüber hinaus war ihr die Welt mit Brettern verna-gelt, weiter konnte sie nicht hinaussehen.
Jetzt waren auch schon sechs oder sieben Hirzenbacher gefallen und ihrer noch mehrere verwundet worden und es packte die Schuhmacherin manchmal an, wie wenn eine Faust nach ihrem Herzen langte: das könnte dem Johann auch noch passieren. Dann tat sie geschwind Buß und Reu über aller Ungeduld und gab sich zufrieden mit dem Beharren: bloß wiederkommen soll er, dann soll mir alles recht sein und wenn’s Martini wird.
Neben dem allem her aber war sie unvermerkt recht resolut und meisterhaft geworden. Wenn man den Kindern Vater und Mutter zugleich sein muß und zu allem, was Haus und Herd betrifft, allein hinstehen, da lernt auch ein weichmü-tiges und zaghaftes Frauelein manches. Zum Beispiel wurde sie dem Daniel, der ihr früher nie recht hatte folgen wollen, so daß der Vater manchmal hatte bedeutsam nach dem Knieriemen gucken müssen, ganz gut Meister, und auch sonst stellte sie ihren Mann, wenn man so von einer Frau sagen darf. Es war alles im Stand, die Haushaltung und die Kuh, der Gemüsplatz und der Kartoffe-lacker; bloß die Schuhe waren alle durch. Die aber blieben aus einem gewissen Trotz heraus ungeriestert und ungesohlt. Es geschah dem deutschen Reich grad recht, wenn die Bernerskinder keinen guten Schuh mehr hatten; warum behielt es den Schuhmacher so lang draußen? oder auch war eine geheime Hoffnung dahinter: wer weiß, eh’ es einherbstet, so daß man die Kinder um keinen Preis mehr Barfuß laufen lassen kann, kommt er wieder.
Jetzt nachdem man das alles weiß, kann man sich so ungefähr die Gedanken zusammen addieren, die die Schuhmacherin unterwegs hatte, nur muß man da-bei auch bedenken, daß der Schorschle die halbe Nacht durchgeschrieen und sie ihn herumgetragen hatte, bis er endlich gegen Morgen wieder das Trömle zum Schlafen fand.
Wie gesagt, der Nero wußte mehr als sie; denn hätte sie gewußt, was er, so wäre sie leichteren Herzens den Berg hinauf gekommen. Aber endlich war sie doch oben. Da war die Sonne schon auf und guckte ihr in den Korb, ob sie auch genug Essen für zwei Mähder bei sich habe. Der Morgenwind spielte mit den Birken, nach denen, da sie ein leichtes Gehölz bildeten, die Wiesen, die hinter ihnen lagen, die Hölzleswiesen hießen.
Die Schuhmacherin mußte durch das Gehölz hindurch. Es wogte und säuselte darin, es wäre ein Garten gewesen, in dem ein Hochzeitspaar nach Herzen hätte spazieren und zärtlich sein können, es hätte gar nichts Schönes gefehlt dazu. Unter dem hellgrünen Dach mit den schlanken weißen Säulen breiteten hohe Farren ihre Wedel aus, und allerlei blühendes stand daneben und dazwischen: Goldrute, Johanneskraut, Weidenröschen und hochstengelige, weiße Doldenb-lütler, von denen die Schuhmacherin natürlich keine Namen wußte und sich auch nicht darum absorgte, obgleich sie Freude und Wohlgefallen an allem Blühenden hatte von Haus aus. Ein Kuckuck mußte ganz in der Nähe sein, denn zum Greifen nah tönte sein: kuckuk, kuckuk. Sie nahm sich zusammen, daß sie nicht fragte: wie lang dauert’s noch, bis der Krieg aus ist? Denn sie fürchtete, er möchte gar zu lang fortschreien und dann hätte sie die Bescherung, obgleich sie gleich nachher dachte, als er richtig gar nicht aufhörte: es sei ja gar nicht ausgemacht, ob Tage, Wochen oder Monate gemeint seien.
Mittlerweile nahm aber das Holz ein Ende. Die freien Wiesen, nur an den Rändern mit einem und dem andern Kirsch- oder Birnbaum besetzt, lagen vor ihr auf der weiten Hochfläche. Hinten am Horizont sah man die Albberge in bläulichem Duft.
Aber die Schuhmacherin sah nicht nach den Albbergen hin. Sie rieb sich die Augen, als ob ihr etwas hineingeflogen wäre, so daß sie das Doppelsehen hätte, und sagte geschwind die Wochentage her, zur Sicherheit, daß sie nicht im Traum wandle. Denn da vor ihr auf der übernächsten Wiese waren unzweifel-haft zwei Mähder. Der eine war der Dötlesvetter, da war nichts übersinnliches dabei. Er fuhr gerade ein paarmal mit dem Wetzstein über seine Sense und dann mit dem Sacktuch übers Gesicht. Das war mit einem Augenwink festges-tellt.
Aber wer, du lieber himmlischer Vater, mähte zehn Schritt hinter ihm mit lang ausholendem Schwung, daß die Sense wie ein Blitz durch die Schwaden fuhr? Wer hatte so rötlich-gelbes Haar auf dem Kopf, aufrecht und bolzge-rade wie eine Wurzelbürste, und so eine Statur, kurz und postiert?
Die Schuhmacherin traute sich keinen Schritt vorwärts. Denn so etwas, wie es ihr mit Jubel und Tirelieren durch die Seele flog, gab es ja nicht in Wahrheit auf Gottes Erdboden. Auch hatte der Mann dort einen Vollbart, aber ihr Johann war nur mit einem kleinen Schnurrbart ausgezogen.
Doch aber hing ein feldgrauer Rock in den untersten Ästen des Kirschbaums und dabei etwas, das eine Mütze und ein Seitengewehr sein konnte. Ein Urlau-ber also. Aber so etwas zu erzählen, dauert viel zu lang, denn mit zwei, drei Schlägen hatte das Herz es schon heraus. Es tat einen Ruck und Zuck, sagte: er ist’s, und ließ sich sonst auf gar nichts ein.
Der Mähder aber hatte scheint’s ein ähnliches Herz, den Kameraden zu dem der Schuhmacherin. Er fuhr mit einem Schwung herum, als sein Herz sagte: paß auf, sie kommt, und dann pflanzte er den Sensenstiel in den Erdboden hi-nein wie eine Fahnenstange und war mit ein paar Sätzen bei ihr.
Der Dötlesvetter stand von ferne und lachte, denn es gefiel ihm wohl, zu se-hen, wie die zwei Leute mit hellen und frohen Gesichtern das Wunder erlebten, auf einmal wieder heil und gesund nebeneinander zu stehen, da sie seither so lange in zwei Welten gelebt hatten, weit voneinander geschieden und ohne Sic-herheit des Wiedersehens.
Dann, als er ein paar Augenblicke von weitem verharrt hatte, trieb es ihn doch, daß er herankam und der Schuhmacherin erzählte, es habe ihn fast der Schlag getroffen, als er um zwei Uhr aus dem Holz herausgekommen sei und im Zwielicht einen Mähder an der vollen Arbeit gefunden habe. Der Mond sei noch hinter ihm am Himmel gestanden und er habe einen langen Schlagschatten auf die Wiese geworfen, und ihm, dem Dötlesvetter, sei es einen Augenblick gewesen, das sei der Johann, aber im Geist, und melde sich, daß er gefallen sei. Man habe solche Beispiele schon des mehreren gehabt.
Aber es habe ihn angetrieben, den Mähder auf alle Fälle beim Namen zu ru-fen. Da sei es leibhaftig und im Fleisch der Johann gewesen, der in Urlaub vom Gossenstadter Bahnhof her über den Berg gekommen sei, und, da die Sen-se im Baum gesteckt sei von gestern her, nicht habe vorbei können, ohne ein paar Züge zu tun. Dann freilich habe er nicht mehr aufhören können, wie das so sei, wenn man einmal im Zug sei mit einer gut gedengelten Sense. Darauf habe er, der Dötlesvetter, sich im Reuthof noch eine Sense geholt und sie haben selbzweit gemäht, bis sie, die Schuhmacherin, gekommen sei. Aber gelt, so ei-ne Überraschung in aller Herrgottsfrühe treffe man nicht alle Tage!
