Von Ernst Eckstein

Erstes Kapitel.

Das Städtchen Clatou, einige Meilen von St. Quentin gelegen, erfreute sich un-ter dem milden Scepter seines Bürgermeister seit undenklichen Zeiten eines blühenden Wohlstandes und einer Höhe der geistigen Cultur, um die es von der Gemeinde Ulrichstein im hessischen Vogelsberge ohnstreitig glühend beneidet worden wäre, wenn sich der Ruf von seiner Existenz überhaupt bis über die Grenzen des Departements verbreitet hätte. Aber die Clatounesen waren von der Giltigkeit jener altgriechischen These, die den Ruhm für eitel Wind erklärt, so aufrichtig überzeugt, daß sie in keiner Weise nach irdischem Glanze hasch-ten, sondern schlicht und recht in den Tag hinein lebten; wiewohl ihre Verhältnisse ihnen reichlich gestattet hätten, alle vier Wochen eine lobende Erwähnung im »Figaro« zu bezahlen. Still und zurückgezogen pflagen sie ihrer Privatangelegenheiten und kümmerten sich weder um die aufregenden Dispute des Pariser Corps Législatif, noch um die politischen Schachzüge Beust’s und Bismarck’s. Der Name Jules Favre’s war kaum jemals über die Lippen eines Clatounesen gekommen, und von der Neugestaltung Deutschlands hatte nur Herr Clamard, der Maire, eine chaotisch dämmernde Vorstellung. Kurz, Clatou, das weise und gerechte Städtchen unweit von St. Quentin, trug keine Schuld an dem schändlichen Friedensbruch, den Frankreich so theuer bezahlen sollte …

Im Laufe der sechziger Jahre zweigte sich von Clatou eine kleine Colonie ab.

Die neue Gründung nannte sich Gressinet. Sie blieb zwar mit der Mutterstadt in regem Wechselverkehr, allein schon nach kurzer Frist entwickelten sich im Schooße der Tochter jene Emancipationsgelüste, die vor einem Jahrhundert auf der westlichen Erdhälfte die Losreißung Nordamerika’s von England zur Folge hatten …

Ahmte indessen Gressinet das glorreiche Beispiel der Union nach, so befolgte Clatou – und insbesondere Herr Clamard, der Bürgermeister – die Haltung Großbritanniens und verweigerte den Rebellen jegliches Zugeständnis.

Vor allem bestritt der Maire ihnen das Recht, sich eine Gemeinde zu nennen.

»Ihr gehört zu unsrer Gemeinde,« hieß es in seinen amtlichen Manifesten, – »ihr seid mir zinspflichtig, und jede gegentheilige Bestrebung ist als ein Akt der Insurrection und des Hochverraths zu betrachten.«

Die Gressineter protestirten. Einer der ihrigen, Jules Pierrot, der ein Jahr lang als Handlungsdiener in Paris gewesen, verfaßte ein Gegenmanifest, in welchem das Selbstbestimmungsrecht der Nationen nachdrücklich betont und das Axiom ausgesprochen war, daß man im neunzehnten Jahrhundert nach anderen Grundsätzen regieren müsse, als im fünfzehnten.

Diese Phrase vom neunzehnten Jahrhundert mußte den Maire in der tiefsten Tiefe seines amtlichen Bewußtseins verletzt haben, denn er antwortete in einem neuen Erlaß, es komme hier durchaus nicht auf den Unterschied zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit an, wie von gewisser Seite heuchlerischer Weise behauptet werde, sondern auf die Frage, ob die Verfassung gehalten oder geb-rochen werden solle. Er, der Maire, werde dem Gesetze die gebührende Achtung verschaffen und jedermann, der es übertrete, ohne Ansehen der Person vor die Schranken der Tribunale citiren.

Die Gressineter schäumten vor Wuth. Ließ sich von jetzt ab ein Clatounese in Gressinet blicken, so wurde er von den beleidigten Patrioten dergestalt mißhan-delt, daß er für die nächsten drei Wochen arbeitsunfähig war. Zur Revanche überfielen die Clatounesen eines schönen Tages den Haupträdelsführer der Gressineter, den Handlungsdiener Jules Pierrot, mit Steinwürfen. Pierrot rettete sich nur durch die schleunigste Flucht. Ganz außer Athem, von Schweiß trie-fend wie ein gehetzter Eber, mit Staub bedeckt und am Hinterhaupte nicht un-bedeutend verletzt, langte er in Gressinet an, – eine lebendige Aufforderung zum Kreuzzug gegen die freveltrotzigen Clatounesen.

