Frau Lamondt hieß vor ihrer Verheiratung Helene van Hoeven. Sie war in Holland in der Stadt Utrecht geboren. Ihre Großmutter mütterlicherseits aber war eine echte Javanin gewesen, und auch bei Fräulein van Hoeven zeigten sich noch Spuren malayischer Abstammung. Ihre Hautfarbe hatte einen leichten Stich ins Gelbliche und der Oberkiefer war etwas stark entwickelt, was aber nur beim Lachen hervortrat. Im übrigen hatte sie ein angenehmes Gesicht, an dem aber durchaus nichts auffallendes war, ausgenommen etwa die grauen Augen mit ihrem festen, klaren Blick. Aber selbst diese fielen nicht jedem auf, sondern nur solchen, welche fähig waren zu sehen. Und ich bin fest überzeugt, daß die meisten Menschen Fräulein van Hoeven nicht zu denjenigen Personen rechneten, von denen sich erwarten ließ, daß sie später mal eine Lebensgeschichte haben würden.
Als Helene heiratete, war sie noch sehr jung, kaum 18 Jahr. Aber niemand dachte, daß das in diesem Falle viel schaden könnte. Denn sie heiratete jemanden, mit dem sie von Kindheit auf gespielt hatte und mit dem sie auch jetzt fast den ganzen Tag zusammen zubrachte: nämlich den jungen Lamondt. Daß sie sich heirateten, war von jeher selbstverständlich gewesen, also dachte man, käme es auf ein paar Jahre früher oder später nicht an.
Der junge Lamondt war ein seltner Mensch, ansehnlich, klug in seinem Geschäft, bescheiden und von einer ungewöhnlichen Gutherzigkeit.
Da die Familie viele Beziehungen nach Java hatte, so siedelten die beiden gleich nach ihrer Verheiratung nach Batavia über, um dort jenes äußerliche Glück zu suchen, welches die Ergänzung zu ihrem innerlichen Glück bilden sollte.
Ob freilich Frau Lamondt so ganz glücklich war, wie es junge Frauen stets sein sollten, das wußte sie wohl selber nicht. Sie war noch zu jung, und was das schlimmste war, ihr Mann war nur wenig älter wie sie. Sie wußten wohl beide nicht recht, was sie aneinander hatten. Zum vollen, dauernden Glück gehört aber das Bewußtsein vom Wert des Gegenstandes, dem wir unser Glück verdanken. So könnte es wohl sein, daß sie trotz aller gegenseitigen Liebe doch jenes einzige, wahre Glück der Liebe, jene vergeistigte Liebe nicht kennen gelernt hatten.
In Batavia bewohnten sie ein geräumiges Haus außerhalb der Stadt und hatten mehrere Diener, wie alle dortigen Europäer. Verkehr mit der Gesellschaft hatten sie wenig. Lamondt brachte fast den ganzen Tag in seinem Kontor in der Stadt zu, und so lebte die junge Frau in völliger Einsamkeit sich selbst überlassen.
Das wäre in Europa nicht so schlimm gewesen, weil hier die Arbeiten in der Häuslichkeit den Einfluß der Einsamkeit aufheben oder doch schwächen. In Indien aber fällt dieser Faktor fort. Die Dienerschaft macht hier alles, und die Hausfrau widmet den Tag der Hauptsache nach dem Nichtstun; denn das Bewegen des Schaukelstuhls kann man kaum eine Tätigkeit nennen.
Nun war es freilich der jungen Frau Lamondt nicht gegeben, in dieser, gerade in Holländisch-Indien so beliebten Weise ihre Tage zuzubringen. Sie begann nach Beschäftigung zu suchen, und da das Haus nichts bot, so stieß sie auf diejenige Beschäftigung, auf die sie auch in Europa, nur etwas später, gestoßen wäre, weil ihre Natur es forderte: die Beschäftigung mit sich selbst, das Nachdenken über sich selbst. Mit einem Wort: Sie begann zu philosophieren.
Es ist aber ein großer Unterschied, ob jemand mit 18 oder mit 25 oder gar mit 40 Jahren anfängt zu philosophieren. Die Anlage zur Nachdenklichkeit war Frau Lamondt angeboren. Diese Anlage wäre überall zum Durchbruch gekommen, aber in Europa wahrscheinlich erst auf Grund der Lebens-Erfahrungen, das heißt der Püffe und Enttäuschungen, die wir hienieden zu kosten bekommen. Jetzt, in Indien in dieser Einsamkeit wurde diese glücklich-unglückselige Anlage gleichsam künstlich, wie in einem Treibhause zur Reife gebracht. Es fehlte hier der reale Hintergrund, der den Resultaten ihres Philosophierens als natürlicher Maßstab dienen konnte.
Außerdem wollte es der Zufall, daß sie den Philosophien in die Hände fiel, die eine fortschreitende Hebung, Vervollkommnung des Menschengeschlechtes lehren und die Verpflichtung jedes Einzelnen, an dieser Hebung mitzuarbeiten.
Diese Theorie wirkt auf gewisse Gemüter wie der Weingeist auf das Gehirn. Auch Frau Lamondt wurde berauscht und in diesem schillernden Gespinst klangvoller Hypothesen und hochgeistiger Argumente gefangen genommen. Sie hatte irgendwo Beethovens stolze Worte gelesen: „Höheres gibt es nichts, als der Gottheit sich mehr als andere Menschen nähern und von hier aus die Strahlen der Gottheit unter das Menschengeschlecht verbreiten.“ Das tönte ihr im Ohr wie der Klang einer silbernen Glocke.
Eines Tags begann sie, ihrem Manne gegenüber diese Gedanken zu entwickeln. Der lachte sie gutmütig aus. „Laß Du die Welt nur, wie sie ist. Man beißt sich bei so was nur die Zähne aus, und es bleibt doch alles beim Alten.“
Sie erwiderte hitzig: „Wenn jeder so denken wollte wie Du, so würde die Welt wohl in einem kläglichen Zustand sein.“
„Das weiß ich nicht, Tutti. Mir gefällt sie so ganz gut wie sie ist, und für die Zeit, in der wir drauf sind, reicht’s schon aus.“
Er küßte die junge Frau herzlich. Es war Zeit, ins Kontor zu gehen. Im Hinausgehen rief er ihr scherzend zurück: „Ich will vor allem mal die Lamondt’sche Welt verbessern. Wie die große dabei fährt, das kümmert uns gar nichts. Hörst Du, Tutti, gar nichts!“ wiederholte er übermütig. Er warf ihr eine Kußhand zu und stieg in sein Wägelchen.
Frau Lamondt versuchte es noch öfter, ihren Mann für diese Fragen zu interessieren, aber stets mit dem gleichen Erfolg. So fing sie an, bei solchen Gelegenheiten sich ernsthaft über ihn zu ärgern. Sie übersah ganz oder wußte es wohl nicht, daß er tatsächlich seine Pflicht erfüllte und nach allen Seiten hin gutes tat, so weit es an seinem Platz nur möglich war. Sie übersah, daß auch das idealste Streben in keinem Fall mehr tun kann. Sie begann auf ihren Mann herab zu sehen seiner prosaischen Ansichten wegen.
Auch unter den wenigen, mit denen sie hier verkehrte, war niemand, der Verständnis für ihren Gedankengang gehabt hätte. Sie begann bei diesem und jenem zu fühlen. Denn erhabene Gedanken, die noch nicht zur Tat umgesetzt sind, drängen zur Mitteilung durch das Wort. Sie verlieren hierdurch zwar an Kraft, gewinnen aber an Verdaulichkeit. Was sie an Nähreinheiten einbüßen, wird aufgewogen durch die größere Assimilierbarkeit des Restes, eine Eigenheit, von der nicht nur der Beschenkte, sondern auch der Geber profitiert.
Aber überall fand Frau Lamondt Abweisung. Als sie endlich einsah, daß es besser sei, gar nicht über solche Dinge zu sprechen oder doch nur notgedrungen, war sie bereits der Gesellschaft ein wenig zum Gespött geworden. Sie merkte es und zog sich von da an nur noch mehr in sich zurück und in ihre Phantasie-Welt, die dadurch immer mehr Macht über sie gewann.
Lamondt selber war zu harmlos, als daß er dieser Geistesrichtung seiner Frau irgend welche Bedeutung beigemessen hätte. Der Gedanke, daß eine Entfremdung zwischen ihnen eintreten könne, wäre ihm etwas unfaßbares gewesen. Seinem Gefühl nach gehörten sie beide zusammen von jeher und für immer.
Nach zweijähriger Ehe beschenkte Frau Lamondt ihren Mann mit einem Töchterchen. Lamondt’s Glück war grenzenlos. Dieses Ereignis brachte eine tiefe Änderung in den Verhältnissen zustande. Beide liebten ihr Kind abgöttisch und sich gegenseitig in dem Kinde mit jener stillen, sanften Liebe, die dem gleichmäßig-milden Licht der Planeten zu vergleichen ist, während jene erste Liebe dem scharfen Funkeln der Fixsterne gleicht.
Die nachfolgenden Jahre waren die sonnigsten im Leben der Frau Lamondt. Denn ein nachdenklicher Mensch hat nicht viel Sonne, weil er fast ständig unter der Wolke seines eigenen Denkens wandelt. Ihre hochragenden philosophischen Ideen hatten sich gewissermaßen auf das Kind niedergeschlagen und dort Form angenommen. All ihr Können, all ihr Wissen, all ihre Sorgfalt wollte sie auf das Kind konzentrieren und dasselbe in geistiger wie leiblicher Beziehung zur denkbar höchsten Entwickelung bringen. Manchmal verirrten sich ihre Gedanken so weit in die Zukunft, daß sie sich mit ihrer Tochter vereint wirken sah zum Besten der Menschheit, zu ihrer Veredelung, Hebung.
So mochten vier Jahre vergangen sein, da bekam Herr Lamondt eines Tags Besuch von einem Freunde aus Holland. Es war ein Herr Savade, ein Marine-Offizier, dessen Schiff für einen Tag Batavia anlief.
Er suchte Lamondt in seinem Kontor in der Stadt auf. Der freute sich kindisch. Aber nachdem er ihn umarmt und geküßt und das nötigste gefragt hatte, sagte er:
„Weißt Du, heute ist Posttag. Dieses hier (er zeigte auf einen Stoß Briefe) muß fort. So kann ich hier nichts mit Dir anfangen. Geh’ zu meiner Frau raus und vertreib der die Zeit. Sie wird sich freuen. Und ein Mädel haben wir auch.“ Sein Auge glänzte. „Nun, ich sage nichts weiter. Du wirft ja sehen.“
Savade lächelte. Lamondt umarmte ihn noch einmal. „So bald ich irgend kann, komm’ ich auch: In einer Stunde ist Postschluß“ rief er dem Davonfahrenden nach.
Savade kannte Frau Lamondt nicht. Er hatte Lamondt während dessen Lehrjahren in Rotterdam kennen gelernt. Lamondt hatte aber viel von seiner Zukünftigen gesprochen und ihm ihr Bild gezeigt; denn sie waren wahre Freunde geworden, trotzdem Savade wohl an zehn Jahre älter war als Lamondt.
In der Villa Lamondt’s angekommen, mußte Savade einige Zeit im Empfangszimmer warten. Es war noch etwas früh am Vormittag. Aus langer Weile musterte er die kleine Bibliothek, die in einem Schränkchen in der Ecke stand. Zu seinem Erstaunen fand er hier eine Reihe philosophischer Bücher. „Potz tausend“, dachte er, „hat sich Lamondt in Java das Philosophieren angewöhnt! Er hatte doch in Rotterdam, weiß Gott! keine philosophische Ader.“ Er lachte leise. „Oder sollte vielleicht die Frau — das wäre ja ganz etwas seltenes.“ Erwartungsvoll blickte er nach der Tür, in der Frau Lamondt vermutlich erscheinen mußte.
Gerade in diesem Moment trat sie ein. Sie trug ein langes, faltiges Musselin-Kleid von weißer Farbe, das mit einem gelben Seidengürtel zusammen gehalten wurde. Die Füße waren einheimischer Sitte gemäß mit Sandalen bekleidet. Der javanische Sarong, den viele holländische Damen bis zum Mittag tragen, sagte ihrem Geschmack nicht zu.
Frau Lamondt kannte Savade ebenso, wie er sie kannte, das heißt aus den Erzählungen Lamondts.
Als die gegenseitige Begrüßung vorüber war, begann Savade direkt:
„Ich sehe mit Erstaunen diese Kollektion philosophischer Autoren —“.
Er hielt erwartungsvoll einen Augenblick inne.
„Es sind meine Bücher.“
„O!“
Er konnte das Erstaunen nicht ganz verbergen. Sie sah noch so kindlich aus.
„So schwere Lektüre“, meinte er.
Sie glaubt ein wenig Spott aus diesen Worten zu hören. Etwas abweisend erwiderte sie:
„Der Mensch ist nicht dazu da, um sich das Leben möglichst leicht zu machen.“
Er sah sie aufmerksam an. Einlenkend begann er wieder:
„Verstehen Sie mich nicht falsch, gnädige Frau. Ich verehre die Philosophie als das Höchste auf der Welt und schätze jeden hoch, der sie hochschätzt.“
Freudig blickte sie zu ihm auf. „Wirklich, lieben Sie die Philosophie?“
„Ich liebe sie, so lange ich denken kann. Ich könnte nicht leben ohne Philosophie. Philosophie repräsentiert mir den menschlichen Verstand in seiner edelsten, reinsten und dabei naturgemäßesten Form, naturgemäß, weil es Funktion des Verstandes ist, von außen nach innen, das heißt auf sich selbst zu, in sich selbst hinein zu gehen. Und das nennt man eben Philosophieren.“
„O, wie selten man diese Liebe findet!“
„Ja, wirklich, wie selten! Ich habe mit Lamondt oft darüber disputiert, aber er wollte nie etwas von Philosophie wissen.“
Die junge Frau seufzte etwas.
„Aber,“ fuhr Savade heiter fort, „vielleicht ist Philosophie für einen Ehemann just nicht so notwendig. Ich dächte, wirklich zur Leibes Nahrung und Notdurft gehört sie nur bei solchen, die entschlossen sind, allein durch’s Leben zu gehen. Ihnen muß sie jene Stütze ersetzen, die in der Ehe einer dem andern liefert. Sie muß der Einsamkeit ihren Stachel nehmen und muß lehren, den Gedanken an einsames Sterben nicht zu fürchten.“
„Meinen Sie nicht, daß sie noch höhere Zwecke zu erfüllen hat?“
„O, das ist nur die uns zugewandte, beschränkte Seite. Aber da ist noch jene andere, uns abgewandte, auf die ganze Menschheit zugewandte Seite.“
Er brach ab und trat wieder zu dem Bücherschränkchen. Er nahm einzelne Bände heraus und betrachtete sie fast zärtlich.
„Kant, Fichte, Schelling. Gerade meine Lieblinge. Und hier sogar der göttliche Plato.“
„Haben Sie den auch gelesen?“ fragte Frau Lamondt eifrig.
„Ich habe die Morgenstunden eines ganzen Jahres auf diese Lektüre verwandt. Es war eine erhebende Zeit.“
„Segelten Sie auch auf der hohen See des Schönen?“
Er nickte ihr freundlich, fast vertraulich zu, ohne zu antworten. Diese Stelle aus dem „Gastmahl“ hatte ihm auch stets besonders gefallen.
„Ich sehe mit Vergnügen, daß der Pessimismus hier nicht vertreten ist.“
„Nein,“ antwortete sie schnell, „der Pessimismus hat hier keinen Platz. Ich glaube an die Menschheit und an ihre Ideale als an mein Evangelium. Ich kenne kein höheres Evangelium.“
„Ja, was wäre das Leben ohne diese höchsten Ziele, ohne diese Ideale. Sie sind das menschlichem Verstand faßbar gewordene Göttliche in uns, wenn wir die Höhe dieser Ideale fühlen.“
Ein merkwürdiges Leben begann in den Augen der Frau ihm gegenüber aufzuleuchten. Er sah es und dachte: „Sie ist der Philosophie wahrhaft ergeben. Wie selten!“ Er wußte, daß die meisten, Männer wie Frauen, mit der Philosophie nur kokettieren.