Es war einesteils gut, daß der Dötlesvetter so redselig war. Das half den bei-den Leuten übers allererste hinüber, da sie wie auf den Mund geschlagen waren und keines anfangen konnte, etwas rechtes zu sagen, oder dann meinte, seiner Lebtag nicht mehr aufhören zu können mit Erzählen, wenn einmal angefangen sei.
Wie, dem Hörensagen nach, einem Ertrinkenden in ein paar Sekunden zusammengedrängt sein ganzes Leben, Bild auf Bild, erscheint und abschnurrt wie von einer Spindel, so kam dem Urlauber und seinem Weib geschwind alles auf einen Haufen, was sie erlebt und erlitten hatten in der Zwischenzeit und es nahm sie wunder, wie sie durch den Berg gekommen waren, der nicht von Pfannkuchen gewesen war wie im Schlaraffenland, sondern von zähem Lehm und sprödem, hartem Stein mit Erz und Blei darin.
Die Schuhmacherin, als die ersten Ausrufe, wie: »Ja grüß dich auch Gott!« und: »Gelt, da guckst!« und: »An dich hätt’ ich jetzt zuletzt gedacht!« gefallen und verklungen waren, ergriff zuerst das Wort bei einem Zipfel und das Hemd ihres Mannes bei einem klaffenden Riß, der unterm Arm einsetzte und in der Mitte des Rückens verlief, und sagte halb lachend und halb in Angst: »Bei euch muß es schön hergegangen sein dem Anschein nach.«
Denn sie dachte nicht anders, als der Riß sei im Kampf und Handgemenge entstanden, etwa wie es bei einer Kirchweihrauferei gehen kann, nur natürlich im blutigeren Ernst, aber doch ausdenklich und begreiflich.
Aber ihr Johann berichtete, das Hemd sei ihm beim Mähen verkracht, als er geschwitzt habe und es habe ihn schon vorher ein wenig gespannt im Armloch, und mit diesem spielte sich die Unterhaltung sogleich auf das Sichtbare und Gegenwärtige hinüber.
Die Herzklappen, die gemeint hatten, es müsse hier und auf der Stelle alles ausgeräumt sein, schlossen sich wieder über ihrem Inhalt bis auf eine gelegene Zeit. Die Schuhmacherin tat das Morgenessen aus dem Korb: Musmehlsuppe, Grundbirnen, Speck und ein kleines Fläschlein mit Kirschenwasser, und es fand sich, daß es gut für zwei reichte. Das Warme hatte sie sorglich in wollene Tüc-her eingeschlagen, es dampfte den Hungrigen angenehm entgegen.
Die Wahrheit zu gestehen, hatte sie gedacht, selber mit dem Dötlesvetter da oben zu frühstücken, um ihm ein wenig Gesellschaft zu leisten. Jetzt aber tat sie sehr verwundert, daß sie zwei Löffel im Korb habe, es gehe manchmal merkwürdig zu. Einmal vergesse man das wichtigste und ein andermal habe man es doppelt und beides sei, weil man so vielerlei im Kopf habe, an was man denken müsse. Aber anrühren wollte sie nichts, keinen Bissen. Die Freude sei ihr in den Magen gefallen, sie sei so satt, wie wenn sie grad erst gegessen hätte. Zusehen aber wolle sie, sie müsse doch auch sehen, ob der Mann noch wis-se, wo man den Löffel hineinschiebe und wie man ihn halte, sie habe sich schon sagen lassen, da draußen verlernen sie alles.
Als sie einmal das Trömle gefunden hatte zum Reden, fiel ihr immer wieder etwas ein, das sie rasch und lebhaft vorbrachte.
Der Nero habe doch etwas gewußt, er habe mehr als Menschenverstand und werde sie schön auslachen, wenn sie heimkomme. Sie sei bloß begierig, was die Kinder machen. Zwar vom Daniel wisse sie’s schon. Bei dem sei das erste, daß er des Vaters Kappe aufsetze und nach dem Seitengewehr lange, der sei im Schlaf und im Wachen Soldat. Aber das Lenele tue vielleicht zuerst fremd wegen des Bartes und der Schorschle wisse noch gar nicht, was das sei, ein Va-ter. Der kenne bis jetzt bloß eine Mutter und auch die hauptsächlich des Schop-pens wegen, und die Welt sei ihm noch eine neue Gegend, er staune immer so mit den Augen um sich her.
Das letztere tat aber der Vater selber auch. Er sagte fast gar nichts, das Weib mochte vorbringen, was es wollte. Es probierte noch dies und das, ob es besser verfange. Aber er gab zu allem nur ein kurzes Wörtlein oder auch gar keins, machte ein freundliches Gesicht dazu, das wie ein Dank aussah, weil sie es so wohl und gut meinte, und ließ dann seine Augen wieder hinausgehen. Es war die Heimat, die er wieder sah. Lieblich und schön trat sie an sein Herz, das im wilden Graus und Schreck des Krieges, in der lähmenden, aufzehrenden Mühsal des Schützengrabens gewesen war.
Hoch und heiter stand der Himmel über ihr; in dem leichten Morgenlüftchen wogte das Gras der weiten Wiesenfläche wie ein Meer, eine Grasmücke sang unweit von hier auf einem schwanken Halm, helle und dunkle Baumwipfel grüßten vom ferneren Waldrand herüber, Kirchturmspitzen, Hausdächer, leich-ter, heller Rauch aus den Schornsteinen zeigten, wo Menschen friedlich woh-nen und hantieren, die Albberge leuchteten still, und nirgends war ein wilder und frecher Laut, ein Krachen, Donnern oder Stöhnen. Eine Kirchenuhr schlug, und ihre Schwestern in der Runde kamen ruhig und gelassen hinter ihr drein. Der Urlauber strich sich mit der Hand übers Gesicht und der Atem kam und ging ihm hörbar.
»Er ist müd,« sagte der Dötlesvetter. »Ein Wunder ist’s nicht. Nacht und Tag hindurch fahren, dann von Gossenstadt herüber laufen und gleich mähen. Bleib’ noch ein bißle sitzen, Johann, ich mach’ derweil weiter.«
Aber: »Was werd’ ich denn müd’ sein,« sagte der und stand auf, reckte die Arme und nahm die Sense wieder.
»Es ist bloß, wenn man so sieht, wie alles daheim ist, und man ist so lang fortgewesen und hat Sach’ gesehen, o je, Sach’, daß es einem graust, dann muß man sich zuerst ein Stückle wundern, daß man da ist.«
Die Schuhmacherin packte ihr Geschirr zusammen.
»Ich muß heim,« sagte sie, »der Schorschle wird aufgewacht sein und sch-reien und der Daniel muß in die Schule. Ich komm wieder, so schnell als mög-lich komm’ ich wieder, mit dem Fuhrwerk und dem Mittagessen und den Kin-dern.«
Ob der Mann mit heimgehe, fragte sie gar nicht. Was wird denn der Hausva-ter davonlaufen mitten im Heuet, und was soll er denn daheim tun?
Sie kehrte sich aber noch ein paarmal um, ehe sie im Hölzle verschwand und strich mit den Augen am Mann hinauf und hinunter. Denn diese wollten sich nicht gern von seinem Anblick trennen, erst recht nicht, da sie sahen, auch er schicke die seinen hintendrein so lang als möglich. Er hatte ein anderes Ge-sicht mitgebracht, als er fortgenommen hatte und das machte der Bart nicht al-lein. Man sah es, wenn er still war, und darum hatte die Schuhmacherin immer wieder etwas zum Reden aufs Tapet gebracht, weil ihr das Gesicht weh tat. Weil etwas Fremdes drin war.
»Der Dötlesvetter hätt’ nicht gleich dabei sein sollen,« sagte sie plötzlich, und dann überfiel sie auf einmal nachträglich noch das Heimweh, das sie um ihn getragen hatte, so stark, daß es ihr ein paar Herzstöße gab und ein warmer Re-gen niederging aus den Augen ohne vorherige Anmeldung. Aber es war doch nur ein Sonnenregelein.