Sofort eilte er zu seinem Busenfreunde, dem Schulmeister …

Henri Jérôme Croquepeu, den die Gressineter – dem Maire von Clatou zum Trotz – aus eigenen Mitteln bezahlten, war nächst Pierrot der eifrigste und an-gesehenste Vertreter der Selbstständigkeitsidee.

Er empfing den Gesinnungsgenossen mit den Zeichen der höchsten Verwun-derung.

»Ist’s möglich, Jules? Sie haben es gewagt …? Aber das ist ja himmelschrei-end, diabolisch, infernalisch, kymmerisch!«

»Croquepeu,« erwiderte Jules mit halberstickter Stimme, indem er sich das Taschentuch auf die Wunde legte, »Croquepeu, – sieh her! Dieses Blut heischt eine furchtbare Rache! – Sprich, Schulmeister, hast du je geliebt …?«

»Wie so?«

»Hast du nie anbetend vor einem Wesen gekniet, dessen Lächeln … dessen Blicke …«

»Ah, so! Jetzt erst begreife ich, was du sagen willst. Du meinst, ob niemals Eros mein Herz berührt …? Du mußt dich deutlicher ausdrücken.«

»Nun denn … antworte mir! Wenn deine Brust niemals in heiligen Flammen stand, so fehlt dir das Verständnis für den Schmerz, der mir siedend durch alle Adern geht … Sprich, Kindertyrann!«

»Ja, Jules! Ich war achtzehn Jahre alt, – da liebte ich Eugenien, die Tochter des Dorfschmieds … Ich darf wohl sagen: auch ich war ihr nicht gleichgiltig, – aber ach! Du weißt! Die Verhältnisse … Die Umstände … Sie hat einen an-deren geheirathet …«

»Gut! So wirst du erfassen, welch ein wahnsinniger Zorn meine empfindsa-men Nerven durchtobt. Höre mich an! Ich liebe …«

»Nicht möglich? Seit wann …?«

»Seit vier Wochen. Sie ist ein Engel …! Ach, Schulmeister, ich sage dir, wenn sie einen mit ihren großen, himmelblauen Augen so über die Achsel an-sieht, – das Herz möchte einem zerspringen wie eine reife Kastanienschale! Aber leider, leider giebt es nichts Vollkommenes auf der Welt!«

»Schielt sie?«

»Du bist verrückt.«

»So findest du keine Gegenliebe?«

»Croquepeu, du wirst beleidigend …«

»Je nun, so erkläre dich näher … Überhaupt weiß ich nicht, was deine Liebe mit dem clatounesischen Attentat zu thun hat.«

»Schulmeister! Meine Geliebte vereinigt alle guten Eigenschaften des Leibs und der Seele … aber sie ist eine Clatouneserin!«

»Heiliger Antonius Paduensis! Das ist allerdings ein bedenklicher Übelstand! Und wer ist’s, Pierrot? Wohl gar Louison, die Tochter des Notars? Herr Bras-sou ist ein glühender Feind unserer Autonomie; er haßt dich als den gefähr-lichsten Verfechter unserer municipalen Rechte: nie und nimmer wird er einwilligen, daß seine Louison …«

»So laß mich doch nur zum Worte kommen, geschwätziger Ruthenfürst! Lo-uison ist mir so gleichgiltig wie dem Heiden der Sonntag. Meine Angebetete heißt Marion Leclerc.«

»Alle Götter der Ober- und Unterwelt! Die Mündel des Bürgermeisters? Pier-rot, bist du bei Troste? Da wäre noch eher daran zu denken, daß der Notar dir seine Louison gäbe!«

»Vorläufig handelt es sich gar nicht um Geben oder Nichtgeben. Alles das wird sich später finden. Marion liebt mich. Im Nothfall entführe ich sie …«

»Himmel! Das wird einen saubern Skandal absetzen!«

»Mir gleich. Zunächst aber gilt es, meine Ehre wieder herzustellen. Denke dir, Croquepeu: die Geliebte meines Herzens war Zeuge des entsetzlichen Auft-rittes! … Sie sah, wie ich fliehen mußte! O, ich hätte vor Wuth und Scham bersten mögen! – Aber die Steinwürfe ließen mir keine Wahl; sie würden mich zu Brei zermalmt haben. Begreifst du, Knaben-Despot, was es heißt, vor den Augen seiner Geliebten die Rolle eines Feiglings spielen zu müssen?«