In dem trat Lamondt ein.
Er war nie schlechter Laune, aber heute war er offenbar besonders heiter. Er drückte dem Freunde noch mal die Hand. „Willkommen in meinem neuen Heim,“ sagte er treuherzig. „Wenn Du wüßtest, wie viel Glück unter diesem Dach wohnt.“ Es schien ihn etwas wie Rührung übermannen zu wollen und schnell in einen burschikosen Ton überschnellend rief er aus:
„Savade, alter Junggeselle! Warum heiratest Du nicht!“ Damit trat er auf sein Weib zu und küßte sie. Plötzlich sah er sie genauer an!
„Na nu, Tutti, Du hast ja heute mal ordentlich Farbe. Woher kommt denn das?“
Wie geärgert wandte sie sich etwas zur Seite.
Savade antwortete statt ihrer: „Wir haben uns über Philosophie unterhalten, etwas lebhaft.“
Lamondt lachte lustig. „O, nun wird mir alles klar! Also immer noch das alte Steckenpferd.“
„Lamondt,“ fiel Savade mit künstlicher Ernsthaftigkeit ein, „versündige Dich nicht an der heiligen Philosophie.“
„O, ich weiß! Du gehörst ja auch mit zur Gilde. Nun, schon gut, alter Freund. Im übrigen sehe ich, ist das Essen fertig. Aber,“ unterbrach er sich schnell, „hast Du denn schon unser Mädchen gesehen?“
Savade verneinte.
Lamondt sah lachend seine Frau an: „Vor Philosophieren keine Zeit gehabt.“
Er klatschte in die Hände, und nach einem Weilchen trat die Wärterin ein, das Kind an der Hand führend. Lamondt nahm die Kleine in die Arme und herzte sie, als ob er einen langen Durst stillen müßte. Jubelnd schwenkte er sie hin und her und hielt sie dem Gast dicht vor’s Gesicht. „Da, sieh’ mal Du! Ist das noch nichts?!“
Savade versuchte zu schäkern, aber das Kind wandte sich ab. „Sie ist etwas scheu“ sagte Frau Lamondt entschuldigend.
Nachdem man sich zu Tisch gesetzt hatte, begann Lamondt:
„Wundere Dich nicht über unseren einfachen Tisch. Es geschieht auf Wunsch meiner Frau. Und ich füge mich, wie immer.“ Er klopfte ihr kosend auf die Hand, „Du mußt wissen, sie hieß schon als Mädchen unter ihren Gespielinnen der spartanische Jüngling.“
„Ich freue mich schon auf die schwarze Suppe,“ rief Savade lustig.
„Nun, so schlimm kommt es nicht. Aber Du wirst ja sehen.“
„Was können Sie zu Ihrer Verteidigung vorbringen, gnädige Frau?“
Frau Lamondt erwiderte lächelnd:
„Zweierlei kann ich vorbringen. Erstens liebe ich diese holländische Manier nicht, bei einer Mahlzeit, die man mit dem harmlosen Wort ‚Reistafel‘ bezeichnet, Eier-, Fleisch- und Fisch-Speisen schwersten Kalibers auf einander zu häufen, so daß man schließlich nicht mehr von ‚Reistafel‘, sondern nur noch von ‚Fleischtafel‘ reden kann. Zweitens halte ich Essen für ein notwendiges Übel, für eine Last. Und welcher verständige Mensch sucht nicht das Vergnügen. Ich denke aber, am leichtesten ist das Vergnügen zu vermehren durch Verminderung unser Lasten und Unannehmlichkeiten.“
„Sie wären der Freundschaft Epikurs wert, gnädige Frau.“
„Und Sie, mein Herr, fürchte ich, wären ihrer nicht wert, weil Sie schmeicheln.“
„Nicht doch, gnädige Frau! Was schmeichelhaft ist, muß nicht immer Schmeichelei sein. Ihre Worte enthalten tatsächlich die Quintessenz der epikuräischen Philosophie. Dieser seltene Mann machte es sich zur Lebensaufgabe, der Lust nachzustreben, aber dadurch, daß er sich von der Last aller unnötigen Bedürfnisse befreite. Der Lust wegen lebte er von Brot und Wasser. Und wenn er etwas Käse dazu tat, so nannte er das „Ein sich gütlich tun.“ Aber das war jene Lust, die mit der unsrigen nur im Namen zusammenfällt.“
„Um Gottes willen, Savade, sei still!“ fiel Lamondt mit komischem Entsetzen ein. „Wenn ich von jetzt ab Brot und Wasser bekomme und nur an Sonn- und Feiertagen etwas Käse dazu, so weißt Du, wer schuld ist.“
Alle lachten.
„Wie schmeckt Dir das?“ fragte Lamondt, auf die gebratenen Eierpflanzen zeigend, die so appetitlich aussahen und so prächtig dufteten.
„Vorzüglich! Es könnte den Appetit auf Fleisch benehmen.“
„Nicht wahr!“ fiel Frau Lamondt eifrig ein. „Das ist gerade das, was ich immer sage, und Lamondt glaubt es nicht.“
„Liebste Tutti, was habe ich davon, wenn es riecht wie Fleisch, aber kein Fleisch ist. Hast Du schon je von einem gehört, der sich vom Bratenduft genährt hat? Aber Du brauchst nicht zu denken, Freund, daß ich mich über unsere Küche beklage. Sie ist tatsächlich bekömmlich, und wir finden jederzeit Leute, die fähig sind, ihr vorzustehen.“
Nach den Eierpflanzen kam der Reis, locker und weiß, in hochgehäufter Schüssel. Dazu der Brotfrucht-Kurry. Den Nachtisch machten die Früchte: Bananen, Mangos und Mangustinen, jene köstlichste Tropenfrucht, die das Auge und den Gaumen in gleicher Weise entzückt.
„Das schmeckt wie parfümierter Schnee“, meinte Savade, während er sorgsam die schneeweiße Frucht aus ihrer purpurnen Schale nahm.
„Ja, es ist eine herrliche Frucht. Und doch geht mir ein ganz feiner Mango über die Mangostine.“
„Java ist ein gesegnetes Land,“ fiel Frau Lamondt ein. „Es ist das Paradies der Vegetarier. Es ist so leicht hier, naturgemäß zu leben.“
„Ja, für einen, der kein Kaffee-Geschäft hat,“ meinte Lamondt und begann von seinen Sorgen und Lasten zu erzählen.
Nach beendeter Reistafel empfahl sich Savade, um am Abend zum Diner wieder zu erscheinen. Am nächsten Morgen früh lief sein Schiff weiter nach Samarang, Surabaya und dann in die Molukken-See. Batavia wurde nicht wieder angelaufen. So galt es, die kurze Zeit des Beisammenseins auszunutzen.
Er fuhr mit der Bahn zurück zum Tandjong Priok, um auf seinem Schiff Toilette für den Abend zu machen. Nach Batavia zurückgekehrt hielt er nach einer Gärtnerei Umschau, um den üblichen Blumenstrauß für die Dame des Hauses zu erwerben. Das war aber in Batavia leichter gesagt als getan, weil hier jeder seinen Privat-Garten besitzt. Endlich wies man ihn in die Chinesenstadt. Sein Riksha-Kuli wußte hier Bescheid. Er setzte ihn in einer Straße ab, in der einige Chinesen-Weiber dürftige Sträußchen feil hielten. Für ein Paar Cent erstand er eines, froh überhaupt etwas bekommen zu haben.
Als er gerade mit dem Handel beschäftigt war, bat ihn ein grauhaariger Chinese, ein Krüppel, um eine Gabe, indem er sich schweigend in ehrfurchtsvoller Weise verneigte. Savade aber sah über ihn hinweg, nur in seinen Kauf interessiert. Es war sonst nicht seine Art, einen Bettler vergeblich bitten zu lassen. Erst als er schon wieder ein Weilchen in seiner Riksha saß, kam ihm plötzlich dieser bescheidene Alte wieder vor Augen. Er erschrak innerlich. „So habe ich für diesen stillen Bettler nicht eine Kupfermünze übrig gehabt“ sagte er mißbilligend zu sich selber. Er behielt ein unbehagliches Gefühl, bis er an Lamondt’s Villa anlangte.
Nach dem Diner, als sie draußen in den bequemen indischen Langstühlen saßen, kam das Gespräch wie von selber wieder auf die Philosophie. Denn Philosophie, entgegen anderen Wissenschaften, faßt den ganzen Menschen, und jede Regung ist bei einem solchen nichts als eine Anregung zum Philosophieren. Wahre Philosophie ist wie die Natur. Sie erlaubt von jedem Punkt aus den Eintritt.
So standen Frau Lamondt und ihr Gast bald mitten in diesem Thema, ohne zu wissen, wie sie hineingeraten waren. Man merkte, diese beiden waren sich gegenseitig wie Stahl und Feuerstein. Einer schlug Funken aus dem andern.
Der jungen Frau war, als ob eine geistige Spannkraft, die seit Jahren in ihr angehäuft lag, sich nun wie in Blitzschlägen entlüde. Sie hatte vielleicht nie im Leben ein Gefühl so völliger Befriedigung gehabt. Sie hatte die Empfindung einer wunderbaren Erhabenheit, von der sie nicht wußte, ob sie in ihr ruhte, oder als etwas von außen kommendes sie umwehte. Sie erschrak förmlich, als Savade sagte: „Es ist aber schon so spät. Wir müssen abbrechen.“
Lamondt, der inzwischen verschiedene Zigarren geraucht und sich meist schweigend verhalten hatte, meinte:
„Ich glaube auch, es ist Zeit, daß Ihr in dieser Tonart aufhört. Im übrigen ist es schändlich, daß Du nicht mal eine Nacht in meinem Hause bleiben kannst.“
„Es geht nicht, Lamondt. Unser Schiff dampft um 4 Uhr früh ab. Wie soll ich da zum Hafen hinunter kommen.“
Es wurde abgemacht, daß Savade einen Punkt, der wegen der vorgerückten Stunde nicht mehr erörtert werden konnte, in einem Brief an Frau Lamondt auseinandersetzen sollte.
Lamondt meinte: „Daran tust Du recht, daß Du meiner Frau schreiben willst. Sie lebt so wie so zu einsam und kann mit der Gesellschaft hier nicht recht fertig werden.“
„Das glaube ich“ antwortete Savade.
Frau Lamondt hörte den eigenen Nachdruck, der auf den Worten lag. Sie errötete vor Freude und Stolz. „Er versteht mich“ dachte sie. „Endlich einer.“
Man verabschiedete sich mit vieler Herzlichkeit, und Savade schritt schnell dem Garten-Ausgang zu, welcher auf der der Veranda gegenüber liegenden Seite des Hauses sich befand.
Er war kaum ein Weilchen fort, als er plötzlich vor der Veranda wieder auftauchte. Lebhaft rief er hinauf:
„Ich habe ja ganz vergessen, Euch zu sagen, daß Ihr, wenn Ihr nach Europa fahrt, ja nicht vergeßt, mich in meinem Winkel zu besuchen.“
Auf der ganzen Nachhause-Fahrt hatte er ein eigenartiges Bild vor Augen. In dem Moment, als er vor die Veranda getreten war, hatten beide Lamondt’s schweigend dagesessen, die Frau mit ihren Fingern das Glas umspannend, in dem seine simplen Blumen standen. Dabei hatte sie das Gesicht etwas tief darüber gebeugt gehalten, gleichsam, als ob sie daran röche.
Frau Lamondt war sehr ungeduldig auf den versprochenen Brief von Savade. Sie sagte ihrem Manne aber nichts davon. Er schien sowohl den versprochenen Brief als auch den Besuch selber vergessen zu haben.
Endlich, nach etwa zwei Monaten kam ein Brief aus Surinam datiert.
Es war Frau Lamondt, als ob sie einen volleren Genuß von der Lektüre haben würde, wenn sie vorher ihrem Manne mitgeteilt hätte, daß sie einen Brief von Savade erhalten habe. So ging sie hinaus in den Garten, wo Lamondt gerade mit seinem Töchterchen Blindekuh spielte. Er hatte die Augen mit dem Taschentuch verbunden und tappte auf dem Rasen umher.
„Du bist gewiß wieder vom Rasenplatz runtergegangen, Dora, ich finde Dich ja nirgends.“
Er hörte ein leises Sprechen und stürzte darauf los. Beim Zufassen erwischte er einen Kleiderzipfel. „Endlich!“ rief er aus.
„Das ist ja Mama!“ rief die Kleine hinter ihm und lachte ausgelassen.
„Ja, laß nur los. Ich bin’s,“ sagte Frau Lamondt. „Ich wollte Dir gerade sagen, daß ich einen Brief von Savade bekommen habe, aber Du bist ja zu beschäftigt.“
„Du! von Savade?“ sagte Lamondt verwundert. „Was will er denn von Dir?“
„Mein Gott, wie vergeßlich Du bist. Weißt Du denn nicht mehr, daß er versprochen hatte, mir zu schreiben?“
„Ach ja, über eure Sachen. Entschuldige, Tutti, das hatte ich total vergessen.“
Er hatte noch das Tuch vor Augen und sah in diesem Moment nicht gerade sehr bedeutend aus, der gute Lamondt. Aber seiner Frau fiel das nicht auf. Es war ihr recht, daß sie ihm nicht in die Augen zu sehen brauchte.
„Papa, Du suchst ja gar nicht“ rief jetzt die Kleine mahnend.
„Ich komme schon, mein Kind.“
Etwas hastig ging er einige Schritte vorwärts und stolperte dabei gegen einen Baum. Die Kleine kreischte vor Vergnügen.
„Nicht so wild, Dora!“ mahnte die Mutter und verschwand dann wieder im Haus. Hier setzte sie sich in einen bequemen Stuhl und begann zu lesen.
Savade hatte versprochen, ihr über den Gottbegriff des Spinoza zu schreiben. Spinoza war ihr bisher fremd geblieben. Aber die kahle Erhabenheit dieser Gedanken regte sie jetzt mächtig an. Savade hatte einen klaren, geistreichen Stil, und sie glaubte alles mit einem Schlag zu verstehen. Nichtsdestoweniger las sie den Brief mehrere Mal.
Noch am selben Tage bestellte sie bei dem Buchhändler das Original.