Denn: »Was heulst denn jetzt, dumms Weib,« sagte sie sich; »hättst lang Zeit dazu gehabt, jetzt ist er da und du brauchst nicht alles auf einen Sitz zu wissen, was ihn angeht. Es kommt schon nach und nach heraus. Jetzt bringst ihm seine Kinder und machst ihm das Herz warm. Er wird’s nötig haben, denk’ ich.«
Und damit war auch schon die Steige erreicht, die fußelte sie hinunter, wie ein ganz Junges, und wer sie sah, der brauchte nicht zu fragen: »Was ist dir auch Gutes passiert, Schuhmacherin?« denn immer von neuem tat sie es ungef-ragt kund:
»Mein Johann ist im Urlaub da. Droben heuet er auf der Hölzleswiese.«
Jetzt wenn man ein Herz hätte für die Schuhmacherin und wäre zufällig ge-rade in Hirzenbach, so möchte man ihr wohl ein bißchen zur Hand gehen. Denn sie muß ruhig dasitzen und den Schorschle stillen, der aufgewacht ist und bloßgestrampft, und der schreit, als ob er die ganze Welt zum Zeugen aufrufen möchte, daß er Hunger hat und daß die Mutter nicht da ist. Für ihn ist alles recht und in Ordnung, so bald er an der Quelle liegt, umfangen von Mutterar-men. Er nimmt sich auch recht herzlich Zeit zum Sattwerden, setzt hie und da ab und guckt ausruhend um sich her. Zum Beispiel der Bändel an der Mutter Leibchen, der ist ihm neu, nach dem langt er und spielt damit. Es wäre am schönsten, wenn man’s grad immer so ließe, wie es jetzt ist. Dem Schorschle gefällt es so am allerbesten.
Aber die Mutter ist heute nicht so bei der Sache wie sonst manchmal. Sie sagt von Zeit zu Zeit: »Mach’, Büble, meinst ich hab’ nur so Zeit zum hinsitzen?« Alle Arbeit rings umher steht auf und ruft: Schuhmacherin komm! Sie sollte drei Paar Hände und Füße haben, daß sie die Großen fertig macht und mit Es-sen versorgt, die Stuben sauber macht, so daß der Mann, wenn er heimkommt nach so langer Zeit, sieht, sie hat die Sache im Stand. Und so ist’s mit Werks-tatt, Stall und Küche. Alles soll grüß Gott zu ihm sagen, wenn er kommt. Da oben sind Spinneweben über dem Fenster, die sieht sie, so lange der Schorschle ganz pomadig schmatzt, und möchte aufstehen und den Besen holen.
»Mach’ ein bißle, Schatzenkind.«
Zum Mittagessen muß sie auch etwas rechtes herschaffen. Denn was mag er draußen gegessen haben? Sie muß ihn jetzt herpflegen, es muß ihm wohl sein. Und daneben muß sie sich regen, daß sie zeitig wieder hinauskommt, nicht bloß weil das Heu gespreitet sein muß, auch sonst, überhaupt. Wenn doch der Mann da ist.
Der Daniel, das Lenele und der Nero stehen um sie herum und staunen, als sie die Botschaft vom Vater hören. Das heißt, der Nero staunt nicht. Er ist bloß zu höflich, als daß er sagt: Ich hab’ dir’s doch schon lang gesagt. Er wedelt ganz anständig mit dem Schwanz, wie ein Diplomat, der in einem Salon von einer Sache hört, die er längst weiß, aber nicht wissen darf sozusagen, und der sich verbeugt: »Ach, was Sie nicht sagen. Das ist mir ja sehr interessant.«
Gern aber sähe man dem Daniel und dem Lenele ins Herz, was wohl in der Zeit seines Fortseins aus dem Vater geworden ist bei ihnen. Sie haben ihn noch nie in der Uniform gesehen. Er ist abgereist mit einem steifen Hut, im braunen Anzug und mit einer blaugrün gestreiften Krawatte, einen Reisesack in der Hand. In dem Reisesack hat er sonst Schuhe ausgetragen auf die Höfe in der Umgegend. Nun aber ist er, dem Hörensagen nach, ein Soldat und wird wohl ein Gewehr haben und einen Säbel, und mit beiden wird er wohl Franzosen oder Engländer oder Russen, oder auch alle Arten, die schwere Menge umgebracht haben. Das ist hochinteressant, aber auch ein bißchen grausig, bloß ein bißchen. Eigentlich ist es prachtvoll; man muß machen, daß man ihn sieht, denn wie er aussieht, das weiß man nicht mehr recht, es ist schon so lang her, daß er fort ist.
Als der Schorschle endlich einmal fertig ist und im Wagen liegt und die zwei Großen zum Waschen und Kämmen drankommen, wundert sich die Mutter, wieso sie denn immer die Köpfe zusammenstrecken, wie ein paar junge Wagengäule, und es miteinander wichtig haben mit Wispern und Flüstern. Aber sie ist zu stark überlenkt mit der Arbeit, als, daß sie viel früge, entläßt den Da-niel in die Schule und das Lenele zur Dötlesbas um einen Strauß aus dem Gar-ten für die blaue Blumenvase, und fährt im Haus herum wie auf Rädchen, um allem nachzukommen.
Wenn sie aber die Gabe hätte, ein bißchen weiter hinauszusehen, als bis an die Stubenwand, so sehe sie gleich darnach einen Buben, der listig und verstohlen seinen Schulsack in das Häuschen im Schulhof legt, dann auf seinen Barfüßen springt, so schnell sie ihn tragen wollen, bis an den großen Nußbaum vor dem letzten Haus, und dort umheräugt, ob ihm niemand auf den Fersen ist. Und sähe ein Mädelein mit zwei frischgeflochtenen Zöpfen, das nichts weniger als zur Base, das gleichfalls, durch Grasgärten und Hecken hindurch, zu dem Nußbaum hintrottet und dort den Bruder findet. Sähe, wie die zwei mi-teinander die Steig hinauflaufen, der Hölzleswiese zu, wo der Vater ist.
Vielleicht ist es gut, daß sie’s nicht sieht. Denn Schand- und ehrenhalber müßte sie ihnen nachlaufen und sie zur Pflicht zurückführen. Auch macht sich’s vor dem Vater immerhin schlecht, wenn sie die zwei Großen so wenig am Le-itseil hat, daß sie nur grad durchgehen, wenn’s ihnen einfällt. Und sie hat doch keine Zeit zum Nachlaufen und keine Lust zum Ärgern.
So aber ist’s den zwei flüchtigen zumut, wie sie miteinander durch das Hölz-le streichen und sich hie und da umsehen, ob niemand hinter ihnen ist: es gibt eine schöne Geschichte, da wirft sich die Heldin dem Helden an die Brust und sagt: »Ich weiß, daß ich sündige, aber ich tue es willig und gern.«
Ein paar Minuten später wußten sie, wie der Vater aussah. Nicht viel anders als sonst, abgerechnet den Bart. So wie jetzt, im gestreiften Hemd, die Ärmel hoch hinaufgeschlagen, rüstig mähend, hatten sie ihn noch irgendwo in einem Gehirnschublädchen von früher her. Den Bart hatte ihnen die Mutter schon an-gekündigt. Er hatte gar nichts grausiges an sich. Als er seine Jugend sich da-herschlängeln sah, lachte er übers ganze Gesicht, ein grüß Gott ums andere. Sie spürten beiderseits, daß sie nah zusammen gehörten; die Kinder schneckelten sich an ihn hin und umfaßten seine feldgraue Hose, und der Vater spürte mit Herzklopfen, was es gewesen wäre, wenn er diese beiden nicht mehr gesehen hätte. Es war nah genug dran gewesen.
Er sah in ihre Gesichter hinein. Das Lenele war ein feines, blondes Dinglein mit einem Schelmenzug um das rote Mäulchen und krummen Haaren rings um das Gesichtlein herum, und es fiel dem Vater auf einmal wie von fernher ein, daß seine blauen Augen schon einmal in einem Gesicht gestanden seien. Aber in welchem? Er hatte doch seine Mutter nicht als Kind gekannt, begreiflich, aber sein Herz beharrte drauf, das Lenele habe die Augen von seiner Ahne, von des Vaters Mutter. Er hatte das Köpflein in seine beiden großen Hände genom-men, aber es schüttelte sich darin, es war nicht gern eingesperrt. Da ließ er’s los und das Kind hüpfte um ihn herum, wie ein Gaislein, nur daß es hie und da ei-nen Fuß hinaufzog, der frischen Stoppeln wegen, die in seine Barfüße schnit-ten.