»Ah, ich weiß es nur zu gut! Unter uns gesagt, Pierrot, – du erzählst es nicht weiter – ich bin überzeugt, Eugenie heirathete nur darum den Epicier, weil er mich einst vor ihren Blicken ohrfeigte, ohne daß ich meinerseits … Du vers-tehst! Es fehlt mir im allgemeinen nicht an Courage, aber Raoul war ein baum-langer Kerl, und so dachte ich, besser eine geringe Injurie einstecken, als sich einer tödtlichen Körperverletzung aussetzen. Aber, wie gesagt, das beklemmen-de Gefühl von damals ist mir noch sehr wohl erinnerlich … Haben sie dich auch geohrfeigt?«

»Das nicht. Allein ich mußte Fersengeld geben, wie ein Äpfeldieb, und das Hohngelächter der Clatouneserinnen verfolgte mich bis an die Grenze des Weichbildes. Man macht eine erbärmliche Figur, Croquepeu, wenn man so durch die Straßen sprengt und von den ungezogenen Gamins mit Pflaumen und Chausseesteinen geworfen wird! Ich bedarf einer glänzenden Genugthuung, sonst bin ich in den Augen Marion’s für allezeit discreditirt. Willst du mir beis-tehen?«

»Was kann ich thun?«

»Berufe die angesehensten Bürger für heute Abend in die Scheune des alten Grimmont! Ich werde ihnen den Fall vortragen und ihre Unterstützung in Anspruch nehmen.«

»Gut. Auf sieben Uhr.«

»Und nun begleite mich in die Weinstube; ich verdurste bald. Um halb zwei muß ich ins Geschäft; also laß uns die Frist benutzen! Du wirst deine Einla-dungen dringlicher vorbringen, wenn du erst ein paar Tropfen Rebenblut in den Adern spürst.«

Sie gingen zur Schenke und leerten einige Gläser auf das Wohl Gressinet’s. Dann verfügte sich Jules Pierrot, der Handlungsdiener, in sein bescheidenes Magazin, während Croquepeu von Haus zu Haus wanderte und die Bürger zu einer wichtigen Berathung nach der Scheune entbot.

Zweites
Kapitel.

Fünf Minuten nach sieben war die Versammlung vollzählig.

Pierrot ergriff das Wort und schilderte in den lebhaftesten Farben die erlitte-ne Unbill. Er forderte die Gressineter auf, diese blutige Beleidigung durch eine exemplarische Bestrafung der Mutterstadt glorreich zu sühnen.

Nach längeren Debatten faßte man den Beschluß, Clatou am nächsten Sonn-tag während der Kirche zu überfallen, dem Haupturheber des frevelhaften At-tentates die Fenster einzuwerfen und einen etwaigen Widerstand mit bewaffne-ter Hand zu bewältigen …

Das war eine verwegene Idee. Ihre Annahme läßt sich nur aus der krankhaf-ten Steigerung des intermunicipalen Hasses erklären, der bei den Gressinetern die Stimme der Vernunft völlig übertäubte. O, hättet ihr den Plan Jules Pier-rot’s verworfen! Ihr würdet ihm und euch viel Trauer und Herzeleid erspart ha-ben!

Der verhängnisvolle Sonntag kam heran. Die Glocken von Clatou hatten langsam ausgeläutet. Die gesammte Bürgerschaft – mit der einzigen Ausnahme eines lüderlichen Zecherkleeblatts und verschiedener Greise, Wöchnerinnen und Kranken – befand sich im Gotteshause. Herr Laloupon, der Geistliche, predigte über die Bibelstelle: »Selig sind die Friedfertigen –« und erging sich in eifrigen Angriffen auf die Störer der öffentlichen Ordnung. Die Clatounesen schmun-zelten, denn sie fühlten, daß Herr Laloupon auf die Gressineter stichelte.

Da zog aus den Thoren der rebellischen Colonie eine Schaar von fünfzig oder sechzig kräftigen Burschen – so ziemlich die ganze waffenfähige Mannschaft des Pflanzdorfes – und wandte sich in raschem Halbtrabe dem arglosen Clatou zu.

Nach fünf Minuten war die Mutterstadt erreicht. Jean, der alte stelzfüßige Po-lizist, wurde über den Haufen gerannt. Dann plötzlich klirrte ein Hagel von Steinen wider die Façade eines der stattlichsten Häuser der Hauptstraße, und ein lautes Hurrah des Rächercorps verkündete, daß die Salve von wunderbarster Wirkung gewesen.