Beim Abendessen begann Lamondt plötzlich:
„Eh’ ich’s wieder vergesse — was schreibt denn eigentlich Savade?“
„Nur über philosophische Sachen.“
Lamondt lächelte. „Einen ganzen Brief voll Philosophie.“
„Er schreibt über Spinoza.“
„Spinoza — Spinoza — war das nicht der, der mit Vorliebe den Fliegen die Beine ausriß?“
„Was redest Du da! Man erzählt, daß er, wenn er sein geistiges Tagewerk vollendet, zu seiner Erheiterung Fliegen in Spinngewebe warf und dem Kampf der Fliege mit der Spinne zusah.“
„Also jedenfalls Tierquälerei. Ich würde gegen solche Leute immer etwas voreingenommen sein.“
„Solche Geister darf man nicht mit dem vulgären Maßstab messen. Spinoza hat einen der erhabensten, reinsten Gottbegriffe geschaffen.“
„Was hat er gemacht?“ fragte Lamondt voll ungeheuchelten Staunens. „Ich denke, der liebe Gott ist ein einiger, mit dem wir weiter nichts machen können als einfältig an ihn glauben. Wie kann ein Mensch einen Gottbegriff schaffen? Eben so gut könnte er ja auch eine neue Welt schaffen.“
„Was Du da sagst, paßt für die Gläubigen im kirchlichen Sinn. Die philosophisch Denkenden schaffen sich selber ihren Gottbegriff, in dem sie Genüge und Ruhe finden.“
„Woher wissen sie denn aber, daß das, was sie da in ihrem Gehirn zurecht gebraut haben, das richtige ist?“
„Woher weißt Du, daß der Gott, an den Du glaubst, der richtige ist?“
Lamondt sah seine Frau einen Augenblick ratlos an, dann sagte er fast trotzig:
„Ich will ja gar nichts wissen. Ich glaube eben an ihn.“
„So gehörst Du zu den Glücklichen, die glauben können. Aber bedenke die unzähligen Unglücklichen, die nicht glauben können und doch zu innerer Ruhe kommen wollen. Bedenke ihr Suchen, ihre Kämpfe.“
Lamondt warf einen fast scheuen Blick auf sein Weib. Sie kam ihm so fremd vor. Ihm wurde unbehaglich. Er versuchte umzuschwenken. Mit etwas erzwungener Lustigkeit sagte er:
„Also Du bist auch dabei, Dir selber Deinen Gottbegriff zu machen. Tutti, Tutti, wenns man glückt.“
„Das habe ich nicht gesagt. Im übrigen ist der Gegenstand schlecht geeignet zum Scherzen,“ erwiderte sie kühl.
„Du hast recht, sehr schlecht geeignet.“ Seine Stimme klang so bestimmt, daß jetzt die Reihe des Sichverwunderns an Frau Lamondt war.
Die Sache war damit eigentlich erledigt, aber sie mußte noch etwas vorbringen, was sie durchaus heute noch vom Herzen haben wollte. Es entstand eine Pause. Sie fühlte, ihr Vorhaben würde um so schwerer auszuführen sein, je länger sie die Pause werden ließe. So faßte sie sich ein Herz und sprang in die gähnende Lücke.
„Ich wollte Dir noch sagen,“ begann sie, und ihre Stimme klang infolge der innerlichen Anstrengung etwas gereizt, „daß ich Savades Brief natürlich beantworten muß. Er wird wahrscheinlich darauf wieder antworten. Dadurch könnte ein Briefwechsel zustande kommen. Hättest Du etwas dagegen einzuwenden?“
Lamondt sah sie wieder ganz erstaunt an. Dann begann er lustig zu lachen.
„Heute Abend,“ rief er, „verstehe ich Dich aber auch gar nicht. Was soll ich dagegen haben, wenn Du mit Freund Savade im Briefwechsel stehst. Habe ich überhaupt jemals etwas gegen das einzuwenden gehabt, was Du vorhattest?“ Er umfaßte sie liebkosend und streichelte ihr die Backen. „Ich bin ja von jeher Dein gehorsamer Haussklave gewesen.“
Sie konnte nicht anders als ihn anlächeln. In der Tat, ein Widerspruch ihres Mannes wäre etwas völlig unerhörtes gewesen. Sie ärgerte sich jetzt über sich selber, daß sie diese offizielle Anfrage gestellt hatte. Es kam ihr ganz lächerlich vor. Wie unnötig wichtig hatte sie diese ganze Sache dadurch gemacht.
Lamondt fuhr fort: „Werde nur nicht zu gelehrt, Tutti. Ich will ja gar keine gelehrte Frau. Im übrigen ist er der beste Kerl von der ganzen Welt. Ich kenne keinen besseren. Vergiß nur nie, ihn zu grüßen, wenn Du an ihn schreibst.“
Um etwas zu erwidern, sagte Frau Lamondt: „Sein Brief ist aus Surinam datiert.“
„O weh! Das ist ein böses Nest; etwa so wie Batavia vor 50 Jahren. Daß er sich da nur kein Fieber holt. Schreib’ ihm nur, wenn es mal irgend wie hapert, so ist ein Gläschen Genèvre immer das beste.“ Auf das Zigarren-Schränkchen zuschreitend und sich eine Zigarre anzündend fuhr er fort:
„Die Hauptsache ist nur, daß es beizeiten genommen wird.“ Und nachdem er es sich im Langstuhl bequem gemacht und einige Dampfwolken mit Aufmerksamkeit von sich geblasen hatte, begann er eine Geschichte zu erzählen von einem Bekannten, welchem nach seiner und aller anderen Ansicht ein Gläschen Genèvre zur rechten Zeit genommen das Leben gerettet hatte.
Zwischen Savade und Frau Lamondt entwickelte sich ein nicht häufiger aber sehr regelmäßiger Briefwechsel. Der Gegenstand desselben waren nur philosophische Themata. Alle Bemerkungen über persönliche Verhältnisse wurden beiderseits so völlig vermieden, daß der Unbefangene fast etwas Absichtliches darin hätte finden können.
In Frau Lamondts Briefen trat immer ein und dasselbe Thema zutage: Die Hingabe an die Menschheit und an ihre Ideale, das Arbeiten an der Hebung der Menschheit zu immer stolzerer, sonnenhafterer Höhe. Das erschien ihr als die einzige aller Aufgaben dieser Welt, bei der schon im Streben allein der Erfolg liegt, Erfolg mit all seiner beglückenden Macht.
Sie liebkoste dieses Thema und ging dabei mit einem ihr selber vielleicht unbewußten Raffinement zu Werke. Um Überdruß zu vermeiden, ließ sie es bald in schweren gesammelten Baßschlägen auftreten, bald in eleganten Diskant-Figuren, die in graziöser Weise sich auflösten und wieder zur Form vereinigten. Eine solche Meisterin war sie in Darstellung ihres Gedankens, daß Savade immer wieder erstaunte, wenn er ihre scheinbaren Abschweifungen plötzlich wie durch einen Coup zum Thema verdichtet vor sich stehen sah. Er selber gehörte zu jenen glücklichen Naturen, die instinktiv das Maßhalten, das Wandeln auf der richtigen Mitte als das der menschlichen Natur notwendigste erkennen. Er stimmte in seinen Ansichten mit denen Frau Lamondt’s überein. Ihre Ideale waren auch die seinigen. Aber er fühlte das Zuviel auf Frau Lamondt’s Seite und versuchte unwillkürlich dieses Plus auf ihrer Seite durch ein entsprechendes Minus auf seiner Seite auszugleichen.
Bald derber, bald zarter deutete er an, daß trotz aller idealen Pflichten, die uns an die Menschheit ketten, doch unsere erste und Hauptpflicht die ist, für unsere eigene Besserung, für unser eigenes Heil, für unsere eigene Ruhe zu sorgen. Leise gab er ihr zu bedenken, ob dieses Vergafftsein in die Menschheits-Ideale nicht oft ein Vergafftsein in sich selber sein könnte, nichts als eine Form der Eigenliebe in besonders bauschiger und eleganter Enveloppe, eine Eigenliebe in Balltoilette. „Wenn einer,“ schrieb er, „der selber schmutzig ist, einen anderen schmücken will, so wird er bösen Erfolg haben. Wer das will, der muß im Groben, Gemeinen bleiben, wie die Scheuerfrauen, für die es nichts ausmacht, wenn sie ihre Arbeit in schmutzigem Habit verrichten. Aber sie gehören auch nur in die Küche und auf die Treppen. Der Anständige, der in sein bestes Zimmer treten will, legt vorher schmutzige Stiefel und Kleider ab; andernfalls macht er sein Staatszimmer zum Vorraum. Ich glaube nicht, daß es eine herrlichere Behausung gibt als jenen Tempel, den die großen Geister aller Zeiten errichtet haben. Sollten wir nicht rein sein bis ins Innerste, ehe wir in diesen Tempel einzutreten wagen, um ihn zu schmücken und auszubauen?“
Als Frau Lamondt in einem ihrer Briefe über die Schwierigkeit und Hoffnungslosigkeit der Arbeit am eigenen „Ich“ klagte, antwortete er folgendes:
„Freilich ist das eigene ‚Ich‘ jenes wunderliche Ding, mit dem sich abzugeben der eine überhaupt nicht für der Mühe wert hält, und mit dem der andere nie fertig wird. Von dem ersteren sagen wir mit Dante: Guarda e passa! ‚Schau und geh’ vorüber überall!‘ Für den letzteren kommt alles auf die Art des Vorgehens an. Wer das ‚Ich‘ täppisch greifen will, dem entgleitet es wie einem, der Wasser in der hohlen Hand zusammenpressen will. Das ‚Ich‘ kann nicht begriffen werden, es kann nur angeschaut werden. Aber auch das Schauen muß verstanden werden.“
Und weiter hieß es: „Es ist freilich wahr, das ‚Ich‘ ist das Rätsel aller Rätsel, das Wunder aller Wunder, und hier einen Zweifel lösen, heißt hier nur, ihn in zwei neue zerspalten. Aber was sollen wir hieraus für Lehren ziehen? — Erstens, daß wir keinen Augenblick säumen dürfen und uns vor allem an die Beschäftigung mit diesem Ich machen müssen, eben wegen der Schwierigkeit der Sache einerseits und ihrer einzigen Wichtigkeit anderseits. Wir dürfen hier nie sagen: ‚Was hat diese Arbeit für Zweck? Das mühsam Errungene wird in neuen Zweifeln verloren gehen.‘ Hier ist ja auch der Verlust Fortschritt. Wird jemand sagen: ‚Was hat es für Zweck, mich jetzt zu sättigen? Zum Abend werde ich doch hungrig sein.‘ Das Hungrig-Werden ist ja hier Fortschritt, ist Gelingen. Diese Einsicht sollte uns hindern, uns zu früh über unser eigenes ‚Ich‘ hinwegsehen zu lassen auf das ‚Ich‘ des Nebenmenschen hin. Wir wollen auch nicht vergessen, daß wir, um zu anderen zu kommen, die Straße passieren müssen, und daß es wohl sein könnte, daß wir bestaubt und beschmutzt von unseren Liebeswerken zu uns selbst zurückkehren.“
„Zweitens aber sollen wir daraus die Lehre ziehen, uns nicht so tief in unserem eigenen Ich zu verlieren, daß wir garnichts anderes mehr neben diesem ‚Ich‘ sehen, oder daß es uns schließlich gar den Verstand verwirrt. Wenn irgend wo, so heißt es hier, der gefühlten Unendlichkeit gegenüber: Maßhalten. Wir wollen uns doch gewöhnen, die Tatsache des Ewigen, des Göttlichen, Unfaßbaren in uns mit Maß zu tragen, wie es eben eines so kostbaren Inhaltes würdig ist. Wir wollen doch endlich aufhören, in törichter und ] barbarischer Weise zu versuchen, dieses Ewige, Göttliche, Unfaßbare in uns ans Tageslicht zu zerren, wie einer, der seine eigenen Eingeweide herauszerren will. Er mordet nur sich selbst.“
„So wollen wir es dem Lebens-Rätsel, dem Ich-Rätsel gegenüber machen, nicht wie der Schüler, der, an der Bewältigung seiner Aufgabe verzweifelnd, das Buch in die Ecke wirft, sondern wir wollen es machen wie der Verständige, der das seinen Kräften entsprechende Teil gelesen hat und nun ruhig das Buch schließt und sich sagt: ‚Es ist genug für heute.‘ Denn das ist auch ein Ende, zu wissen, daß man nicht am Ende ist und doch gefaßt und zufrieden bleiben. Und ich fürchte sogar, dieses ist das letzte Ende, das uns beschieden ist.“ So spricht der Verständige, Denkende, solange er nicht vom Buddha belehrt worden ist oder sich von ihm hat belehren lassen.
Aber dieses Gegenarbeiten Savades gegen Frau Lamondts Überschwenglichkeit war für beide nur wie jene künstlichen Dissonanzen, die nur dazu da sind, die Schönheit der Harmonie um so süßer zu machen und um so stärker hervortreten zu lassen. Beiden war ihr Briefwechsel ein unbeschreiblicher und erhabener Genuß geworden. Denn kein Genuß dieser Welt gleicht der Wonne, die wir empfinden, wenn die Gedanken unseres Herzens in einem anderen Herzen wiederklingen. Das ist der höchste Genuß, denn es ist der reinste. Das ist der reinste Genuß, denn er verlangt keine Berührung.
Ob in den nächsten Jahren sich allmähliche Änderungen im Denken der jungen Frau vollzogen — ob das, wovon jetzt gesprochen werden soll, das Resultat eines plötzlichen Entschlusses war — ob Savades Briefe irgend einen (natürlich unbeabsichtigten) Einfluß auf diesen Entschluß hatten, wird sich mit Bestimmtheit wohl nie feststellen lassen. Tatsache ist, daß Frau Lamondt eines Morgens, etwa drei Jahre nach der oben geschilderten Zeit jenes Besuchs zu ihrem Gatten sagte: „Ich muß Dich in einer ernsthaften Angelegenheit sprechen.“
Lamondt hatte an jenem Tage wenig Zeit, aber er war doch zu erstaunt über die Worte und den Ton seiner Frau, als daß er nicht alles andere vergessen hätte.
„Was gibt es denn, Tutti?“ fragte er teilnehmend.
„Lamondt, was ich Dir jetzt sage, wird Dich sehr überraschen und sehr betrüben. Aber so wahr ich hier stehe, ich kann nicht anders handeln, als ich handeln will. Ich bin es dem, was in meiner Seele keimt und zum Licht drängt, schuldig. Lamondt, die Qual wird durch Umgehen nur größer für uns beide. So sage ich es Dir denn direkt heraus: Ich kann nicht länger Dein Weib sein. Ich muß meinen Weg allein gehen. Versteh’ mich recht: Ich will mich von Dir scheiden lassen. Die Ehe ist nicht das richtige für mich.“
Totenbleich starrte Lamondt sein Weib an. Die Worte erstarben ihm. Er brachte nichts heraus als „Helene!“ Er kannte den Charakter seines Weibes. ] Er wußte, daß es kein Mittel gäbe, sie von einem einmal gefaßten Entschluß wieder abzubringen.
Frau Lamondt fuhr fort:
„Ich muß Dir alles sagen. Ich kann nicht allein gehen. Das Kind muß bei mir bleiben.“
Lamondt schien kaum hierauf zu hören. Totenblaß saß er immer noch da. Es trat ein bleiernes Schweigen ein. Die junge Frau stand da, den Blick zu Boden gesenkt, die Lippen fest aufeinander gepreßt, wie einer, der auf den Angriff wartet und den Rückschlag gibt, noch ehe er den Schlag erhalten hat.
Endlich begann Lamondt:
„Aber muß denn das sein?“
Heftig erwiderte sie: „Frage nicht. Es muß sein. Ich kann nicht anders. Versuche nicht mich von meinem Entschluß abzubringen. Es wäre vergebliche Mühe.“ In sanfterem, fast bittenden Tone fuhr sie fort:
„Wollen wir nicht alles im Guten ordnen. Es erleichtert uns beiden das Ganze so sehr. Du mußt ja selber einsehen, daß jetzt, wo einmal das entscheidende Wort gesprochen ist, jeder Tag des Zusammenlebens zur Qual wird.“
Wie in stiller Verzweiflung fuhr sich Lamondt an den Kopf. „Mein Gott, mein Gott, was soll das nur geben.“ Der kalte Schweiß rann ihm über die Stirn. Mechanisch wischte er mit der Hand darüber hin.
„Lamondt, denkst Du, meine Qualen sind geringer wie Deine? Was geschieht, geschieht für mich so un abänderlich wie für Dich. Auch ich muß mich fügen und im ruhigen Hinschauen auf die Unabänderlichkeit des Schicksals Trost suchen.“ Dann plötzlich abbrechend begann sie:
„Du fährst jetzt in die Stadt?“
Lamondt nickte stumm.