Der Daniel hatte einen kurzgeschorenen Bubenkopf, wie alle Hirzenbacher Buben einen Kopf haben, möchte man sagen, wenn nicht darauf der Vater so-fort sagen würde, daß er den von seinem Buben unter hunderttausend heraus-kennen würde. So eine lustige und trotzige Stumpfnase habe nicht bald wieder einer und so ein paar Augen im Kopf, ehrlich und treu, wie ein Haushund, und dann eine breite und feste Stirn mit einem ganzen Sternenhimmel von Som-mersprossen, »Roßmucken« heißt man sie in Hirzenbach.
»Ja Daniel, ja Büble, da bist?« sagte der Vater und hatte einen Ton in der Stimme, wie man ihn bloß an hohen Festtagen im Leben hat, so ganz von unten herauf.
Der Daniel nickte bloß. Er dachte geschwind streifweise an seinen Ranzen drunten im Schulhof. Aber er warf ihn weit hinter sich und guckte den Vater an, »ehrlich und treu, wie ein Haushund.«
»Bist auch brav gewesen?« fragte der Vater, immer noch in dem Festtagston. Da mußte ihm der Daniel doch die Freude machen, mit einem herzhaften Ja zu antworten. Wenn man grad vom Feld heimkommt. Hoffentlich fragte er auch nicht ins einzelne.
»Soll ich derweil anfangen mit Gras verstreuen?«
Es war vielleicht doch sicherer, das Gespräch ein bißchen zu unterbrechen.
Der Vater staunte über den Eifer des sechsjährigen Buben.
»Pressiert nicht so arg,« sagte er. »Bleib’ nur noch ein bißle bei mir. Kannst dein Sach’ in der Schul’?«
»Mhm.« Das kam ein bißchen gedrückt heraus.
Da dachte der Vater, es pressiere auch nicht mit der Lernfrage, die könne man später besprechen. So ein kleines Büble habe es noch nicht so wichtig da-mit.
Irgendwo schlug es acht Uhr. Der Vater zählte und stutzte.
»Ja wie ist mir’s denn?« fragte er.
»Die muß falsch schlagen, oder wie?
Die Mutter hat doch gesagt, du müssest in die Schule. Die kann doch noch nicht aus sein? jetzt kommt mir’s erst.«
Da las er die Sündenschuld auf dem Gesicht seines Buben.
Und es fiel ihm auch einiges aus seiner eigenen Kindheit ein.
»Mändle, Mändle,« sagte er, aber aus einem andern Ton, »wenn mich nicht alles täuscht, bist du hinter die Schul’ gegangen. Hm? sag’s nur. So, so macht’s mein Bub’, wenn ich fort bin im Krieg?«
Er zog noch ein tieferes Register.
»Ich hätt’ gute Lust und tät dich gleich ’rüberlegen. ’S wär ’s einfachste. Ich denk’ aber, dein Lehrer tut’s morgen, ich will’s zu ihm sagen, daß er dir dein Sitzleder versohlt.«
Dem Daniel fiel der ganze Himmel ein.
»Lehrer hab’ ich kein’n, bloß eine Lehrerin.« sagte er mit wackeliger Stim-me. »Die haut mich nicht, wenn ich’s ihr sag’, daß« – da warf die Stimme vol-lends um und tat ein paar Schluchzer, »daß ich dich hab’ sehen wollen, weil du bist vom Krieg kommen, und – und weil ich dein Gewehr noch gar nicht gesehen hab’ und dein’n Säbel.«
Das Lenele hatte auch nicht das sauberste Gewissen und besann sich grad, ob es zur Gesellschaft mitschluchzen solle. Da hellte sich auf einmal des Vaters Gesicht wieder auf, als ob es ihn über alles hinüber inwendig freue.
»Die Liebe decket auch der Sünden Menge,« sagte er in seinen Bart hinein, denn er war ein bibelfester Mann.
Und dann nahm er seinem Buben mit einem Schwung auf die Achsel.
»Also dann muß ich dir’s halt zeigen, Alterle,« sagte er laut.
»Wenn du mir’s versprichst, daß du nicht mehr hinter die Schul’ gehst, wenn ich fort bin.«
»Auf Ehr’ und Seligkeit,« sagte der Daniel.
»Nein, so mußt nicht sagen, Büble,« verwies ihm der Vater.
»Du könntest’s einmal vergessen, dann wär’s eine Sünd’.«
»So sagen bei uns alle Buben,« beharrte der Daniel.
»Dann komm, aber halt was du versprichst.«
Als die Mutter kam, fand sie eine helle Glückseligkeit: ihres Mannes Gesicht aufgeschlossen und gegenwärtig und die Kinder um ihn herum, wie die Ho-nigbienen um einen Lilienstengel. Da fiel ihr ein Stein vom Herzen. »Er ist noch der nemlich’ gleich’,« sagte sie zu sich selbst und bot ihm seinen jüngsten Sohn dar, daß er ihn annehme und herze.
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Alte und heuerfahrene Leute sagen, es sei in langen Jahren nicht so gewesen, wie heuer, daß man das Heu in einem Tag fertig gebracht habe.
Die Sonne helfe schaffen, weil sie wisse, daß die Männer im Feld stehen fürs Vaterland, und weil unser Herrgott nicht zugebe, daß Deutschland verhungere. Auch keine Kuh und keine Gais im ganzen deutschen Vaterland.
Am Abend dieses Sommertages fuhr der Landwehrmann Johann Berner mit seiner Familie auf dem hochgeladenen Heuwagen in Hirzenbach ein. Als er es liegen sah im geschützten Tal, das Häuflein Häuser um die Kirche her, wie Küchlein um die Gluckhenne, und sah den Rauch aus den Kaminen aufstei-gen, und die Kühe zur Tränke gehen an den großen Brunnen und die Kinder spielen auf dem Gänswasen, da ergriff ihn aufs neue das große, andächtige Sta-unen, das in den letzten geschäftigen Stunden ein wenig geschlafen hatte:
Daß da Friede war und unversehrtes Daheimsein. Nirgends auf den Bergen standen Geschütze und richteten ihre drohenden Schlünde gegen das Tal, nir-gends brannten Gehöfte und lagen Häuser in Schutt und starrten Heimatlose auf den Fleck, wo sie glücklich gewesen waren.
Nirgends war der fruchtbare Boden umgegraben, in Gräben und Wälle verwandelt, und sperrten Drahtverhaue den Weg.
Die Abendglocke auf dem Turm hob ein sanftes Läuten an, das hallte fried-lich durch das Tal. Da sprangen die Kinder vom Spiel weg den Häusern zu, wo ihre Mütter auf sie warteten.
An solchen Dörfern vorbei und an arbeitsamen blühenden Städten war er ges-tern den ganzen Tag gefahren, wie im Traum.
Das alles war Deutschland, war Vaterland, Heimat, und das alles lag in treuer Hut. Noch nie hatte er das Wort Vaterland so inbrünstig gedacht wie auf dieser Fahrt. Er hätte zu jedem Menschen, der ihm begegnete, sagen mögen: Weißt du auch, wie gut du’s hast? Weißt du auch was Krieg ist? Nein, Gott Lob und Dank weißt du’s nicht. Aber es ist doch schad, daß du’s nicht weißt.
Noch um eine Ecke, dann hielten die Kühe (eine davon gehörte dem Dötles-vetter) an der heimatlichen Scheuer.
Ein Haus daneben, keins von den stattlichsten, aber doch das liebste von al-len, Blumenbretter vor den Fenstern mit Nägelein, Kapuziner und Winden, ein Nero, der am längsten gewartet hatte und der still und außer sich vor Freude an seinem Herrn emporstieg und inbrünstig schnaufte und wedelte. Daheim, da-heim. Die Kinder strebten herunter. Er hob mit starkem Schwung eins ums an-dere vom Wagen. Der Schorschle schlief und hatte die Fäustlein an den Sch-läfen, die Mutter hatte ihn im Arm. Da nahm er sie mitsamt dem Büblein. Wenn die Hirzenbacher nicht zugesehen hätten, er hätte sie miteinander ins Haus getragen, es wäre aber gegen allen Brauch gewesen.