Alsbald regte es sich in den Hallen der Kirche. Die Weiber und Kinder erho-ben ein klägliches Angstgeschrei. Die Männer rüsteten sich zur Gegenwehr. Die clatounesische Übermacht gestattete keinen Zweifel über den Ausgang des Handgemenges. Jules Pierrot, der unter den Vordersten war, wurde an der Kirchentreppe von einem gigantischen Schlossergesellen in Bearbeitung ge-nommen. Zu seinem wahnwitzigsten Entsetzen bemerkte er unter den Damen, die sich nach der Pforte des Gotteshauses drängten, Marion Leclerc, die Gelieb-te seines Herzens. Sie sollte jetzt zum zweiten Male mit ansehen, wie ihr treuer Cavalier von pöbelhaften Fäusten mißhandelt wurde. Jules Pierrot rang wie ein Verzweifelter; aber der Schlossergeselle war ein Hercules, legte ihn über das Knie und erteilte ihm eine Lection, wie sie Herr Croquepeu, de Schulmeister, seinen Zöglingen nicht kunstgerechter hätte angedeih’n las-sen können. Ähnlich wie dem Liebhaber Marion’s erging es den meisten Gres-sinetern; nur Wenige schlugen sich rühmlich durch und erreichten die Colonie; die Übrigen wurden schauderhaft zerwalkt und dann in Masse nach der »Violi-ne«, das heißt nach der Wache gebracht.

Herr Clamard, der Maire, rieb sich die Hände. Die Gressineter knirschten vor Schmerz und Erbitterung. Herr Laloupon, der Pfarrer, ließ ein Tedeum ans-timmen.

Drei Tage später wurden sämmtliche an dem Krawall betheiligten Colonisten mit mehreren Wochen Polizeigefängnis bestraft.

Drittes
Kapitel.

Auch dieses Leid trug dazu bei, den Zorn der Gressineter zum Paroxysmus zu steigern.

Als die Gemaßregelten die Freiheit wieder erlangt hatten, berief Jules Pierrot die Bürgerschaft des unglücklichen Pflanzdorfes zu einer abermaligen General-versammlung in die Scheune des ehrwürdigen Herrn Grimmont.

Die Eingeladenen erschienen mit mathematischer Pünktlichkeit. Drei oder vier der besiegten Sonntagskämpfer trugen noch die Spuren ihrer Niederlage in den finster blickenden Gesichtern. Über der ganzen corona civium lagerte eine düstere, unheilschwangere Stimmung.

Jules Pierrot ergriff das Wort.

»Mitbürger!« sagte er langsam und feierlich. »Die Würfel sind gefallen!«

Ein dumpfes Murmeln ging durch die Reihen der Zuhörer.

»Eine schamlose Vergewaltigung, wie wir sie in den Annalen unserer va-terländischen Geschichte nicht zum zweiten Male verzeichnet finden, hat die letzten Bande der Pietät, die uns an das verabscheuungswürdige Clatou knüpfen mochten, für alle Zeiten zerrissen!«

Lange anhaltender Applaus.

»Mitbürger!« fuhr Pierrot fort, »wir müssen Clatou moralisch vernichten …«

Athemlose Spannung.

»Es genügt hinfür nicht mehr, daß sich Gressinet eine Gemeinde nennt: wir müssen eine Gemeinde werden! Setzen wir Gut und Blut an die Erreichung die-ses glorreichen Zieles!«

»Hoch! hoch!« schrieen die Gressineter in donnerndem Chorus.

»Patrioten! Suchen wir Clatou zu verdunkeln, zu überflügeln, zu zermalmen! Clatou besitzt eine Schule mit zwei Elementarlehrern: stellen wir, dem Ty-rannen Clamard zum Hohne, drei Elementarlehrer mit je zweihundert Franken Gehalt und freiem Holz an!«

»Unterstützt! Unterstützt!« riefen drei oder vier der eifrigsten Vaterlandsfre-unde. »Ich zeichne zehn Franken!« – »Ich zwölf!« – »Ich fünfundzwanzig!«

»Aber nicht genug,« fuhr Pierrot fort, »daß wir im Punkte der Intelligenz die Clatounesen überholen müssen: es gilt auch die municipalen Institute dergestalt zu entwickeln, daß man höheren Ortes unsere Reife erkennt und, Herrn Cla-mard zum Trotz, unsere Berechtigung, als selbstständige Gemeinde aufzutre-ten, amtlich sanctionirt!«

»Sehr wahr! Hört, hört!«

»Bürger! Zu den wichtigsten Errungenschaften eines municipalen Ge-meinwesens gehört unstreitig der Besitz einer unabhängigen Feuerspritze! Schaffen wir eine Feuerspritze an!«

»Hoch! hoch!« schrieen die begeisterten Gressineter. »Es lebe Jules Pierrot! Hoch! hoch!«

»Aber eine Feuerspritze kostet ein Heidengeld!« bemerkte einer der Versam-melten.