„So fahre ich mit Dir. Ich will sofort zum Rechtsanwalt und dort das Nötige einleiten.“
Lamondt war wie im Traum. Schweigend saßen sie nebeneinander im Wagen. Vor dem Hause des Rechtsanwalt Kraye setzte er seine Frau ab und begab sich ins Kontor.
Nach einigen Stunden kam ein Bote, der ihn zu eben diesem Rechtsanwalt hinbat. Willenlos folgte er. Es wurden einige Schriftstücke aufgesetzt, die beide unterschreiben mußten, und der Rechtsanwalt stellte in Aussicht, daß schon in wenigen Tagen die Angelegenheit soweit erledigt sein könnte, daß Frau Lamondts Anwesenheit nicht mehr erforderlich sein würde. „Die Einstimmigkeit auf beiden Seiten, besonders auch hinsichtlich des Kindes erleichtert alles sehr“ schloß er seinen Vortrag.
Tatsächlich wickelte sich alles so glatt ab, daß Frau Lamondt schon für den nächsten nach Europa abgehenden Dampfer einen Platz belegen konnte.
Endlich war der Tag der Abreise da, der diesem qualvollen Leben zu Hause ein Ende machte. Frau Lamondt hatte ihren Mann gebeten, dem Kinde, das jetzt etwa sieben Jahr alt war, nichts von der Wahrheit zu sagen, um nicht die Trennung zu erschweren. Der Gutmütige hatte auch hierin eingewilligt. Es war der Kleinen gesagt worden, daß sie verreisten, um die Großmama in Holland zu besuchen. Die Freude darüber war groß, und Lamondt mußte blutenden Herzens manche neugierige Frage beantworten.
Auf dem Schiffe standen die drei im äußersten Winkel, um nicht den Blicken etwaiger Bekannter ausgesetzt zu sein. Beide Eltern waren stumm, außer wenn sie auf die Fragen des Kindes antworten mußten.
Plötzlich begann die Kleine: „Papa, hörst Du, vergiß mir ja nicht Papchen.“ Sie meinte den grauen Papagei. „Das Futter gibt ihm die alte Sarah. Aber den Zucker, weißt Du, den mußt Du ihm geben und dabei mußt Du ihm immer das Wort „Dora“ vorsprechen; aber so wie ich, Papa. Hör’ mal!“ Dabei stellte sie sich wichtig vor Lamondt auf und rief mit Kinderstimme zweimal „Dora!“ „Siehst Du so. Es ist ganz leicht. Mach’ es auch mal, Papa, damit ich sehe, daß Du es recht machst. Schnell doch, Papa!“
Da brach dem gequälten Manne das Herz. Heftig schloß er sein Kind in die Arme und brach in haltloses Schluchzen aus. Dabei streichelte und küßte er das zarte Gesichtchen unaufhörlich, so daß das Kind ganz verdutzt zum Vater hoch sah.
„Mein süßer Liebling, mein wonniges Kind“ begann er endlich. „O Gott und Vater! Muß denn das alles gelitten werden!“
Das Kind wurde unruhig. „Papa, wein’ doch nicht so,“ sagte sie liebkosend. „Ich schreibe Dir alle Tage einen Brief.“ Als der Vater aber immer weiter weinte, wandte sie das Köpfchen zur Mutter hin: „Mama, weshalb weint Papa denn so?“
Frau Lamondt aber stand, die Hand fest auf das Geländer gelegt, die Zähne in die Unterlippe grabend und erwiderte kein Wort. In diesem Moment zum ersten Mal tauchte der furchtbare Gedanke in ihr auf: „Gehe ich auch den rechten Weg? Weh’ mir, wenn ich falsch gehe.“
Als das Kind auch von der Mutter keine Antwort bekam, begann es leise zu weinen. Einmal noch preßte Lamondt sein Kleinod an sich, als ob er ihr den Atem auspressen wollte, dann drehte er sich schnell um und ohne sein Weib zu berühren, ja ohne sie nur zu sehen, verließ er das Schiff und verschwand in der Menge der Zuschauer am Quai. Nicht einen Blick mehr warf er zum Schiff zurück.
Je näher Frau Lamondt Hollands Küsten kam, um so schwerer wurde ihr Herz. Sie wußte, daß sie daheim, ihrer Mutter gegenüber, einen schweren Stand haben würde; denn sie kannte nur zu gut die Hochachtung und Liebe, die letztere für Lamondt hegte. In Neapel hatte sie einen während der Überfahrt geschriebenen ausführlichen Brief zur Post gegeben, der mehrere Tage vor ihr zu Hause ankommen mußte und der ihren Standpunkt in möglichst schlichter Weise klar legte.
Auf dem Bahnhof in Utrecht wurde sie von niemand erwartet. Zu Hause angelangt empfing ihre Mutter sie mit den Worten:
„O Du unglückliches Kind! Was hast Du getan?“
„Mutter,“ erwiderte Helene, „ist es denn solch ein großes Verbrechen, wenn ein Mensch dem Höheren in sich folgt?“
„Das höchste für eine Mutter liegt innerhalb ihrer Familie“ antwortete die alte Dame streng.
Helene hatte sich unterwegs wohl hundertmal auf’s bestimmteste vorgenommen, allen Äußerungen ihrer Mutter die höchste Sanftmut und Geduld entgegen zu setzen, aber gleich diese erste Probe mißlang. Ihr Charakter war zu ungebändigt. Sie erwiderte trotzig:
„Das weiß ich nicht, Mutter.“
„So wirst Du es wohl noch lernen müssen, mein Kind.“
„Mutter, wenn da etwas ist, was ich noch lernen muß, so bin ich bereit dazu.“
Trotzig wie immer, dachte die Mutter und wandte sich liebkosend der Kleinen zu, die sofort ein eifriges Gespräch begann.
Beide Frauen waren sich im Charakter gleich. Das Beharren auf einer vorgefaßten Meinung, das sich Hineinbohren in seine eigene Meinung war der Mutter wie der Tochter eigentümlich. Frau van Hoeven sah mit Empörung auf die Tat ihrer Tochter, und die letztere hatte nicht die Fähigkeit, durch Nachgeben und Sanftmut ihre Mutter milder zu stimmen und schließlich auf ihre Seite zu ziehen. So begann ein trauriges Nebeneinanderleben, eine Fortsetzung der letzten Zeit in Batavia. Auch jede Ablenkung in Form äußerer Geselligkeit fehlte. Alle Bekannte und Verwandte in Utrecht ergriffen Lamondts Partei, der ihnen als Ehrenmann und als Muster eines Ehemanns bekannt war. So mied man es, mit der jungen Frau zusammen zu treffen, und wenn es doch geschah, so ging es nie ohne absichtliche oder unabsichtliche Stiche ab. Ja, es kam schließlich so weit, daß es Helenen unangenehm wurde, bei Tage in die Stadt zu gehen. Sie zog es vor, abends zu promenieren. Mit Recht konnte sie bald von sich sagen: „Ich bin hier die Verfehmte.“
Natürlich suchte sie immer wieder Trost in ihren Idealen. Aber es war, als ob die Gedanken, in denen sie in Java ganz naturgemäß wie in ihrem Element gelebt hatte, plötzlich vertauscht wären. Ihr war, als ob sie aus reeller Münze plötzlich zu wertlosen Schaugroschen geworden wären. Alle diese schönen Begriffe, die sie damals entzückt und ihr Denken genährt hatten, waren jetzt leere Namen geworden ohne Saft und Kraft. Nur eine Art von Pietät hielt sie zurück, diese Schemen für immer bei Seite zu werfen.
Jene Frage, die sich ihr beim Abschied so grell aufgedrängt hatte: Gehe ich den richtigen Weg? — kehrte immer häufiger wieder, immer drohender, beschäftigte sie tags und quälte sie nachts. Sie geriet schließlich in einen Zustand äußerer und innerer Verlassenheit, so daß sie sich niemanden auf der Welt unglücklicher denken konnte als sich selber. Ihr war als ob sie ständig unter einer schwarzen Wolke wandelte, das Sonnenlicht vor und hinter sich, aber sie selber von jedem erhellenden und wärmenden Strahl ausgeschlossen.
Dazu kam eine andere Sache, die ihre Traurigkeit vermehrte. Sie hatte während dieser ganzen Jahre in regelmäßigen Zwischenräumen Savades Briefe erhalten. In Java waren dieselben ihre höchste Freude gewesen, hier wären sie ihr höchster Trost gewesen. Aber dieselben blieben aus. Gleich nach ihrem Eintreffen in der Heimat hatte sie ihm (er war in einem Städtchen an der Küste stationiert) folgenden Brief geschrieben:
„Ich halte mich für verpflichtet, allen meinen Freunden das mitzuteilen, was ich eben im Begriff bin Ihnen mitzuteilen, weil ich Sie auch unter meine Freunde rechne. Ich habe mich von Herrn Lamondt trennen lassen und wohne wieder im Hause meiner Mutter“.
In ihren Briefen an Savade hatte sie nie auch nur eine Andeutung von ihrem Vorhaben fallen lassen. Und so wäre es nicht unwahrscheinlich, daß es sich bei ihrem Entschluß um etwas Plötzliches gehandelt habe, um eine jener uns Menschen so gefährlichen Klarheiten und Fernsichten, die meist für den Verstand nichts anderes sind als die Fata Morgana für das Auge.
Es war wohl ein Jahr her, daß sie diesen Brief geschrieben hatte. Eine Antwort war bis jetzt nicht erfolgt. Sie dachte bitter: „Wer nicht hat, dem wird auch genommen das was er hat.“ Sie bedachte nicht, daß sie ja ihr Kind behalten habe.
Eines Mittags wurde ihr auf ihr Zimmer, wo sie sich meist allein oder zusammen mit der Kleinen aufhielt, eine Visitenkarte überbracht. Sie laß: Louis Savade.
Nie hat Frau Lamondt später diesen merkwürdigen Augenblick vergessen. Ihr war, als ob plötzlich der Schleier, der uns umgibt, zerrisse und sie durch den Riß in die Zukunft blicke. Der Gedanke, auf den ihr geistiges Auge hier traf, jagte ihr erst das Blut ins Gesicht und trieb es dann jäh zum Herzen zurück, so daß sie vor zitternder Schwäche sich auf einen Stuhl niederlassen mußte. Noch einige Mal wechselten schnell jähe Röte und tiefe Blässe. Endlich war die Blutwelle so weit beruhigt, daß sie es wagen konnte, in den Salon hinunter zu gehen.
Beim Verlassen ihres Zimmers trat sie unwillkürlich vor den Spiegel. Aber mit schnellem Ruck wandte sie sich um, ohne hineingesehen zu haben.
Savade trat ihr, wie auch damals in Java, mit jener vorsichtigen Höflichkeit entgegen, die er jedem zeigte. Sie mußte sich zwingen, ihn wenigstens für einen Augenblick frei anzusehen, aber sofort senkte sich ihr Blick wieder, und nach der ersten Begrüßung entstand eine Pause. Es war der jungen Frau unmöglich, jetzt solche banalen Fragen zu tun wie: „Aber wie kommen Sie denn hierher?“ oder: „Sind Sie in Geschäften hier?“ usw. Oben hatte sie mit blitzähnlicher Klarheit den Zweck seines Kommens erkannt. Als er ihr jetzt aber mit dieser formellen Höflichkeit entgegen trat, da war ihr, als ob alles verloren sei und ihr Leben für ewig in um so tiefere Nacht und Dunkel tauche.
Endlich begann Savade, um dem Schweigen ein Ende zu machen:
„Was ist alles geschehen, seit wir uns nicht gesehen haben.“
„O Gott, ja“, erwiderte sie traurig.
Er sah sie prüfend an. Auch jemand, der weniger Menschenkenner war als er, mußte die Last von Leiden sehen, die auf diesem blassen Gesicht lagerte. Da ihre Augen durch die Lider verdeckt wurden, so war ihr Gesicht ganz stilles Dulden.
Ihm wurde das Herz warm. Er begann wieder:
„Sie taten mir die Ehre an, mich Ihren Freund zu nennen. Ich fuße hierauf, um eine Frage zu tun, die zu unterdrücken mir unmöglich ist. Weshalb ist das alles geschehen?“
„Weil es geschehen mußte.“ Sie ließ den Blick gesenkt.
„Und weshalb mußte das geschehen?“
„Weil ich wahr sein wollte, den richtigen Weg gehen wollte, meinen Weg.“
Sie sah entschlossen zu ihm hoch.
Nachdenklich erwiderte er:
„Sie gehen jetzt diesen Weg. Glauben Sie immer noch, daß es der richtige ist?“
Fast argwöhnisch sah sie ihn an: „Sind Sie auch gekommen, um mich zu quälen wie die anderen?“
Er wollte sie unterbrechen. Sie kam ihm zuvor.
„Ach, verzeihen Sie mir Armen, Überreizten! Ich weiß ja, daß Sie der einzige sind, der Verständnis für mein Tun hat. O, sicher, Sie werden nicht nach der Schablone urteilen. Sie werden die nicht ungehört verdammen, die der Ansicht ist, daß die Frau nicht die Verpflichtung habe, in der Ehe nicht allein ihren Körper, sondern auch ihren Geist, ihre Seele, ihr Höchstes hinzuopfern. Die Ehe mag ein geheiligtes Institut sein, aber das Göttliche in uns ist heiliger. Es ist eine Sünde wider den heiligen Geist, es durch die Ehe zertreten zu lassen.“
Sie sah ihn an, als ob sie eine Antwort erwarte. Da er aber sinnend vor sich hinblickte, so fuhr sie fort:
„So will ich Ihnen denn auf Ihre Frage wahrheitsgemäß antworten: Ich kann nicht leugnen, daß ich zur Zeit in einer Periode geistigen Elends mich befinde. Alles was ich die Jahre vorher klar und bestimmt sah, das ist jetzt dunkel, konfuse, zweideutig geworden. Aber ich weiß auch so bestimmt als ich hier vor Ihnen stehe, daß alle diese dunklen Wolken sich zerstreuen werden, so bald die innere Ruhe, die Ruhe des Denkens wieder in mich zurückgekehrt sein wird. Klar wie der Tag sehe ich die Zeit vor mir, in der meine Ideale wieder in ihrem alten Glanz leuchten und wärmen werden.“
„So sind Sie entschlossen, diesen Ihren Weg weiter fort zu gehen?“
Es lag über seinem Sprechen wie ein Schleier, der einen bestimmten Affekt nicht durchblicken ließ.
Ohne Überlegung erwiderte sie: „Ja, ich will es.“
Ihre Augen leuchteten. Ihr Atem ging schnell. Kerzengrade stand sie vor ihm, so daß sie größer aussah, als sie in Wirklichkeit war.
Voll unverhohlener Bewunderung blickte er sie an. „Wie bewundere ich Sie! Sie sind Männern ein Vorbild.“
Es war, als ob er noch etwas sagen wollte, aber der Faden schien abgerissen. Einen Moment schwiegen beide. In der Leere dieses Schweigens saugten sich beider Herzen aneinander. Aber das vermittelnde Wort versagte, der seelische Kontakt zerfiel.
„Ich bin nur für wenige Stunden in Utrecht. Es wird Zeit, daß ich mich empfehle.“
Er erhob sich, um Abschied zu nehmen. Die junge Frau überkam es in diesem Augenblick wie eine unbeschreibliche Angst. Ihr war es, als ob sie etwas für ewig und unwiderbringlich verlöre, wenn sie ihn jetzt so gehen ließe. Sie wußte kaum, was sie tat. Fast flehend trat sie vor ihn:
„O, bleiben Sie doch noch, nur ein paar Minuten! Diese Zeit, in der ich jetzt mit ihnen geredet habe, ist die einzige frohe Viertelstunde, die ich genoß, seit ich die Schwelle dieses Hauses überschritten habe. O, wenn Sie wüßten, was das heißt, als eine Verfehmte leben. Wenn Sie wüßten, was das heißt, wenn man das Tageslicht meiden muß, weil man in aller Augen immer nur die Anklage liest. Aber das ist die Brutalität unserer Nächsten. Über ein schwaches Weib fällt alles erbarmungslos her. Sie ist ja dazu geboren, in der Deichsel zusammen zu brechen, und wehe ihr, wenn sie eigenmächtig an ihrem Schicksal modelt. Wenn der Mann, höheren Idealen folgend, sein Weib verläßt, so wird er bewundert und womöglich der Löwe der Gesellschaft. Ein armseliges Weib, das nichts will, als in Ruhe leben, wird nach Indianer-Manier langsam zu Tode gequält. O, mein Gott, mein Gott! Was habe ich in dieser Zeit gelitten!“ Ihre Lippen zuckten, und sie schlug die Hände vor’s Gesicht, um die Tränen zu verbergen, die langsam ihre Augen füllten.