Es war eine mondhelle Nacht. Die Schuhmacherin lag wach und sah zu ih-rem Mann hinüber, der schlief tief und fest. Lange, volle Atemzüge tat er, es war ein Staat. Zwischen ihnen lag der Schorschle und schnäufelte kurz und le-icht, wie halt so ein Kindlein tut, man merkt’s kaum. Die Mutter hatte ihn ins Bett genommen, weil er schrie und nicht mehr einschlafen wollte. Nun war er wieder hinüber ins Traumland. Die Schuhmacherin hätte auch wieder einschla-fen können, sie hatte jetzt alles um sich herum, was zu ihr gehörte.
Freilich, auf wie lang? Das war der Wurm im Apfel. Drei Tage war der Mann jetzt da, vier kamen auch. Über die vier hinaus konnte sie noch nicht denken. Der Mann sagte zwar, das sei noch nicht nötig. Sonst seien die vier auch noch verdorben. Wenn ihn nicht alles täusche, stehe in der Bibel etwas davon, daß der Mensch das Leben tagweis nehmen solle, nicht wochenweis. Aber das sagte er wohl, und es stand auch in der Bibel, ob er es aber selber so mache, dessen war sie doch nicht sicher.
Er war oft weit weg mit seinen Gedanken, so daß man ihn errufen mußte; ob er aber hinter sich oder vor sich sah, das wußte dann kein Mensch. Das We-ib dachte, es werde beides sein, einmal dies und einmal das. Gestern Abend hat-te sie ihm den Schorschle eine Weile zum halten gegeben, so lang sie in den Keller ging. Da hatte er das Bürschlein lustig an seinem Bart herumspielen las-sen, so lang sie in der Stube war. Als sie aber wieder hereinkam, merkte er’s gar nicht, guckte dem Schorschle tief in die Augen und sagte ein paarmal hinte-reinander: »Du arms Büble.« Sie hätte ihn gern gefragt, warum der Schorschle ein arms Büble sei, aber wußte sie es denn nicht selber? es war doch genug, daß sein Vater wieder in den Krieg mußte.
Die Schuhmacherin erhob sich ein wenig, stützte sich auf den Ellbogen und sah dem Mann ins Gesicht. Es lag in einer fahlen Helle, weil der Mond jetzt vorrückte. Die Helle machte ihn vielleicht ein bißchen unruhig, denn er bewegte die Lippen, wie eins manchmal vor dem Aufwachen tut. Es wäre ein-fach gewesen, den Vorhang zuzumachen, aber der Schuhmacherin war es, als ob sie jetzt etwas erfahre, was sie wissen müsse.
Die Sache war nämlich so: Der Schuhmacher sprach nicht gern vom Krieg und von seinen Erlebnissen draußen überhaupt. Weder im Wirtshaus, noch auf der Gasse, noch daheim.
Er konnte manchmal sagen: »Ihr könnet gar nicht genug Gott danken, daß der Krieg draußen ist und nicht hier. Wenn ich denk’, wie es da aussieht.«
Fragte man ihn aber: »Ja, wie sieht’s denn aus?« so sagt er nur: »O wüst, wüst, seid froh, daß ihr’s nicht sehen müsset.«
Sagte jemand: »Was meinst auch, Schuhmacher, wie’s ausgeht? Du kommst doch draußen herein. Die Zeitungen schwätzen viel, wenn der Tag lang ist,« so wiegte er bedächtig den Kopf: »Ich kann bloß sagen: hereinkommen sie nicht, die Franzosen nicht und die Engländer nicht. Und wenn sie auf den Kopf ste-hen. Wir lassen sie nicht herein. Mehr kann ich nicht sagen.« Das war viel, aber es war den Hirzenbachern nicht genug. Er hätte erzählen können, was er wollte, man hätte ihm alles geglaubt, weil er von draußen herein kam. Aber kein Mensch wußte, wo sein heiteres, schlagfertiges Mundwerk von vordem hingekommen war. Vom Heuet und von der Ernte und vom Obst, da sprach er gern mit, und gegen die Kinder war er wie immer. Die gingen ihm nicht vom Fuß. Er schaffte den ganzen Tag. Als es regnete, saß er in der Werkstatt und flickte und sohlte alles Schuhwerk im ganzen Hause. Dem Weib machte er ein Paar Sonntagsschuhe. Ihrem Essen tat er alle Ehre an und sagte: »Dich sollt’ man als Feldköchin haben, da wär’ man versorgt,« und lachte sie an dazu.
Wenn der Daniel seine Kameraden in die Werkstatt schleppte, weil sie den Soldaten sehen wollten, so tat er ihnen den Gefallen und legte Ahle und Pechdraht weg und schnallte um, daß sie ihn anstaunen konnten. Auch sang er mit ihnen auf Begehren: »Heimat, o Heimat, bald muß ich dich verlassen« und: »O Deutschland hoch in Ehren« und was sie sonst noch anstimmten. Aber so scharf die Mutter aufpaßte: es ging kein einziger Kanonenschuß los in seinen Reden. Immer redete er von andern Sachen mit den Kindern.
Und das war, das wußte sie für gewiß, weil es ihm grauste, davon zu reden. Sie kannte doch ihren Johann. Er trug etwas mit sich herum, das war so, daß er manchmal tief aufschnaufen mußte. Aber er lud es nicht bei ihr ab. Viel-leicht dachte er, sonst müsse sie es nachher schleppen, wenn er fort sei, und es wachse dann ins Ungemessene.
»Was magst du auch erlebt haben ohne mich da draußen?« dachte sie, als sie ihn so ansah. »Das machen viele Jahre an meinem Herzen nicht mehr wett.«
Da wurde auf einmal das tonlose Geflüster laut und der Mann sagte ganz laut: »Ach du barmherziger Gott.« Sonst gar nichts. Aber er sagte es in einem Ton, in dem alles hilflose Grauen und aller Jammer und alles Entsetzen der ganzen Welt beschlossen lag.
Da war es dem Weib, als habe er ihm nun sein ganzes Herz ausgeleert und es wisse von diesem Augenblick an, wie es im Krieg aussehe. Es war so vieles in der Zeitung gestanden und vieles auch von Mund zu Mund geredet worden, das hatte sie teils fassen können, teils auch nicht, aber nun drang ihr der Schrecken ins Herz mit Schießen, Hauen und Stechen, mit Bluten, Stöhnen und Sterben.
Ach du barmherziger Gott.
Jetzt wußte sie es nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen. Das schlug und hämmerte wild.
Der Mann war wieder still und schlief ruhig weiter.
Das Weib aber, das ihn gern geweckt und mit aller Liebe getröstet hätte, zog sich die Decke übers Gesicht, daß er nicht gestört sei, und weinte bitterlich.
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Aber was der Schuhmacher in der Nacht herausgestöhnt hatte, das war nicht alles gewesen, was er aus dem Krieg mit heimgebracht hatte und was er davon zu sagen wußte.
Es kam ein Weib drei Stunden weit über Berg und Tal daher, um ihn zu fra-gen. Da fand sich’s, daß er Dinge erlebt und in sich gesammelt hatte, von der Art, die die Engel Gottes gelüstig machen könnte, Mensch zu sein auf Erden, weil sie in ihrer friedlichen Seligkeit nicht wissen können, was es ist, wenn Brüder das Leben für einander geben, und wenn blutige Streiter noch Herz und Milde für den Feind haben, und wenn Väter überall Väter sind, wo sie auch hinkommen und wo Kinder sind auf der Welt.
Es war am Sonntag nachmittag auf der Hölzleswiese. Der Kirschenbaum bot seine braunroten Früchte an zur Schnabelweide. Auf der Leiter stand der Vater und über ihm in einer Gabel saß der Daniel und ließ die Füße baumeln. Beide brockten eifrig, ohne zu dem Baum zu sagen: mit Verlaub, ich bin so frei, aber mit dem Unterschied, daß der Daniel alles gleich da hinein versorgte, wo es am sichersten ist und nur die Steine hinunterspuckte, und der Vater ein Weiden-körblein anhängen hatte, das sich nach und nach füllte, für die Familie nämlich, die unter dem Baum saß. Von Zeit zu Zeit rief er: »Paß auf, Lenele,« und warf eine Handvoll als Abschlagszahlung in das aufgehobene Schürzlein, versprec-hend, bald komme er hinunter, es sei jetzt einstweilen genug.