Savade stand wortlos. Er fühlte unendliches Mitleid und unendliche Liebe. Ihm war, als ob dieses Menschenwesen vor ihm geschaffen sei, ihm, gerade ihm die Noblesse ihrer Gedanken, die Eigenart ihres Empfindens zu enthüllen. Ihm war, als ob er, nur er allein der Strahl sei, dem diese Blume sich öffnen könne.
Er näherte sein Gesicht dicht dem ihrigen. „O, weinen Sie nicht,“ bat er leise und zärtlich. „O bitte, weinen Sie nicht. Es zerreißt das Herz, jemanden leiden zu sehen, den man so liebt, wie ich Sie liebe. Es würde mir Seligkeit sein, Sie zu schützen, Sie mit aller der Sorgfalt zu umgeben, die Ihre Natur erfordert. Haben Sie genug Vertrauen zu mir, um sich meiner Führung für Ihr künftiges Leben anzuvertrauen? — Geliebte!“
Er versuchte sanft, ihre Hände vom Gesicht herabzuziehen. Da lag sie an seiner Brust, leise weinend wie ein geängstigtes Kind am Halse der Mutter. Er streichelte ihr das Haar und flüsterte zärtliche Koseworte. Was war nur aus der eigenwilligen Frau Lamondt geworden.
Plötzlich bog sie sich zurück und sah ihn an. „Denkst Du auch an Lamondt?“
„Ja, ich denke an ihn, Helene. Unsere Ehe baut sich auf den Trümmern seines Glückes auf. So wollen wir jetzt den heiligen Schwur tun, unsere Ehe und unser Leben so zu führen, daß wir in Zeiten der Trübsal und in Zeiten der Freude ruhigen Gewissens an Lamondt und sein vom Schicksal zerstörtes Glück denken können.“
Stolz, selig blickte sie zu ihm hoch. „O, wie viel Glück doch in einem Augenblicke leben kann,“ sagte sie leise.
„Und wie viel Unglück. Wir, Helene, dürfen selbst an einem Tage wie dem heutigen das nicht vergessen.“
Sie nickte.
„Aber jetzt meine Mutter.“ Hastig schritt sie zur Klingel, dem auf das Geläute hin erscheinenden Mädchen trug sie auf, Frau van Hoeven in den Salon zu bitten.
Schon nach wenigen Minuten erschien die alte Dame.
Helene warf sich stürmisch an ihre Brust.
„Aber Helene, was ist denn?“ fragte die Mutter. Sie war keine Freundin übertriebener Gefühlsäußerungen. In ihr war noch das javanische Blut lebendig, und die erste Vorschrift javanischer Etikette ist strenge Förmlichkeit.
„O Mutter, von heut ab beginnt mein wahres Lebensglück. Wir bitten um Deinen Segen.“
Die Alte stand ratlos. Da trat Savade vor und begann:
„Gnädige Frau, ich habe um die Hand Ihrer Tochter angehalten und soeben das Ja-Wort bekommen. Helene und ich bitten um Ihren Segen.“
„Mein Herr,“ begann Frau van Hoeven, „ich bin zu überrascht, um etwas Schickliches vorbringen zu können. Die bisherige Handlungsweise meiner Tochter kann ich nicht billigen; die augenblickliche verstehe ich noch nicht recht. Aber ich weiß, daß sie das Beste will und ich sehe, daß Sie ein Ehrenmann sind. So gebe ich denn Euch beiden so viel Segen, wie eine Mutter nur geben kann.“
Sie küßte Helene zärtlich. Savade trat hinzu und küßte ehrfurchtsvoll ihre Hand.
In diesem Moment trat die kleine Dora ein. Scheu blieb sie an der Tür stehen.
„Komm, Dora, komm mein Kind,“ rief ihr die Mutter zu. „Ich will Dir etwas erzählen.“ Sie küßte die Kleine heftig und führte sie zu Savade. „Dieses ist Herr Savade. Gib ihm einen Kuß, mein Kind.“
„Weshalb denn, Mama?“
„Weil ich Dich darum bitte, mein Kind.“
Die Kleine zögerte immer noch. Da beugte sich die Mutter tief über sie, daß ihr das Blut in die Wangen stieg, und flüsterte ihr etwas in’s Ohr. Trotzig wandte sich das Kind ab. „Ich habe meinen Papa. Ich will keinen anderen Papa.“
„Aber Dora!“ rief Frau Lamondt etwas heftig.
„Laß das Kind, Helene,“ fiel Savade ein. „Wir werden später gute Freunde werden.“
Am Abend reiste er ab. In schmerzhafter Seligkeit hing Helene an seinem Hals.
„Wie dunkel wird es jetzt wieder werden.“
„Aber Helene, mein braver Philosoph.“
„Du hast Recht. Wir haben Licht in uns. Überdies leuchtet ja jetzt ein Licht vor mir heller wie die Sonne.“
Er drückte sie zärtlich an sich. Helene fühlte eine Seligkeit, von deren Existenz sie bisher nichts geahnt hatte.
Schon nach wenigen Tagen schrieb Savade folgenden Brief an Lamondt:
„Mein guter Lamondt, liebster Freund!
Es hat sich etwas ereignet, von dem ich wohl möchte, daß Du es von niemand anderem eher hörst als von mir. Nachdem ich so angefangen habe, ist es mir unmöglich, weitere Vorreden und Umschweife zu machen. Ich muß es Dir direkt sagen: Am Xten dieses Monats habe ich mich mit Helene verlobt, und wenn Du diese Zeilen erhältst, so sind wir vielleicht schon Mann und Weib.
Wir sind übereingekommen, jene geistigen Ziele, die doch das Höchste sind, dem der Mensch hienieden leben kann, gemeinschaftlich zu verfolgen.
Ein Gedanke ist mir fürchterlich. Mir ist, als ob ich unsere Freundschaft beschmutze, wenn ich darüber rede. Mir ist aber auch, als ob ich unsere Freundschaft beschmutze, wenn ich darüber schweige. Lamondt, Du glaubst doch nicht, daß die Scheidung Deiner Frau von Dir etwas mit diesem Ereignis zu tun hat! O Gott, ich drücke mich so plump aus, aber wie soll ich anders reden, um deutlich zu sein.
Ich hatte das ganze Jahr nichts von Helene gehört. Unsere Verlobung kam ganz überraschend. Das heißt, ich will ganz ehrlich sein. Schon lange war ich von den widerstreitendsten Empfindungen gepeinigt worden. Ich fuhr nach Utrecht, ich wußte selber nicht, warum. Es hätte wohl sein können, daß ich statt des Ja-Wortes mit einem neuen Schlips oder einem Satz Hemdknöpfe nach Hause zurückgekehrt wäre. So völlig unentschlossen war ich.
Aber fällt mir eben ein, hier mußt Du fragen: ‚Mein lieber Savade, weshalb bist Du denn überhaupt auf den Gedanken gekommen, nach Utrecht zu reisen? Schlipse und Hemdenknöpfe konntest Du auch in Deinem Krähwinkel kaufen.‘ — Weil ich in widerstreitenden Empfindungen lebte. — ‚Und weshalb lebtest Du in widerstreitenden Empfindungen?‘ Usw. rückwärts. — Lamondt, so wahr ich dereinst hoffe, ein ruhiges Sterben zu haben, diesen Gedanken verfolge ich mit solcher Gründlichkeit heute zum ersten Mal. Und jetzt erst, in diesem Augenblick erkenne ich, daß der Grund meiner Liebe zu Helenen vielleicht schon an jenem Tage gelegt ist, an dem ich Euch in Batavia besuchte. Ich sage ‚vielleicht‘; denn ich kann es Dir mit heiligstem Eide beschwören: Ich weiß es selber nicht. Ich weiß nur, daß ich furchtbar erschrocken war, als ich von Helene die Nachricht ihrer Scheidung von Dir erhielt.
Aber man muß gerecht sein, auch gegen sich selbst und nicht nur Gefühle, sondern auch Tatsachen erzählen. So kann ich Dir sagen, daß in dem Briefwechsel jener Jahre nicht ein Wort, nicht eine Wendung sich befindet, die nicht vor der strengsten Kritik standhalten würde. Aber geht mir selber auch jene Gedanken-Unschuld ab, so kann ich, Gott sei Dank, für Helene garantieren. Noch als ich sie sprach, war sie fest entschlossen, ihren Weg allein zu wandern. Die Entscheidung kam, als ich schon sozusagen die Tür in der Hand hatte. Es war der reine Zufall, Lamondt, für mich ein unerhörter Glückszufall.
Das wollte ich Dir mitteilen. Lieber, guter, treuer Lamondt, was ist das Leben doch für ein elendes Ding. Nicht einmal drei Leute, die alle drei das Beste wollen, können in reinem Glück zusammen leben. Was mich am meisten schmerzt, ist, daß ich Dich nicht einmal trösten kann. Aber glaube mir, Lamondt, auch in der Hochflut meiner Seligkeit vergesse ich nicht, daß das Glück rollt.
Dein treuer Savade.“
Nach etwa neun Wochen empfing Savade hierauf eine Antwort, die an ihrem Ort Platz finden wird.
Helenes und Savades Verlobungszeit war nur kurz. Schon etwa vier Wochen nach der Verlobung fand die Hochzeit statt. Alles ward aufs einfachste und in der Stille hergerichtet.
Die Trauung war auf die Mittagszeit festgesetzt.
Es waren nur noch wenige Stunden bis dahin. Plötzlich sagte Helene zu Savade, mit dem zusammen sie eben etwas anordnete:
„Ich habe Dora so lange nicht gesehen. Wo mag sie nur stecken?“
Die eben eintretende Mutter hatte gleichfalls nichts gesehen. Schnell sprang Helene hinauf in das Schlafzimmer. Das Kind war auch dort nicht. Hut und Mäntelchen fehlten. Erst wurde das ganze Haus und der Garten durchsucht. Dann ging es auf die Straße. Von dem Kinde nirgends eine Spur.
Alles war sprachlos vor Schreck. Die Kleine hatte noch nie allein das Haus verlassen. Savade allein behielt so viel Besinnung, daß er die Anordnungen treffen konnte, wie sie in solchem Fall zu treffen nötig sind.
Wie ein gehetztes Wild jagte Helene in den Straßen hin und her. Nach etwa einer Stunde kam sie matt zum Umsinken nach Hause. Vom Kinde nichts gefunden. Der Prediger wartete bereits. Dem Wahnsinn nahe stürmte sie wieder hinaus. In einer Straße kreuzte sie das Bahngeleise. Plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke. Sie nahm einen Wagen und fuhr zum Bahnhof. Sie brauchte nicht lange zu suchen. Außen am Gebäude, in einer Ecke stand ihr Kind, weinend vor Angst; denn einige Straßenjungen standen vor ihr und versuchten Späße mit ihr zu treiben.
Sobald sie ihre Mutter erblickte, lief sie jubelnd auf dieselbe zu. „O Mama! Da ist meine Mama!“
Helene erwiderte keinen Ton. Fest ergriff sie die Hand des Kindes und stieg mit ihr in den Wagen. Auch hier sprach sie kein Wort, sondern starrte nur gerade vor sich hin. Das Kind kauerte ängstlich in einer Ecke.
Zu Hause angelangt, begab sie sich mit der Kleinen in ihr Schlafzimmer.
Erst nachdem sie ihr und sich selber die Sachen abgenommen hatte, begann sie in möglichst ruhigem und sanftem Ton:
„Mein Kind, was wolltest Du da am Bahnhof?“
Einen Augenblick zögerte die Kleine, dann sagte sie trotzig:
„Ich wollte zu Papa fahren.“
„Dora, hast Du mich denn gar nicht mehr lieb? Weißt Du denn nicht, wie lieb Dich Deine Mutter hat? Willst Du Deine Mutter töten vor Kummer?“
Das Kind begann zu weinen. „Du hast auch gesagt, daß wir Großmama besuchen und dann zu Papa zurückfahren. Das ist aber nicht wahr.“
Ein andermal wäre Helene von diesem Vorwurf des Kindes vielleicht getroffen worden. Heute genügte dieser Tropfen, um den Becher zum Überlaufen zu bringen. Heftig schlug sie das Kind auf den Mund.
„So bestraft man Kinder, die einen ungezogenen Mund haben.“
Die Kleine stand wie erstarrt. Es war der erste Schlag, den sie in ihrem Leben erhalten hatte. Sie wollte schreien, aber die Stimme blieb ihr in der Kehle stecken. Die Augen erweiterten sich unnatürlich. Die Finger begannen zu zucken, und plötzlich lag sie auf dem Boden in den schrecklichsten Krämpfen.
Helene kreischte laut auf. Savade, der soeben auch von der Suche zurückgekehrt war, und Frau van Hoeven stürzten herein. Savade jagte sofort zum Arzt. Der kam. „Kinderkrämpfe“ meinte er. „Sie wird sich den Magen überladen haben. Vielleicht zu viel Kuchen?“
Man gab ihm die nötigen Anhaltspunkte. „So, so! So liegt es.“ Sein Gesicht wurde ernster. Er ließ das Nötige aus der Apotheke holen. „Ich muß Sie freilich darauf aufmerksam machen, daß jeder der artige Krampfanfall eine Lebensgefahr an sich ist, ganz abgesehen davon, daß Gehirnentzündung nachfolgen kann.“
Geisterbleich starrte Helene den Sprecher an. Savade hätte ihn am liebsten für seine trostreichen Worte geohrfeigt. „Die Hallunken!“ dachte er. „Nur um sich sicher zu stellen und um ihr Verdienst um so höher zu heben, lassen sie die Angehörigen den Tod ihrer Lieben dreimal kosten.“
Bald nach Anwendung der Mittel trat Ruhe ein, so daß der Arzt sich entfernen konnte. Aber wohl eine Stunde noch kniete Helene am Bettchen des Kindes unbekümmert um die Hochzeit und den wartenden Prediger.
Da endlich trat ruhiger Schlaf ein. Sie ging hinunter, um sich festlich anzukleiden. Savade raunte ihr zu:
„Ist es nicht besser, bis morgen zu verschieben? Gäste sind ja nicht da.“
„Nein!“ erwiderte sie rauh. „Das ist mein Hochzeitstag.“
„Unser Hochzeitstag, Helene.“
Sie fiel ihm weinend um den Hals.
Er fuhr fort: „Wie sollen wir rein werden, wenn wir nicht geläutert werden. Jedes Ding, mag es noch so böse sein, können wir doch immer so auffangen, daß es zum Vorteil für uns ausschlägt. Auf das Auffangen kommt es an, Helene, auf das Auffangen. Ich fürchte, Du hast den Streich nicht mit geradem Denken aufgefangen.“
Sein Ton war fast scherzhaft geworden. Durch Tränen lächelnd sah sie hoch. Der innere Friede war wieder hergestellt.
Unmittelbar nach der Hochzeit begab sich die junge Familie nach ihrem neuen Wohnort K., jenem Küstenstädtchen, in welchem Savade stationiert war.
Hier begann nun für Helene eine Zeit jener bewußten Glückseligkeit, deren Wert nur der bemessen kann, der selber um sie geworben hat. Denn diese Art der Glückseligkeit muß durch Denken erworben werden.
Das einzige, was einen Schatten auf die Sonne ihres Glückes warf, war das Verhältnis zu ihrem Töchterchen. Seit jenem Tage war das Kind ein anderes geworden. Zu ihrem namenlosen Schmerz merkte Helene, daß sie jenes rückhaltlose Vertrauen ihres Kindes, jenes Vertrauen, ohne welches vollkommene Liebe nicht denkbar ist, verloren habe. Dieses Bewußtsein erfüllte sie immer wieder mit brennender Qual. Das verlorene Terrain mußte wiedergewonnen werden. Sie begann um die Liebe ihres Kindes zu buhlen. Sie machte dasselbe dadurch freilich nur trotziger und unzugänglicher. Aber sie ertrug alle Rücksichtslosigkeiten mit Engelsgeduld. Ihr Mann sagte öfter: „Du wirst das Kind ganz verziehen.“ Aber sie lächelte nur.
Etwa sechs Wochen nach ihrer Hochzeit traf Lamondts Antwort an Savade ein. Dieselbe lautete:
„Mein lieber Freund!
Ich will nur gleich vorausschicken, daß die Heirat an unserer Freundschaft sicherlich nichts ändern soll, soweit es an mir liegt. Du hast das Recht, Dir Deine Frau nach Belieben zu suchen. Daß Du gerade die gefaßt hast, die sich von mir hat scheiden lassen, dafür können wir beide nichts. So viel davon.
Savade, wenn Du mir geschrieben hättest, daß in Holland der Himmel eingestürzt sei, und die heruntergefallenen Engel liefen in den Straßen umher und bettelten um Brot, so würde ich nicht so erstaunt gewesen sein als über die Heirat dieser Frau. Also das waren die hohen Ideale, die sie von meiner Seite und aus meiner Häuslichkeit trieben. Darum mußte mein kleines Paradies zertreten werden. Einen anderen Mann wollte sie haben. Freilich, jetzt verstehe ich, warum es durchaus ohne mich sein mußte. Mir ist als ob all meine Gutmütigkeit, meine Geduld, meine Menschenliebe für immer dahin sind. Ich erschrecke vor mir selber und hasse die Frau, die das in mir zustande gebracht hat. Ich weiß, ich speie Gift auf Dich, wenn ich Gift auf diese Frau speie. Aber soll ich ewig als der gutmütige Schwächling dahinschleichen, der sich geehrt fühlt, wenn andere über seinen Rücken hinschreiten! Nein! Wie ich ist noch kein Mann beleidigt worden. Savade! wenn einer Liebe geübt hat, ich war’s. O Gott im Himmel! mein Herzblut hätt’ ich jederzeit für diese Frau hingegeben und hätte nichts Großes daraus gemacht. Und das alles wird leichtsinniger, nein ruchloser Weise mit Füßen getreten. Und ich Narr lasse mich von ihren hochtrabenden Phrasen betören. Aber es ist ja alles so klar und einfach: Sie ging von mir weg, weil sie Dich wollte. Sie kam nach Holland, um Jagd auf Dich zu machen. Hier spannte sie ihr Netz auf und wartete Monat für Monat, bis Du Dich darin fangen würdest. Du schreibst: ‚Für H. kann ich garantieren. Noch als ich mit ihr sprach, war sie fest entschlossen, ihren Weg allein zu gehen.‘ Guter Savade, es kommt mir plötzlich vor, als ob ich der Alte, Gewiegte bin und Du der verliebte Jüngling. Als Du ins Haus tratest, war Dein Schicksal schon besiegelt. Glaub’ mir, sie war entschlossen, Dich nur als Bräutigam wieder hinauszulassen.
Savade, daß diese Frau meine Einfalt beherrschte, das verstehe ich, aber daß sie meine natürlichen Instinkte, meine Vaterliebe so ganz betäuben konnte, das verstehe ich heute nicht mehr. Ich verstehe nicht mehr, wie es möglich war, daß ich mich dazu entschließen konnte, dieser Frau in rechtskräftiger Form mein Kind für immer zu überlassen. Das kommt mir heute vor wie das Machwerk schwarzer Zauberei. Ach, wenn Du die Tränen kenntest, die ich zwischen meinen toten Wänden verweint habe! Und ich sagte mir immer: Es ist mein Schicksal. Ich soll ein einsamer Mann sein. — Aber weshalb denn? Weshalb denn, frag’ ich! Wenn mein Weib sich einen anderen Mann nimmt, weshalb soll ich denn auch noch die Zeche bezahlen?
Verzeih mir, daß ich so rede. Ich hätte noch warten müssen, ehe ich antworte. Aber das konnte ich nicht wegen des Kindes, und zur Zeit ist es mir unmöglich, anders zu schreiben.
Um also zum Schluß zu kommen: Dein Gerechtigkeitssinn wird Dir auch sagen, daß das Kind mir gehört; denn nicht ich bin schuld an der Lösung unserer Ehe. So bitte ich Dich herzlich, dahin zu wirken, daß alles in Güte abgetan wird. Ich kann auf mein Kind in keinem Fall verzichten, und ich würde alle Mittel anwenden, es wieder in meinen Besitz zu bringen, falls es mir verweigert wird.
In alter Freundschaft
Dein Lamondt.“
Als Savade diesen Brief fertig gelesen hatte, blieb er lange sinnend sitzen. Er hatte ein unbehagliches Gefühl. Unwillkürlich ließ er jenen Tag in Utrecht, an dem er sich mit Helene verlobt hatte, an seinem Geist vorüberziehen. Mit peinlicher Genauigkeit suchte er sich jedes einzelne Moment wieder ins Leben zu rufen. Schließlich schüttelte er energisch den Kopf wie einer, der etwas von sich abschütteln will und begab sich in das Zimmer seiner Frau.
„Soeben ist ein Brief von Lamondt angekommen“ begann er.
„Was schreibt er denn?“ fragte Helene lebhaft. Sie erwartete als selbstverständlich, daß ihr Mann ihr den Brief zum Lesen geben würde. Aber er las ihr nur den Abschnitt vor, der sich auf das Kind bezog.
Helene antwortete, als er fertig war, keinen Ton, sondern sah Savade nur mit ihren klaren Augen an. Er fühlte, sie wartete auf den Brief. Er fühlte, was auf dem Spiel stand. Aber der Pfeil, den Lamondt abgeschossen, war haften geblieben. Sein Herz war nicht rein genug, um seinem Weibe sagen zu können: „Hier ist der Brief. Ich glaube an Dich.“
Etwas zögernd begann er:
„Wie denkst Du darüber?“
Sie antwortete immer noch nicht.
„Ich denke, daß Lamondt in seiner Einsamkeit einiges Anrecht auf das Kind hat“ fuhr er unsicher fort.
„Meinst Du? Nun, so sage ich Dir, daß das Kind meine Zukunft ist; daß an ihm mein Alles hängt. Das Kind bin ich. Das Kind hingeben, ist eben so gut, als mich selber wieder Lamondt hingeben.“
Sie hatte in völliger Ruhe begonnen. Beim Sprechen wurde sie lebhafter. „Lamondt hat aus freiem Willen, nach reiflicher Überlegung mir das Kind zusprechen lassen. Weshalb? — Weil er einsah, daß ein Kind näher zur Mutter gehört als zum Vater. Nur Mütter, die sich etwas haben zu schulden kommen lassen, müssen ihre Kinder fahren lassen. Aber Lamondt wußte, daß ich makellos gelebt habe und makellos leben werde. Darum ließ er mir das Kind. Ist er jetzt anderer Ansicht geworden, so muß ich mich dagegen wehren.“
Es lag etwas wie Erhabenheit über ihr, als sie dieses sprach. Savade fühlte sich beschämt. Wieder drängte es ihn, den Brief zu geben, aber er hatte die Kraft nicht.
„So werden wir einen Prozeß haben“, sagte er.
„Nun gut, so werden wir einen Prozeß haben. Es gibt schlimmere Dinge als einen Prozeß.“
„So werde ich Lamondt in diesem Sinne antworten.“
Einen Augenblick noch standen sie sich stumm gegenüber, dann wandte sich Savade langsam und ging in sein Arbeitszimmer zurück. Traurig blickte ihm Helene nach. Jene bewußte Glückseligkeit ihrer Ehe hatte mit diesem Tag ihr Ende erreicht.
Der Prozeß zog sich fast ein Jahr hin. Es war eine böse Zeit für die beiden. Helene reiste oft nach Utrecht, um ihre Sache mit dem Rechtsanwalt persönlich zu besprechen. Oft blieb sie tagelang dort, und Savade hauste allein. Das Ergebnis war schließlich dieses, daß das Kind Lamondt zugesprochen wurde.
Savade erwartete sein Weib in Verzweiflung zu sehen. Aber nichts von dem. Sie schien völlig gefaßt. „Ich bin von der Gerechtigkeit meiner Sache so ganz überzeugt, daß ich weiß, ich muß Recht behalten.“ Sie war entschlossen, weiter zu prozessieren. Dem Kinde widmete sie sich nach wie vor mit aller denkbaren Liebe und Sorgfalt. Sie wußte, daß Lamondt, der telegraphisch von seinem Rechtsanwalt benachrichtigt war, sofort eine Vertrauensperson abgeschickt hatte, die das Kind abholen sollte. Die Zeit des Eintreffens derselben war bis auf wenige Tage herangerückt, da begann Helene eines Abends beim Schlafengehen:
„Möchtest Du wohl Deinen Papa in Java wieder besuchen, mein Liebling?“
Stürmisch warf sich das Kind der Mutter an die Brust. „Wirklich, Mama, darf ich?“
„Ja, mein Kind. Übermorgen wird jemand kommen, der Dich hinbringt.“
„O nein, Mama, Du mußt mitkommen; ach bitte, bitte, gute Mama!“
Sie begann zu schmeicheln mit jener Herzlichkeit, die Frau Savade so lange vermißt hatte und deren Duft sie jetzt einsog wie der Durstende die Luft, aus der er das Wasser in der Ferne wittert.
„Ich kann nicht, mein Kind,“ sagte sie leise.
„Aber warum denn nicht, Mama? Es war doch so schön in Java.“
Sie hängte sich der Mutter schmeichelnd um den Hals. Die sah vor sich nieder. Wieder kam wie etwas Kaltes, Unheimliches diese Frage: „Gehe ich den richtigen Weg?“ Ja, sie ertappte sich sogar bei dem Gedanken: „Wie bequem und ruhig hätte ich mein Leben an Lamondts Seite führen können.“ Aber mit einem Schlag wurde dieser Gedanke verjagt wie der Hund, der aus der Kammer des Nachbarn ein Stück Fleisch holen will.
Sie bettete das Kind und erzählte noch lange mit ihm von Java, den schönen Bäumen, den süßen Früchten, den bunten Vögeln.
„Weißt Du, Mama, ich bin so neugierig, was Papchen macht. Ob Papa ihm wohl alle Tage ‚Dora‘ vorgesprochen hat?“
„Ich weiß nicht, mein Kind.“
„O, ich glaube sicher, Papa hat es getan. Papa ist ja so gut.“
„Aber jetzt schlaf’ nur, mein Kind. Es ist Zeit.“
Der Tag des Abschieds kam. Helene hatte es sich nicht nehmen lassen, das Kind bis nach Antwerpen zu begleiten, um es selber auf dem Schiffe unterbringen zu können. Auf der Fahrt gab sie der alten Dame, die Lamondt geschickt hatte, noch eine Menge Ratschläge und Anweisungen bezüglich der Lebensart der Kleinen. Man merkte ihr eine außergewöhnliche Erregung nicht an.
Jetzt kamen die letzten Stunden. Die Kleine zerfloß in Tränen. Immer wieder warf sie sich ihrer Mutter um den Hals. Immer wieder schmeichelte sie: „Komm’ doch mit, Mama!“ Ihr Kinderherz ahnte schon das Trennungsweh.
Auch Helene weinte still. Aber ihr Gesicht war durch die Tränen hindurch wie von einer inneren Heiterkeit verklärt. Ihr war wie einer, die auf dunkler, sturmumtoster Klippe steht und fern in ein Tal voll Friede und Abendsonne blickt. — Ihr Kind! Ihr war bei dem Namen, als ob sie einen großen Glanz vor sich sähe, von dem nach allen Seiten leuchtende Strahlen ausgingen. Das war doch der Kern ihrer Welt. Hier lag die Lösung ihres Lebensproblems. Jetzt gab sie ihr Kleinod dahin, aber einst sollte der Tag kommen, an dem das Kind sich freiwillig entscheiden würde, bei ihr, der Mutter, zu bleiben.
Mit Doras Abreise schien auch Helenens Ruhe dahin zu sein. Sie war beständig in gereizter oder gedrückter Stimmung. Und das steigerte sich, je weiter dieser zweite Prozeß vorrückte, der sich vor der obersten Instanz des Landes abspielte. Jene wunderbare Seelengemeinschaft, in der sie mit ihrem Manne in den ersten Wochen ihrer Ehe gelebt hatte, war ganz dahin. Jenes Hochsteigen aus dem Dunst der Alltäglichkeit, jenes Weilen hoch oben in erhabenen Regionen, jene unvergleichliche Wonne des gemeinsamen Genießens solcher erhabenen Augenblicke — das alles war dahin, sei es, daß Lamondt’s Brief immer noch wirkte, sei es, daß die Wirken des Prozesses alles geistige Leben zerstörten.
Hinzu kam, daß bei diesem Prozeß eine Hauptrolle die Frage spielte, ob Helene durch die Bekanntschaft mit Savade bewogen worden sei, ihre Ehe mit Lamondt zu lösen. Es war ihr fürchterlich, sich hierüber Fremden gegenüber äußern zu müssen. Sogar ihr Briefwechsel mit Savade wurde einer Durchsicht unterzogen. Helene unterwarf sich allem aus Liebe zu dem Kinde und im Bewußtsein ihrer Unschuld. Aber jene hohen, idealen Gedanken erschienen ihr dadurch beschmutzt, von den Fingern anderer Leute begriffen. So vermied sie es jetzt, sich mit ihrem Manne auf solche Gegenstände ein zulassen. Sie war wie jene noblen Tiere, die zu ihrer Beute nicht mehr zurückkehren, wenn sie merken, daß niederes Wild daran genagt hat.
Nun ist keine Qual der Welt ganz groß, so lange der Mensch schlafen kann. Aber dieser höchste Trost eines gequälten Herzens ging Helenen jetzt auch verloren. Nächte lang wälzte sie sich ruhelos auf ihrem Lager und entschlummerte sie endlich, so warteten gleich Wegelagerern schwere Träume auf sie, um sie zu ängstigen.
Eines Nachts träumte sie, daß sie in ihrem Haus in Batavia wäre. Lamondt, als Blindekuh verkleidet, tappte auf dem Rasen umher. Sie selber und Savade standen sich umschlungen haltend vor ihm, lachten über ihn und küßten sich. „Das ist nicht wahr!“ schrie sie laut im Schlaf, so laut, daß sie selber davon erwachte. Sie hörte noch das „wahr“, wie von einer fremden Stimme ihr zugeschrien.
Auch ihr Mann erwachte davon.
„Was ist denn, Helene?“ fragte er erschrocken.
„O, ich habe nur geträumt.“
„Mit Deinen Träumen, das ist ja förmlich krankhaft geworden.“ Er hatte einen anstrengenden Tag gehabt und sich nicht ganz wohl zu Bett gelegt. Bei dem Schrei seiner Frau war er mit einem Nervenschreck aufgewacht. Etwas ungeduldig fuhr er fort:
„Ich verstehe nicht, wie Du so wenig geistige Hilfsquellen in Dir selber findest, daß Du in allen diesen Situationen nicht besser Herr Deiner selbst bleibst.“
„O, ein wundervoller Trost!“ Ein Weilchen lag sie regungslos, dann richtete sie sich im Bett auf, daß ihr die Haare ins Gesicht flogen.