Die Mutter hatte den Schorschle im Schoß und ließ ihn, der seine Füße in Gebrauch nehmen wollte, auf sich herumsteigen, gab ihm liebe Namen und dachte drunterhinein, wenn es morgen nicht Tag würde und sie könnten alle miteinander schlafen bis zum Friedensschluß, so hätte sie nichts dagegen. Denn morgen war derjenige Tag, man weiß schon welcher.
Da kam ein Weib aus dem jenseitigen Wald heraus, nicht aus dem Hölzle, sondern aus dem Frauenzeller Staatswald, der sich lang und dunkel auf der Hochfläche hinstreckt. Es trug schwarze Kleider und hatte ein Körblein am Arm, ging so sachte für sich hin und wiegte manchmal den Kopf, wie wenn es seinen Gedanken im stillen Red’ und Antwort stände. Das sahen sie unter dem Kirschenbaum und dachten: wo mag sie auch hinwollen? sie sieht aus, als ob sie mit einer Leich’ gehen wollte. Es ist aber unseres Wissens keine in der Nachbarschaft.
Als die Wallerin – sie mußte nämlich an dem Kirschenbaum vorbei – herzu kam, bot ihr die Schuhmacherin die Zeit mit der Frage: »Auch unterwegs he-ut?« und empfing mit dem Dank die Gegenfrage: »Da bin ich doch recht nach Hirzenbach?«
Die Schuhmacherin wies ihr Weg und Steg, nicht ohne auf den Busch zu klopfen, wem etwa in Hirzenbach der Besuch zugedacht sei, schon wegen der Wegweisung ins Unter- oder Oberdorf.
Aber sie staunte nicht schlecht, als sie vernahm, daß ihr eigenes Haus verme-int sei, und daß der Weg ihrem Mann zulieb gemacht sei.
»Da könnet Ihr gleich dableiben, Weib,« sagte sie, »der Johann Berner, das ist mein Mann, und er steht da oben auf der Leiter.«
Eh’ sie aber den Mann herunterrief, kam er, der alles gehört hatte, schon Schritt für Schritt die Leiter herunter, machte im währenden Absteigen die Hemdärmel zu und stand gleich darauf vor der Fremden.
»Drum bin ich die Hansenbäuerin von Bergzell,« sagte diese, »und meines Manns selig Vetter hat mir geschrieben, Ihr seiet im Urlaub und Ihr seiet dabei gewesen, wie man meine Buben begraben hat. Jetzt, wenn Ihr mir halt sagen könntet, wie es gewesen ist,« – sie sah mit kummervoll fragenden Augen dem Mann ins Gesicht: sag’ mir alles, was du weißt, aber gelt sag’ mir nicht so Sch-reckliches, daß ich’s nicht zu tragen vermag. Tot sind sie, das weiß ich, aber ob sie halt schwer gelitten haben, wenn ich das wüßte.
Sie saßen miteinander unter dem Kirschbaum. Der Daniel lag im Gras dabei, stützte den Kopf mit Ellenbogen und Fäusten und hörte zu mit Augen, so groß und rund wie Pflugräder.
»Brave Buben habt Ihr gehabt,« sagte der Vater, »rechte Buben.
Ich werd’s doch wissen, wir sind ja in einer Kompagnie gewesen. Alle haben sie gern gehabt. Das Zwiegespann hat man sie immer geheißen, weil sie immer gewesen sind wie zusammengeschirrt. Keinen hat man gesehen ohne den an-dern.«
»So sind sie von klein auf gewesen,« sagte ihre Mutter und sank in die Ver-gangenheit hinein, wie in einen tiefen See.
»Ich habe einmal dem Joseph den Hintern verhauen, da hat der Vinzenz über-laut geschrieen: Mutter, gib mir auch. Und wenn der Große ins Feuer und Was-ser gegangen wär’, so wär’ der Kleine auch hinein.
Wie sie in den Krieg gegangen sind, hat der Joseph zu mir gesagt: »Mutter, ich paß’ dir auf deinen Kleinen auf, so wahr ich leb’.««
»Das hat er auch getan,« bestätigte der Berner. »Da ist nichts dran auszuset-zen. Also so ist es gegangen: Wie wir im ärgsten Feuer gewesen sind bei einem Sturmangriff und auch das Zwiegespann wie wild drauf los, fährt auf einmal dem Vinzenz« – »das ist mein Kleiner« – schob die Mutter ein, »fährt ihm auf einmal eine Kugel durch den Fuß, daß er stolpert und hinfällt und auch nicht mehr aufstehen kann.
»Joseph, verlaß mich nicht,« schreit er hell hinaus.
»Was werd’ ich dich denn verlassen,« sagt der Joseph, wie wenn nichts wär, ganz ruhig. Der Feldwebel schreit: voran, drauf! Aber der Joseph sagt bloß: »Der muß auch mit« und lädt den Bruder auf den Rücken. Und wie das jetzt der Fall sein mag, ob der Feldwebel gedacht hat: mit dem ist doch vorher nichts anzufangen, eh’ der andere versorgt ist oder ob’s ihm grad so natürlich vorgekommen ist wie uns, kurzum, er läßt ihn richtig laufen. Und der Joseph schleppt den Vinzenz – es sind ja beides Kerle wie die Bäum’ – fünfzehn Sch-ritt vor, durch einen Geschoßhagel hindurch, bis an eine steinerne Ruhebank, die er von weitem erspäht hat, es ist ein Kruzifix dabei gestanden. Dort hat er ihn wohl in Deckung hinlegen und dann wieder an seine Schuldigkeit gehen wollen, denn er ist keiner von denen gewesen, die an sich denken im Gefecht, da trifft ihn ein Geschoß in den Hals und fährt ihm durch und durch und dem Vinzenz noch in die Brust.
So weiß ich’s von denen, die nach ihnen kamen und denen der Vinzenz im Niederfallen noch zurief: »Behüt’ euch Gott, ihr Brüder, wir zwei tun nimmer mit.««
Die Schuhmacherin drückte ihren Schorschle ans Herz und sah von der Seite den Mann an, der jetzt den Vorhang ein Stück weit auftat, um einer betrübten Mutter zu geben, was ihr gebührte, und der im gleichen Feuer gewesen war. Ja und der, hilf Gott, auch wieder hineinging. Aber sie tat keinen Schnaufer, um ihn nicht drauszubringen.
Die Hansenbäuerin saß ganz still und aufrecht da und sah vor sich hin, wie in eine weite Ferne. Wahrscheinlich kniete sie nieder ins Gras zu ihren beiden Bu-ben und horchte, ob ihr Herz noch schlage und ob etwa noch ein letztes, armes Wörtlein von den blutigen Lippen falle. Und vielleicht legte sie einen nach dem andern – was gingen sie die fliegenden Kugeln an? – ausgestreckt zu den Füßen des stillen Mannes am Kreuz, der grad auf sie heruntersah, und der einstmals auch sein Leben für die Brüder gelassen hat.
»In der Zeitung sei damals gestanden,« fuhr der Schuhmacher fort, »der Sturmangriff sei glänzend durchgeführt worden. Ich weiß nicht. Wenn man selber mittut, merkt man allemal nicht so viel von dem Glanz. Das macht, daß er so viel gute Kameraden kostet. Das wissen die nicht so, die es schreiben. Aber nach vier Stunden haben wir die Stellung doch gehabt: eine steile Anhöhe; es ist ein Wallfahrtskirchlein droben gestanden, das war bös zerschos-sen, aber es hat doch noch etwas von einem Dach gehabt. Innen lag alles voll von Verwundeten, Deutsche und Franzosen durcheinander, außen drum herum legten wir die Toten, die kein Dach mehr gebraucht haben. Da sind auch Eure Buben gelegen.
In dem Kirchlein ist auch eine Orgel gewesen. Und in der späten Dämmerung ist einer von den Verwundeten aufgestanden, es ist ein Schullehrer gewesen, er hat einen Kopfschuß gehabt, keinen so schweren, und hat auf der Orgel ein Lied gespielt, das hab’ ich von daheim gekannt; unser Organist hat’s immer am Karfreitag unters Nachtmahl hineingespielt. »Liebe, die für mich gestorben,« heißt es, hat er gesagt. Da haben wir alle mit Graben aufgehört und die Mützen heruntergetan; nämlich wir sind gleich dran gegangen, den Toten das Bett zu machen und das Lied ist ihr Schlaflied gewesen.