„Mein Gott im Himmel, was für ein Leben! Wer erbarmt sich! Ist denn dieses Leben überhaupt noch einen Tag zu ertragen!“ Sie griff sich mit der Faust in die Haare und begann leise zu stöhnen. In der Dunkelheit konnte man sie für eine Schwerkranke halten.
Savade wartete ein Weilchen, dann begann er wieder:
„Helene, mein Ton mag vielleicht nicht der richtige gewesen sein, aber ich frage Dich noch mal: Was haben Leute wie wir, die ihr Leben mit Bewußtsein zu leben versuchen, für Trost? Die anderen helfen sich mit Selbsttäuschungen von Tag zu Tag hin. Was bleibt uns aber anderes, als die Dinge mit ruhigem Mut anzuschauen und in verständigem Sichfügen Trost zu finden?“
„O gewiß, gewiß! Das sind schöne Worte, aber sie gelten nur bis zu einer gewissen Grenze des Unglücks. Wird diese überschritten, so ist nichts mehr mit Denken einzuhemmen. Ich wenigstens kann es nicht. Denn es kommt alles darauf an, wie das Leiden aufgefangen wird.“ Sie benutzte dieselben Worte, mit denen er sie am Hochzeitstage getröstet hatte. „Wenn Du wüßtest, wie mein Herz jeden leisesten Stich auffängt. O, ich bin wie — nun gut! nun gut! Da giebt es freilich andere Leute, Leute wie diesern Herrn Lamondt. Die essen ] gut und schlafen gut und lassen Gott einen guten Mann sein. Außerdem sind sie noch tadellose Familienväter und vollkommene Ehrenmänner; freilich so lange alles gut geht. Wenn aber die Zeiten der Trübsal kommen, was tut dieser wackere Lamondt? — Er schießt mit vergifteten Pfeilen wie die Wilden in Sumatra. Er fragt sich nicht: ‚Ist es gerecht, so zu handeln? Sind meine Anklagen wahr?‘ Nein! Wie ein Barbar vergiftet er ein Familienglück, weil er es nicht mit genießen kann. Ach, hättest Du doch den Brief gegeben. Alles ist dahin, zerknickt, zertreten, seit diesem Brief. Sechs Wochen nur sind wir Mann und Weib gewesen. Ach, als Du damals aus meinem Zimmer gingst — mein Herz blutet seit diesem Tage. Freilich Lamondt ist und bleibt ein Ehrenmann, aber Schmach und Schande auf sein Weib. O, es ist eine wunderbare Gerechtigkeit in der Welt.“ Jetzt freilich macht jeder ein ernsthaftes Gesicht: „Bedenken Sie, daß Sie vor Gott dem Allmächtigen und Allwissenden reden. Hat die Bekanntschaft mit Herrn Savade nicht doch auf die Scheidung von Herrn Lamondt einen Einfluß geübt?“ Sie äffte den Richterton nach. „Als ich aber damals mit Lamondt vor den Altar trat, da sagte niemand zu mir: ‚Bedenke, daß Du vor Gott dem Allmächtigen stehst. Bist Du dir klar darüber, daß dieser Lamondt der rechte für Dich ist?‘ Und wenn man mich gefragt hätte, ich hätte sagen müssen: ‚Ich weiß es nicht.‘ Denn ich war ja ein Kind. Und als ich verständig wurde, und mein Verstand seine Forderungen stellte, da gab mir Lamondt Steine statt Brot. Um dem geistigen Hungertode zu entgehen, ging ich davon.“
Sie schwieg erschöpft. Die letzten Sätze hatte sie vor übermäßiger Erregung fast schreiend hinausgestoßen.
„Helene,“ begann jetzt ihr Mann und griff sacht mit seiner Hand nach ihrem Bett hinüber, um ihre Hand zu suchen, „hör’ mich jetzt an. Ich bin schuldig, ich weiß es und bin bereit, meine Schuld gut zu machen.“
Hastig fiel sie ein: „O, laß jetzt nur, laß nur! Jetzt hat nur eines für mich Wert: Wie ich vor meinem Kinde bestehen werde.“
Verletzt schwieg Savade still. So verdarb sich Helene abermals ihr Lebensglück.
Einige Zeit nach diesem Vorfall besuchte eine berühmte deutsche Kapelle auf ihrem Wege nach Ostende auch Utrecht und gab hier ein Konzert. Die beiden waren in Sachen des Prozesses gerade in der Stadt und besuchten das Konzert. Helene hatte seit ihrer Übersiedelung nach Java fast keine Musik mehr gehört und vorher nicht sehr viel. Die ersten Nummern des Programmes ließen sie kalt. Die letzte Nummer des ersten Teiles war Beethovens Es-dur-Konzert.
Sie erwachte wie aus einem Schlaf bei den gewaltigen Schlägen, mit denen dieses kolossalste aller Konzerte einsetzt. Weit geöffneten Auges starrte sie auf Orchester und Solisten. Ihr Staunen wuchs, als jetzt das Thema einsetzte, ganz Mark, ganz unwiderstehlicher Entschluß. Sie hatte das Gefühl, als ob hier etwas Übermenschliches an den Pfeilern der Welt rüttelte, seine ungeheure Kraft bis zum Äußersten anspannte in diesem vergeblichen Kampf. Sie wurde mitgerissen wie in einem Wirbelwind. Ihre Augen glänzten. Sie atmete stürmisch. Bei jenen gewaltsamen, lang anhaltenden Fortes spannte sie unwillkürlich die Muskeln. Das waren die Höhepunkte dieses Titanenkampfes. Sie atmete erleichtert auf, wenn sie aus dem Tosen des Unwetters in eine jener Windstillen geriet, die mit ihrer bezaubernden Lieblichkeit das Herz des Hörers gefangen nehmen. Sie war fast ermattet, als der erste Satz beendet war, als dieses gewaltige „Ich will“ in mächtigen, geordneten Schlußakkorden sich gleichsam freiwillig zur Ruhe begeben hatte.
Und jetzt dieses himmlische Adagio. Als ob die Engel aus der Höhe das Heilig! Heilig! riefen. Sie schloß die Augen. Sie merkte gar nicht die Tränen, die langsam über ihre Wangen rollten. Ihr war, als ob sie ihre Körperlichkeit nicht mehr fühlte. Von einer inneren Seligkeit wurde sie überwältigt, gleichsam hochgehoben. „Wie kann Musik nur so rein sein“ dachte sie. „Muß hier nicht jeder Wunsch ersterben. Können solche göttliche Harmonien nicht nur einem solchen entquellen, der selber wunschlos ist, der entsagt hat?“ Plötzlich durchzuckte es sie wie ein Licht. „Ist Entsagen nicht vielleicht das Höchste?“
Jetzt setzte resolut der dritte Satz ein, um sich schnell zu jener Anmut und Heiterkeit aufzuschwingen, die nicht von dieser Welt sind. „So mag wohl einer jauchzen,“ dachte Helene, „der allem Wünschen entsagt hat.“ Wieder war ihr, als ob sie sich gleichsam aus ihrer Körperlichkeit hochhebe. Sie verharrte in einem Zustand von Verzückung, bis sie mit den letzten Schlägen des Orchesters schwer aus ihrer Sonnenhöhe herabstürzte. Armer Ikarus oder glücklicher Ikarus?
Hastig erhob sie sich. „Wir wollen gehen,“ sagte sie zu ihrem Mann.
„Es ist ja erst der erste Teil zu Ende.“
„Ich muß gehen.“
Der hatte die Tränen im Auge seines Weibes gesehen. Er verstand.
Zu Hause angelangt, sagte er plötzlich:
„Fast hätte ich es wieder vergessen. Ich wollte es Dir vor dem Konzert schon geben. Ich habe heute ein Buch bekommen, das Dich auch interessieren wird. Es geht freilich nach einer ganz anderen Richtung als der, die wir bisher verfolgt haben. Aber ich kann mir wohl denken, daß es imstande ist, manche Leere zu füllen und manch unruhiges Herz ruhig zu machen. Es lehrt die Seligkeit im Entsagen finden.“
Helene hatte anfangs gleichgültig zugehört. Bei dem Wort „Entsagen“ merkte sie auf. Nie in ihrem Leben hatte dieses Wort, dieser Gedanke als etwas sie Betreffendes ihren Weg gekreuzt und heute stellte er sich ihr zweimal entgegen. Wie eigentümlich! Neugierig blickte sie auf das Büchelchen, das ihr Mann ihr hinhielt. „Der Buddhismus“ las sie. Es kam ihr vor wie eine geheimnisvolle Botschaft von einer ihr unbekannten Seite her. „Hier heißt es umdenken,“ fuhr Savade fort. „Von all den Idealen, in denen wir bisher gelebt haben, bleibt hier auch nicht ein Stein auf dem andern. Alles stürzt hier. Aber es ist mein Weg nicht.“ Damit gab er seiner Frau das Buch in die Hand. Sie nahm es an sich, fest entschlossen, es durchzuarbeiten, sobald die geeignete Zeit sich dazu böte.
Der Prozeß hatte jetzt schon weit ins zweite Jahr hinein gedauert. Endlich erfolgte das Urteil. Der oberste Gerichtshof stieß die in erster Instanz erzielte Entscheidung um, und Helene kam endgültig in den Besitz ihres Töchterchens. In der Nacht nach diesem Tage hatte sie zum ersten Mal seit vielen Monaten einen sanften Schlaf.
Savade hatte jetzt aufs neue Gelegenheit, sich über sein Weib zu wundern. Sie selber wollte nach Java gehen und ihr Kind holen. Aber sie schien sich gar nicht übereilen zu wollen. Sie müsse erst ihre Reisevorbereitungen treffen, meinte sie. So gingen volle zwei Monate darüber hin, ehe sie sich in Antwerpen einschiffte. Vor ihrer Abreise teilte sie ihrem Mann ihren Entschluß mit, das Kind nicht mit Gewalt von Lamondt fortzureißen, sondern ihr den freien Willen zu lassen, ob sie mit ihrer Mutter gehen wolle oder nicht. „Wie brav, Helene, wie brav!“ rief Savade und umarmte sie mit jugendlicher Zärtlichkeit. „Will’s Gott, Helene, so haben wir ein frohes Wiedersehen und alles wird gut.“
„Ja, will’s Gott!“
Unbegreiflicherweise hatte sich ihrer die feste Idee bemächtigt, ihr Kind würde, reifer geworden, freiwillig die Seite der Mutter wählen.
Die Fahrt um die spanische Küste und im Mittelmeer war stürmisch. Sie hatte viel unter Seekrankheit zu leiden. Es war im Januar, als sie diese Reise antrat. Mit dem Eintritt ins Rote Meer aber begann eine köstliche Zeit. Die Milde der Luft, die Pracht der Sonnenauf- und -untergänge entzückten immer wieder aufs neue. Sie befand sich damals in einem Zustand innerer Ruhe, über den sie sich selber wunderte. Oft fragte sie sich: „Wie ist es nur möglich, daß ich alle diese Schönheiten genießen kann?“
In der Äquinoktial-Zone saß sie meist die halben Nächte allein auf dem Vorderteil des Schiffes, ließ sich von diesem lauen, starken Wind durchwehen und sah still auf die Wunder unter sich und über sich, das immer wechselnde Meeresleuchten und die stille Pracht des gestirnten Himmels. Völlig majestätisch waren diese Nächte, wenn jene mächtigen, am Horizont lagernden Gewitterballen sich schweigend ihre Grüße herüber und hinüber sandten.
Was Helene damals gedacht hat, wußte sie wohl selber nicht. Wahrscheinlich genoß sie nur die Seligkeit der Ruhe.
Um diese Zeit war es auch, daß ihr jenes Buch wieder einfiel, das ihr Mann ihr an jenem Abend nach der Musik gegeben hatte. Sie fing jetzt an, darin zu studieren und zwar in jener glücklichen Gemütsverfassung, die es ihr ermöglichte, den neuen Gedankenreihen vorurteilslos zu folgen.
So begann sie denn, sich in jene erhabene Lehre vom Leiden der Welt zu versenken. Ihr war, als ob bei jenem ehernen Satz „Alles Leben ist Leiden“ eine Saite in der tiefsten Tiefe ihres Herzens mitschwinge. Ihr Verstand erlaubte es ihr wohl, jener tiefen Lehre vom „Werden“ zu folgen, die alles, auch die eigene Körperlichkeit zu einem Wechselnden, ewig Entstehenden, ewig Vergehenden macht, zu einem Ding gleich der flackernden Flamme. Ja sie war imstande, ohne Empörung jene vom Buddha gelehrte Radikal-Kur zu prüfen und über das Ungeheuerliche derselben nachzudenken. „Alles aufgeben, allem entsagen ist freilich fürchterlich“ dachte sie. „Der Satz ‚Wer nichts Liebes hat, der hat auch nichts Leides‘ mag wohl dem Neuling empörend klingen. Aber heißt das schließlich nicht den Menschen menschlich nehmen, als Mensch dem Menschen menschlich raten? Könnte es nicht sein, daß lediglich im Meiden, im bedingungslosen Entsagen Sicherheit für den Menschen liegt?“ Sie dachte an jenen Musik abend. War ihr damals nicht das Entsagen als etwas Erhabenes, Königliches erschienen? Sie erkannte wohl, daß die Größe und Noblesse der buddhistischen Lehre darin ruhe, daß man auf Grund von Vernunftschlüssen allem, selbst seinem eigenen „Ich“ zu entsage wage, um jener gesicherten, ewigen Ruhe willen, wie sie notgedrungen folgen muß, wenn alles Wünschen und Wollen für immer ausgelöscht sind. Sie erkannte klar, daß dem eigenen „Ich“ nur entsagt werden könne, wenn nichts Ewiges, Göttliches anerkannt werde, wenn alles im Joche der Notwendigkeit liefe ohne Anfang, ohne Ende, ohne Fortschritt. War das aber richtig, wo hinaus ging es dann mit jenen Idealen, deren Dienst sie ihr bisheriges Leben gewidmet hatte? Waren sie nicht gerade das Unwandelbare, das Ewige in der Flucht der Dinge; das was sich mit fortschreitender Entwickelung der Menschheit immer klarer, immer schöner zeigte? Mit einem Wort: Waren sie nicht der Ausfluß des Göttlichen?
Ruhig, ohne Gedankenqual wog sie beide Möglichkeiten auf ihre innere Wahrscheinlichkeit hin ab. Was für Beweise gab es eigentlich für die Existenz jener Menschheits-Ideale? Waren sie nicht schließlich auch nur bedingt, Produkte unseres Gehirns und als solche hin- und herschwankend mit der Tätigkeit dieses Gehirns, gleich Schatten, die mit der Beleuchtung schwanken. Wie anders hatte sie vor Jahren auf diese Ideale geblickt, als jetzt. Wie war das aber möglich, wenn es sich um etwas wahrhaft Göttliches handelte? Sie hielt innerlich Umschau. Sie sah nirgends einen Halt, nirgends eine Sicherheit. Der wahre Glaube war nie in ihr gewesen. „So wäre ich vielleicht Irrlichtern gefolgt, Phantomen, und das Wahrhafte, die Sicherheit läge allein im Entsagen? Wie sicher muß derjenige leben, der allem entsagt hat!“ Es überkam sie plötzlich wie Klarheit, daß eine Frau, die aus dem Schutz ihrer Familie heraustritt, nur den Weg der Sicherheit, das heißt des Entsagens gehen dürfe. Ihr war, als ob sie den Grund für die Wirrnisse ihres Lebens erkenne, weil sie vorwärts gegangen wäre, zugegriffen hätte. „Ich bin schon weit auf dieser Bahn vorgegangen,“ dachte sie. „Wie wäre denn jetzt noch Abhilfe zu schaffen? — Dadurch, daß ich allem entsage, auch meinem Kinde; daß ich stehenden Fußes zurückkehre, von wo ich gekommen bin und ein Leben der Wunschlosigkeit beginne.“ Sie nickte still. „Das wäre wohl für alle das Beste, auch für Savade. Wie einfach sich alles gibt, wenn man den Mut hat zu entsagen. Ja, wenn —.“
In Batavia angekommen mietete sie sich in einem jener Hotels in der Nähe des Königsplatzes ein. Sie hatte von ihrem Zimmer die gewaltige Aussicht auf die Bergriesen der Preanger Landschaft. Auch von ihrem Zimmer in Lamondts Haus hatte sie diese Aussicht gehabt.