Unser Feldwebel ist ein Rauhbauz und hat einen oft elend kuranzen können. Aber wie er das Zwiegespann gesehen hat: »Das hat man sich denken können, daß für die Zwei eine Kugel langt,« hat er gesagt und hat mit den Augen gezwinkert, daß man’s nicht merken soll, daß es ihm schwer fällt. Er hat auch sein Teil; der Arm wird wohl hin sein.«
An den Daniel dachte kein Mensch, bis er auf einmal patzig sagte: »Aber gelt, Vater, bloß die Deutschen habt ihr hineingetan in das Grab, die Franzosen nicht!«
Da sahen sie alle nach dem kleinen Kerl hin, der ganz mit seinen eigenen Ge-danken bei der Sache war.
»Was denkst auch, Büble,« sagt der Vater. »Wir haben sie doch erschossen gehabt. Das wär noch schöner. Wir haben ein großes, großes Franzosengrab gemacht und zwei, auch keine kleinen, für unsere Kameraden.«
»Drum,« seufzte die Schuhmacherin befriedigt auf. Denn es dünkte sie doch immerhin erträglicher, wenn die Unseren wenigstens nicht Brust an Brust mit dem Feind liegen mußten. Was zuviel sei, sei zuviel, dachte sie. Aber schon tat ihr der Mann den Deckel vom Hafen.
»Ganz grad ausgegangen ist’s freilich nicht,« fuhr er fort. »Solang wir an der Arbeit gewesen sind, sind noch drei Franzosen gestorben. Die haben wir, weil im Franzosengrab kein Platz mehr gewesen ist, zu den Unseren hineingetan. Sie tun einander nichts mehr.«
Die Hansenbäuerin nickte schwer.
»Werden auch arme Leut’ gewesen sein, die den Krieg nicht angefangen ha-ben,« sagte sie gut und lind.
»Kann sein, sie haben auch Weiber und Mütter daheim gehabt. Von mir aus, bei meinen Buben dürfen sie wohl liegen, die armen Tropfen.«
Dem Daniel gefiel’s nicht. Er stand auf und machte sich über den Kirschen-korb her, an dem das Lenele schon lang mit stillem Eifer saß.
Die Hansenbäuerin stand auf.
Sie gab dem Schuhmacher und seinem Weib die Hand.
»Ich hab’ weit heim,« sagte sie. »Und was ich hab’ wissen müssen, weiß ich jetzt. Ich sag’ vielmals vergelt’s Gott.«
Die Freude war wohl ausgelöscht in ihrem Herzen, aber die Ergebung nicht. Sie sah in allem Kummer stolz und vornehm aus. So sehen viele Frauen aus im deutschen Vaterland.
Sie sahen ihr nach, bis sie wieder in die dunkle Waldestür einging.
»Vater, erzähl’ noch mehr vom Krieg,« bettelte der Daniel.
»So etwas von einem Gewitter.«
Das war nämlich so: Vorgestern war ein Gewitter gewesen, bei dem eine ze-itlang Blitz auf Blitz und Schlag auf Schlag einander folgten. Der Daniel war der Mutter am Kleid gehangen, denn es war ihm etwas bänglich bei dem Krac-hen. Die Mutter aber (es war nach jener Mondnacht) gab ihm einen Puff: »Sei kein so Hasenfuß. So kracht’s im Krieg immer, wenn nicht noch ärger.«
Jetzt an dem friedlichen Sonnentag unter dem Kirschbaum hätte der Daniel gern etwas von Blitz und Schlag und wildem Tosen gehört, es hätte arg sein dürfen, es hätte ihm nichts gemacht.
Da begann der Vater: »Denk’ einmal, in Frankreich drin hab’ ich auch einen Buben gekannt, in deinem Alter, und bin gut Freund mit ihm gewesen. Er hat meiner Quartierfrau gehört. Der Vater ist schon ganz im Anfang in den Krieg gekommen. Seither haben sie nichts mehr von ihm gehört. Vielleicht ist er schon lange tot.
Seine Mutter ist ein kleines, zierliches Weiblein und hat zuerst eine Hei-denangst vor uns gehabt. Sie hat vom Hörensagen gewußt, wir seien schier so arg wie Menschenfresser. Wir sind zu dritt bei ihr im Quartier gelegen. Wie wir eingezogen sind, hat sie ihre Schubladen und Kästen vor uns aufgesperrt und gesagt: »Nix da, nix da, nix Geld, nix Essen,« und hat ihr Büblein an sich gepreßt, als wenn wir’s opfern wollten wie den Isaak.
Da haben wir unser Brot auf den Tisch gelegt und was wir so bei uns gehabt haben und haben ihr begreiflich gemacht, daß sie mit uns essen sollen alle bei-de, und haben dagegen angezeigt, daß wir Durst haben. »Auch nix dü Wäng?« hat einer gefragt. Da ist sie in den Keller gegangen und hat einen Krug voll Wein heraufgeholt und wir haben friedlich miteinander gegessen und getrun-ken.
Wir haben ihr Dach geflickt und sie hat unsere Hemden gewaschen.
Damals sind wir fast drei Wochen hinter der Front gewesen und noch gar nicht im Gefecht. Später ist’s anders gekommen.
Jetzt, wie sie nach und nach zutraulich geworden ist, hat sie mir anvertraut, daß ihr der Pierre, so heißt der Bub, gar nicht folgen wolle.
Sie habe einen braven Mann und der Bub verkomme ihr.
»So, was tut er denn?« hab’ ich gefragt.
»Ha, er geht hinter die Schule und strolcht mit bösen Buben herum,« sagte sie.
»Ich tät’ ihn verhauen, wenn ich Sie wär’,« sag’ ich.
Da sagt sie, er sei ihr zu stark und zu wild, sie sei nicht so bei Kraft die Zeit daher, und er sei auch das Ebenbild von seinem Vater, ihrem lieben Léonard, das könne sie doch nicht schlagen.
Da hab’ ich mir im stillen gelobt: ›Ich besorg’s ihm einmal. Vielleicht tut mir daheim auch einmal einer den Dienst bei meinem Buben.‹«
Der Daniel kroch vorsichtig ein bißchen näher zur Mutter hin. Die legte ihm liebreich die Hand auf den Arm.
»Ich hau’ dich schon selber, wenn’s nötig ist,« sagte sie beruhigend.
Da war’s ihm recht.
»Es hat sich auch bald begeben,« fuhr der Vater ruhig fort.
Kann sein, er hatte das Zwischenspiel gar nicht gesehen.
»Der Pierre ist ein ganz netter Schlingel gewesen mit kohlschwarzen Augen und einem Wald von schwarzem Lockenhaar.
Aber er hat einen Kameraden gehabt, drei, vier Jahre älter, einen durchtrie-benen Strick, dem hat er alles tun müssen, was er gewollt hat.
Und einmal find’ ich die zwei beisammen, wie sie der alten Madlene, das ist eine Wäscherin gewesen, ihren großen Waschzuber angebohrt haben, daß die Seifenbrüh’ auf die Gasse gelaufen ist. Heißt das, der Pierre hat’s getan, der andere hat bloß zugesehen und gehetzt: »Mach’, mach’ voran, sie kommt; das ist ein Hauptspaß, wenn sie schimpft.« Und hat gelacht wie ein junger Teufel. Da hab’ ich mein Gewehr – ich bin grad von der Wache gekommen – an eine Hauswand gelehnt und hab’ den Pierre ’rübergelegt und durchgewamst. Alle Fenster sind aufgegangen vor seinem Geschrei. Und alle Leut’ sind auf die Gasse gekommen, aber ich bin jetzt schon im Zug gewesen und hab’s gründlich gemacht.