Sie saß den ganzen Tag in einer Art Unent schlossenheit. Zum Abend endlich nahm sie einen Wagen und fuhr hinaus zu ihrem früheren Hause. Sie ließ in weitem Bogen um dasselbe herumfahren, aber sie konnte doch gut Lamondt erkennen, der Arm in Arm mit Dora im Garten spazieren ging. Sie fühlte einen wehen Schmerz am Herzen, aber sie konnte sich nicht enthalten, wieder und wieder hinzusehen. Sie staunte, wie sehr Dora sich in diesen zwei Jahren entwickelt hatte. Sie sah aus der Ferne fast wie eine Dame aus.
In ihr Hotel zurückgekehrt, setzte sie sich an den Schreibtisch. Sie schien immer noch unentschlossen. Endlich brachte sie folgenden Brief zu Papier:
„Mein Herr!
Sie wissen, daß der oberste Gerichtshof mir endgültig das Recht auf unsere Tochter zugesprochen hat. Ich bin heute hier angelangt, um meine Rechte, wenigstens in gewissem Sinne, geltend zu machen. Denn da ich meine Tochter wahrhaft liebe und ihr Glück höher stelle als das meinige, so bin ich entschlossen, ihr die freie Wahl zu lassen, ob sie es vorzieht, mit ihrer Mutter zu gehen, oder bei Ihnen zu bleiben. Ich bitte Sie, zu diesem Zweck das Kind morgen nachmittag gegen 4 Uhr in dieses Hotel zu schicken, damit ich sie fragen kann. Denn deswegen bin ich selber von Holland hergekommen und das ist das Einzige, was ich mir ausbedinge. Ich hoffe, daß Sie mit ebenso ehrlichen Waffen kämpfen, als ich es zu tun entschlossen bin.
Noch nie in ihrem Leben war Helene so sehr in Verlegenheit gewesen, womit sie ihre Zeit hinbringen solle, als am folgenden Tage. Nach der Reistafel, die um 1 Uhr gehalten wird, legte sie sich etwas nieder. Gegen 3 Uhr hielt es sie nicht länger. Sie kleidete sich an und machte trotz der ungewöhnlichen Zeit einen Spaziergang. Vielleicht traf sie bei ihrer Rückkehr ihr Kind schon bei sich an.
Als sie wieder am Hotel ankam, sah sie tatsächlich einen Wagen im Hof stehen, der ihr der Lamondts zu sein schien. Klopfenden Herzens schritt sie schnell ihrem Zimmer zu. Sie fühlte, in der Ruhe hätte sie dieses alles gar nicht aushalten können. Das energische Sichbewegen gab ihr Kraft.
Im Vorzimmer saß die Dienerin, die mit ihrer Tochter gekommen war. Helene schritt schnell vorbei ohne abzulegen. Sie öffnete die Tür zum Schlafzimmer und flog ihrem Kinde entgegen. Aber ihr geschärfter Instinkt ließ sie schon aus der Umarmung Doras eine Unsicherheit herausfühlen. Schon in diesem Moment witterte ihr ahnendes Mutterherz, welche Antwort sie auf ihre große Frage erhalten würde. Aber sie konnte dieses nicht gleich mit dem Verstande erfassen, sich klar machen. Es stand wie etwas Ungeheures, Unbestimmtes vor ihr, an dem sie nicht hoch blicken konnte, das sie noch nichts anging.
So begann sie, nachdem die Liebkosungen und die einleitenden Fragen abgetan waren, in völliger Ruhe:
„Dora, mein Liebling, Dein Vater hat Dir gesagt, weshalb Du hast hierher kommen müssen.“
„Ja, Mama.“
Helene hatte den Arm um die Taille ihres Kindes geschlungen und sah liebreich in das zarte Gesicht mit den dunklen Augen. Es waren Lamondts Augen. Sie fühlte, daß in diesem jugendlichen Herzen kein Zug zu ihr, der Mutter hin bestand. Sie fühlte das Steife, Unnachgiebige der jungen Glieder. Sie fuhr fort:
„Hast Du schon Deinen Entschluß gefaßt, mein Kind? Willst Du lieber mit Deiner Mutter gehen, oder lieber bei Deinem Vater bleiben?“
Weinend erwiderte Dora:
„Ach, Mama, wenn wir doch alle drei zusammen bleiben könnten.“
„Du weißt ja, mein Kind,“ sagte Helene sanft, „daß das nicht möglich ist. Geliebtes Kind,“ fuhr sie nach kurzem Schweigen mit etwas zitternder Stimme fort, „ich will Dich nicht quälen. Ich weiß. Ich sehe. Aber um eines bitte ich Dich herzlich, mein Kind: Sag mir, weshalb Du Dich entschlossen hast, Deine Mutter zu verlassen?“
Und in der vollen, unbarmherzigen Aufrichtigkeit des Kindes erwiderte Dora:
„Weil Du Dir einen neuen Papa genommen hast. Papa hat sich keine neue Mama genommen.“
Wie in sich zusammengesunken stand Helene regungslos. Einen Augenblick schien es, als ob sie den Mund öffnen, auf die Worte ihres Kindes reagieren wollte. Dann drehte sie sich langsam um und verließ lautlos, wie in Gedanken das Zimmer.
Geängstigt blickte ihr Dora nach, aber sie rief nicht, sondern ließ ihre Mutter gehen. Sie wußte nicht, wohin dieselbe wollte, und wartete daher auf ihre Rückkehr, um Abschied zu nehmen. So saß sie wohl an zwei Stunden. Die javanische Dienerin im Vorzimmer schlief längst den Schlaf des Gerechten. Jetzt ging die Sonne unter. Es wurde dunkel. In ihrer Angst begann Dora zu weinen. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Denn daß sie ihre Mutter nie wiedersehen würde, wenn sie sie jetzt nicht noch einmal sähe, war ihr klar. Plötzlich ertönten laute Schritte draußen und Lamondt riß heftig die Tür auf. Mit einem „O, mein Kind!“ schloß er seine Tochter fest in die Arme. Es lag in diesen Worten die ganze Welt von Angst und Qual, die er in diesen Stunden um sein verloren geglaubtes Kleinod ausgestanden hatte.
Während dessen war Frau Savade aus den Pforten des Hotels hinausgewandert. Es lag wie ein Nebel auf der Welt, auf ihr, auf ihrem Denken. Nur durch diesen Nebel hindurch fühlte sie gleichsam wellenweise das ungeheure Weh, das sie soeben betroffen hatte.
Nachdem sie einige Zeit planlos das Europäer-Viertel durchwandert hatte, geriet sie in die javanische Vorstadt, wo diese zierlichen, sauberen Bambushäuschen aus Kokos, Areka und Bananen hervorlugen, Bilder des Friedens und der Anspruchslosigkeit.
Vor einer dieser Hütten blieb Frau Savade wie in Gedanken stehen. Die Türen des kleinen Hauses standen weit offen. Niemand war darin, auch niemand in der Nähe zu sehen, nur ein kleines Ding, das noch auf allen Vieren herumkroch, saß im Garten dicht am Rande des denselben durchfließenden Kanales.
Helene konstatierte dieses alles, als ob sie selber dabei interessiert wäre. Sie wunderte sich nicht einmal, daß sie jetzt in ihrem Schmerz Interesse für derartiges habe. Sie wurde immer nachdenklicher. „Auch dieses kleine Wurm,“ dachte sie, „hat eine Mutter. Auch diese Mutter wird ihr Kind lieben, wie eben Mütter ihre Kinder lieben, und doch macht ihr der Gedanke an das einsame Kind und den Kanal, in dem es jeden Augenblick ertrinken kann, sicher keine unruhige Minute. Mich aber würden diese Gedanken Tag und Nacht jagen und mich keinen Augenblick zur Ruhe kommen lassen. Mein Gott, sind denn alle diese Erlebnisse, diese Quälereien, diese Freuden nicht schließlich erst durch uns selbst geschaffen? Schließlich geht doch der Lebensfaden von uns allen nur geradehin von Geburt zum Tode. Und was alles machen wir daraus! — So will ich denn alles fahren lassen und mich in mich selber zurückziehen. Wenn ich mein Kind in Wahrheit liebe, was macht’s dann aus, ob es an der Seite des Vaters oder der Mutter gedeiht.“
Bei diesem Gedanken schien ihr Geist wieder in die Wirklichkeit zurückzuschnellen. „O!“ stöhnte sie leise. Jetzt erst fühlte sie klar und ungemildert die Größe des Schmerzes, den sie vorhin erlebt hatte. Den Kopf tief zur Erde gesenkt schritt sie vorwärts.
Mit der inneren Klarheit kam aber auch die Frage: Was nun tun? — Zu ihrem Manne zurückkehren? In seiner Liebe, seinem Vertrauen Ersatz für die verlorene Kindesliebe suchen? — Sie lächelte bitter. Sie dachte an Lamondts Brief. — Warten und nach einigen Jahren an ihr Kind noch mal die gleiche Frage richten? — Sie lächelte wieder. Diesmal hatte sie eine klare Antwort bekommen. Wenn dann auch die Erwachsene aus Pflichtgefühl mit ihr ging, vielleicht auch aus Mitleid, was hatte sie davon. Sie wollte Sicherheit, Wahrheit. Einen Augenblick durchzuckte sie auch der Gedanke: „Weshalb habe ich mein Kind damals hingegeben. Ich konnte nicht hoffen, es je wieder zu bekommen. Ich hätte bis zum letzten Atemzug wie eine Löwin darum kämpfen sollen.“ Aber gleich dachte sie: „Was sollte mir das Halbe. Ich wollte ja das Ganze. Ich wollte ein Kind, das mich in Wahrheit liebt. Ich wollte sicher sein, daß sie mich in Wahrheit liebt. Und jetzt! Und jetzt! Was ist jetzt sicher? Was ist jetzt wahr?“
Wie suchend ließ sie ihre Augen umherschweifen. Eine entsetzliche Angst überkam sie. Unwillkürlich schlug sie die Hände ineinander und weinerlich, fast wie ein Kind, begann sie:
„O Gott im Himmel! Ich weiß ja nicht, ob ich richtig bete, aber ich muß jetzt zu dir beten, ich muß ja! O hab’ doch Erbarmen mit mir Armseligen. Ich kann nicht mehr. Ich bin so müde. Gib mir doch nur ein wenig Ruhe.“ Sie legte den Kopf an einen Baumstamm und begann bitterlich zu weinen.
Als sie das Gesicht hob, traf ihr Auge gerade den nackten Sonnenball, der wie eine blutrote Kugel, von lodernden Wolkenfetzen umgeben auf der Erde stand. Er erschien ihr wie etwas Tröstendes und zugleich Drohendes. Starr blickte sie hinein. Plötzlich sagte sie: „In der Nähe von Utrecht liegt das Kloster zum Heiligen Herz. Die Ordnung ist streng, die Lage entzückend. Dort wird Ruhe sein.“
Sie ging schnell vorwärts, wie einer, der durch einen Entschluß gefaßter geworden ist.
In diesen Gegenden folgt die Dunkelheit fast unmittelbar dem versinkenden Sonnenball. Ehe sie zurück in das europäische Viertel kam, war es bereits ganz Nacht. Eben ging sie an einem javanischen Bambushäuschen vorbei. Gleich einem Kasten war es rings verschlossen. Nur durch einen Spalt in der Tür fiel ein Lichtschein. Aus dem Inneren aber tönten die Klänge des Gamelang, melancholisch, geheimnisvoll. Kein anderer Laut regte sich innen. Es war, als ob die ganze Hütte zu Musik geworden, ins Tönen geraten sei.
Helene blieb lauschend stehen. Sie hatte den Gamelang immer so gern gehört. Seine monotone Musik hatte etwas Beruhigendes. „Da sitzen sie jetzt,“ dachte sie, „und lauschen regungslos diesen Klängen. O, sie sind wie die Könige. Ein wunschloses Herz ist ein großes Ding.“ Lange stand sie in Gedanken. Endlich sagte sie leise: „Es ist so! Ich bin falsch gegangen.“
Auf der Brücke, die über den großen Kanal führt, blieb sie wieder stehen. Ihr Auge traf drüben eine Villa, in deren hell erleuchteten Räumen Leute sich bewegten. In diesem Moment fiel wieder ein Gedanke an Lamondts Villa und an ihr Kind in ihr Herz wie der Sonnenstrahl in das unbedeckte Auge. Sie zuckte körperlich zusammen. Ein Gefühl jener großen Öde überkam sie, die ein Mensch nicht ertragen kann. Heimlich, kühl kroch der Gedanke hoch: „Ich kann ja gar nicht mehr leben.“ Sie lehnte sich mit beiden Ellenbogen auf das Geländer, wie einer, der in Ruhe über etwas nachdenken will. Nach einiger Zeit bemerkte sie, daß sie das Wasser unter sich fixiere, das in der Dunkelheit als gleichmäßig schwarze Fläche dalag. Matt bis ins innerste Herz hinein dachte sie: „Der Weg bis zum Kloster zum Heiligen Herz ist weit. Sollte nicht da unten auch schon Sicherheit sein für mich? Aber was dann mit meiner Tochter? Wird sie nicht denken, sobald sie anfängt zu denken, daß ich in Verzweiflung fortgegangen bin? Wird sie nicht grübeln? Wird sie nicht über mein Schicksal jammern? Wird Lamondt dieses Grübeln nicht fühlen? Wird mein Tod nicht abermals ein Glück zerstören?“ Heftig schlug sie sich auf den Mund: „Schäm’ dich, Heuchlerin!“
Das verlöschende Feuer ihrer Energie flackerte noch einmal hoch auf. Es überkam sie wie eine machtvolle Sucht, vor sich selber die Probe auf die Wahrheit ihrer Gefühle abzulegen. Mit kräftigem Ruck schwang sie sich auf die breite Brüstung. Oben kam ihr der Gedanke: „Werde ich nicht sofort wieder hochtauchen?“ Das Wasser war ihr Element. Sie lächelte fast. „Die Probe aufs Exempel!“ sagte sie leise. Ihre Augen glänzten. Sie war ganz Leben. Mit der rechten Hand raffte sie fest die Kleider zusammen, so daß sie sich eng um die Füße schnürten. Mit der Linken fuhr sie tief in den Busen. So stürzte sie kopfüber hinab. Es war nicht jener schwere, plumpe Fall, sondern man meinte zu hören, wie der Körper den Wasserspiegel durchschnitt.
Als am nächsten Morgen die Leiche unterhalb antrieb, hielt die rechte Hand noch krampfhaft die Kleider umklammert. Die Nägel der Linken aber hatten sich so tief in die rechte Brust gegraben, daß sie nur mit Mühe zu lösen waren.
So starb Helene van Hoeven, weil sie die Wahrheit falsch gesucht hatte. Denn wer die Wahrheit im Bejahen, im Verlangen, im Zugreifen sucht, der sucht sie falsch. Wer sie aber so sucht, der gleicht dem Menschen, der das Messer bei der Schneide faßt: er verletzt nur sich selber.