»Was, Kerle,« hab’ ich gesagt, »dein Vater ist im Krieg und läßt sich totsc-hießen für sein Vaterland, und daheim hat er so einen Strick? Meinst, das tät’ ihn freuen, wenn er’s wüßte?««
Der Vater unterbrach sich. »Nein, nein, meine Wort’ hat er nicht verstan-den,« sagte er auf die Frage der Mutter, ob denn der Bub deutsch verstanden habe, da ihres Wissens dem Mann das französische nicht so herauslaufe wie Brunnenwasser. »Meine Wort’ hat er nicht verstanden, aber meine Hieb’ sind deutlich gewesen.«
»Ungefähr acht Tage nach dir ist die Frau in die Wochen gekommen, wieder mit einem Buben. Den hat sie Jean taufen lassen, das ist wie bei uns Johann, »zur Erinnerung an die brave deutsche Einquartierung,« hat sie gesagt.
Sie hat uns nicht ungern gehabt.«
Die Schuhmacherin rückte ein bißchen unruhig hin und her.
So arg es ist, es muß gestanden sein, daß sie dachte, jetzt könnten die Männer auch einmal genug im Quartier gelegen sein, sie müßten doch auch wissen, zu was sie im Krieg seien.
Aber sie schluckte jegliche Bemerkung hinunter, es war ihr selber ein Kreuz, daß sie so dachte.
Es kam auch gleich anders.
»Wir haben zusammengelegt zu einem kleinen Tauffest,« erzählte der Mann weiter. »Ich hab’ gesagt, das gelte für mein Büble daheim, das ich noch nicht gesehen hab’. Da, wie wir grad gemütlich dasitzen und auf alles Mögliche da-heim anstoßen, bläst draußen ein Hornist zum Sammeln und wir müssen auf und fort.
Behüt’ uns Gott, der Krieg ist etwas arges, man mag sagen, was man will.
So haben wir in der Kürze Abschied genommen. Feind ist Feind, aber Mensch ist Mensch. Es wird keine Sünd’ sein, daß ich das sag’.
Der Pierre und eine ganze Horde anderer Buben sind mit uns marschiert bis an den Wald und haben überlaut die Wacht am Rhein gesungen. Die haben wir sie gelehrt. Kann sein, ’s ist ihren Vätern nicht recht. In selbiger Nacht sind wir noch ins Gefecht gekommen.«
Der Vater brach den Faden ab und sah vor sich hin.
Die Mutter kam sich schier gar schuldig vor, so, als habe sie den Befehl zum Abmarsch erteilt.
»Ich bin’s nicht wert, daß er damals gesund geblieben ist,« dachte sie ehrlich.
Der Daniel zupfte den Vater am Ärmel.
»Vater, das ist doch nicht vom Krieg gewesen,« sagte er.
»Jetzt kommt’s, jetzt mach weiter.«
Der Vater sah seine Lieben im Kreis herum an.
»Wenn’s Gott’s Will’ ist, daß ich gesund wieder heimkomm’ – oder halt überhaupt heimkomm’, und ’s sind vielleicht ein paar Jahr’ drüber hin, und ’s ist manches versurrt und über manches Gras gewachsen, dann will ich’s erzäh-len. Ich vergess’ es nicht, ihr brauchet keine Angst zu haben, es ist alles blutig tief hineingeschrieben.«
Da, als der Daniel sah, daß nichts mehr kam, lief er einem Falter nach, der schon eine Weile in der Nähe herumwirbelte. Das Lenele schlief neben der Mutter.
Den Schorschle nahm der Vater auf den Arm.
»Es ist doch gut, wenn man wieder einmal sieht, für was man ficht,« sagte er. »Da draußen will’s einem manchmal vergehen.«
Es war still um und um. Heißt das, wenn man das Grillengezirpe und das Heuschreckengeigen und das Mückensummen nicht rechnen will, das man erst in der Stille auf einmal zu hören beginnt. Und nicht das vielstrophige Lied der Drossel im nahen Hölzle.
Die Sonne kam auf ihrer weiten Sommertagsbahn nahe zur Erde her, so viel man von hier aus sah.
Da fing alles an zu flimmern und zu leuchten.
Er saß still und ließ lange Blicke um und um gehen.
»Seh’ ich dich wieder, Heimat, oder seh’ ich dich nicht mehr?
Das zweitemal ist das Gehen herber als das erste.
Nicht daß ich daheim bleiben möcht’, so lang draußen Krieg ist.
Gott verhüt’s. Um kein Geld und Gut und nicht um Kuß und Liebe von Weib und Kind blieb’ ich da.
Ich könnt’ keine Nacht schlafen in meinem Bett. Ich müßt’ immer hinaus-horchen, ob’s regnet oder stürmt, und ob’s kracht und donnert.
Ihr Brüder im Feld draußen, ich gehör’ zu euch mit Leib und Leben. Und zu euch daheim gehör’ ich auch.
Weiß Gott, es zerreißt mir das Herz. Ich kann nicht hier sein und dort zugle-ich.
Das ist der Krieg. Wenn Frieden ist, kann man an einem Platz sein ganz und gar.
Aber hier muß es bleiben, wie es ist. Deutsch muß es bleiben und friedlich. Das ist sicher. Daß man schaffen kann und seine Kinder aufziehen und daß das Land unser bleibt.«
»Hast etwas gesagt?« fragte das Weib.
»Es ist mir so gewesen.«
»Nein, ich hab’ nichts gesagt mit Wissen. Gedacht hab’ ich so manches. Man kann nicht alles sagen. Horch, Weib: es ist mir lieb, daß du fest hinstehst. Ich hab’s wohl gesehen, daß du’s tust. Es ist jetzt eine andere Zeit als sonst. Man muß die Zähn’ übereinander beißen und auf Gott vertrauen. Den Kopf hängen lassen darf man nicht. Es ist, wie wenn man zum zweitenmal auf der Welt wär’. Das, was vor dem Krieg gewesen ist, das ist das erstemal. Und jetzt ist’s wie eine andere Welt.«
Sie sagte nichts dazu.
Vielleicht gab sie sich Mühe, seine Anweisung auszuführen: die Zähn’ übereinander beißen und auf Gott vertrauen.
»Und horch, Weib: du hast die Hansenbäuerin gesehen. Das ist eine rechte Frau.
So wie die muß eins sein, wenn –«
»Sag nichts; ich weiß schon, was du meinst. Sag nichts. Man tut halt, was man kann. Der Pfarrer hat heut gesagt: Dein Wille geschehe, das heiße nicht immer hergeben, das heiße auch manchmal geschenkt kriegen.«
»Ja, ja, das ist auch wahr. So kann man’s auch ansehen. So wollen wir denn heimgehen. Es wird mondhell heut nacht. Um drei Uhr muß ich fort. Du gehst mir keinen Schritt zum Haus hinaus.
Man darf der Katz’ den Schwanz nicht stückweis abschneiden. Wir machen’s kurz. Die Kinder schlafen dann, bei denen bleibst.«
Gesang ertönte von weitem her, junge Stimmen von Burschen und Mädchen; der leichte Abendwind trug sie herzu, noch ehe man die Lustwandelnden erb-licken konnte.
Sie sangen das Lied vom schönsten Wiesengrunde, in dem der Heimat Haus steht. Das war, als hätte die Heimat selber eine Stimme bekommen und locke ihre Kinder zu sich her, damit sie ihr tief ins Auge und ins Herz sähen.
Das war für die unter dem Kirschbaum nicht von nöten.
Sie hätten mitsingen können, wenn es ihnen ums Singen gewesen wäre:
»Müßt’ aus dem Tal ich scheiden,
Wo alles Lust und Klang.
Das wär mein herbstes Leiden,
Mein letzter Gang.«
Aber sie horchten still, bis die Stimmen verhallten.
Dann wandelten sie miteinander heimzu.
Er trank noch einmal alles mit den Augen in sich hinein.
Sie tat desgleichen für ihn.
Gute Nacht, Hirzenbach.
Heimatwelt, gute Nacht.
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Der Mond war schon am Niedergehen.
Der Röhrenbrunnen plätscherte wie im Traum.
Ein erster Hahnenschrei. Ein Gaulsgewieher in einem Stall.
Ein kühler Morgenwind. Ein Lämpchen an einem Fenster und ein Weib da-hinter mit verweinten Augen. Feste, starke, hallende Tritte, die durch die Nacht hingehen und in ihr verschwinden.
Ein Mann, der sich das Liebste vom Herzen genommen hat und ausgeht, weil das Vaterland ruft. Zum zweitenmal.