»Das ist wahr!« versetzte ein Zweiter.

»Sehr richtig!« murmelte ein Dritter.

»Patrioten!« schrie Pierrot … »Wo es die Ehre Gressinet’s gilt, da ist keine Ausgabe unerschwinglich! Denkt euch übrigens nur einmal folgenden Fall! Die Clatounesen, von dem leidenschaftlichen Drange ihres Hasses getrieben, nahen uns eines schönen Tages mit Fackeln und Pechkränzen! Sie zünden uns ins-geheim das Haus über dem Kopfe an! … Bürger! Was soll aus uns werden, wenn wir unter sothanen Umständen keine Feuerspritze besitzen?«

»Er hat Recht! Wir sind es nicht nur unserer Ehre, sondern mehr noch unse-rer Sicherheit schuldig, nichts zu versäumen, was die schmachvollen Pläne der Clatounesen vereiteln kann! Vae victis, sagt der Lateiner! Schaffen wir eine Spritze an!«

Es war Croquepeu, der Schulmeister, der durch diesen pathetischen Mahnruf die Versammelten elektrisirte und einen neuen Sturm des Beifalls entfesselte.

»Ich bitte noch für einige Augenblicke um eure Aufmerksamkeit!«

»Reden Sie, reden Sie! Ruhe! Jules Pierrot hat das Wort! Wollt ihr still sein dahinten? Reden Sie!«

»Meine Freunde! Wir leben im neunzehnten Jahrhundert …«

»Sehr wahr! Bravo!«

»Ruhe! Ruhe!«

»Das neunzehnte Jahrhundert ist das Jahrhundert der Bildung, der Intelligenz, des allgemeinen Stimmrechts, der öffentlichen Meinung! Was aber ist der be-deutsamste Hebel der öffentlichen Meinung …«

»Die Weiber!« schrie im Hintergrund eine volltönende Baßstimme …

»Die Presse!« vollendete Jules Pierrot mit theatralischer Würde. »Ja, meine Mitbürger, die Journalistik ist heutzutag’ eine Großmacht. In Paris, unsrer heili-gen Metropole, habe ich ihren Einfluß kennen und achten gelernt. Männer von Gressinet! Gründen wir eine Zeitung!«

Lautlose Stille.

»Aha, ein Wochenblatt,« meinte endlich Goguenard, der Weinwirth … »Ich bin dabei, lieber Herr Jules!«

»Ein Journal?« rief der Krämer Léon … »Das wird amüsant. Ich mache mit, lieber Pierrot!«

»Gründen wir eine Zeitung!« sagte jetzt auch Croquepeu, indem er sich nach Möglichkeit in die Brust warf. »Clatou besitzt seit einem Jahre den ›Clatoune-ser Beobachter‹! Schaffen wir ein Organ, das die schamlosen Verleumdungen dieses ›Beobachters‹ energisch zurückweisen und der staunenden Welt zeigen kann, daß der alte glorreiche Sinn der Gressineter noch nicht ausgestorben ist, daß wir die Standarte der Wahrheit hochhalten, und die angestammten Rechte eines freien Volkes unbeugsam zu wahren wissen!«

Die Versammlung applaudirte begeistert. Man schritt zur Abstimmung. Sämmtliche Anträge Pierrot’s wurden mit großer Majorität angenommen.

Goguenard, der Weinwirth, trat an die Spitze der Spritzencommission.

Léon, der Krämer, erklärte sich bereit, die Collecte für die Schulmeister zu leiten.

Das zu gründende Journal wurde dem Antragsteller persönlich überlassen.

Es sollte vorläufig dreimal monatlich erscheinen und in St. Quentin auf Ge-meindekosten gedruckt werden.

Man setzte schließlich als Titel die geschmackvolle Bezeichnung: ›Der unver-zagte Streiter von Gressinet‹ fest und verpflichtete den Redacteur Pierrot, in jeder Nummer eine eclatante Schandthat der Clatounesen dem Urtheile Europa’s Preis zu geben.

Hierauf erklärte Jules die Versammlung für aufgehoben. Jean-Baptiste Grimmont, der Älteste im Rathe, umarmte den kühnen Jüngling unter lautem Schluchzen, blickte zum Himmel auf und sprach:

»Ich danke dir, Herr, daß du mich aufbehalten hast, diese Freude noch zu erleben! Ich werde jetzt, so du gebeutst, gern in die Grube fahren.«

Jules Pierrot war sichtlich gerührt. Ein leises Zucken spielte wie Wetterle-uchten um die sonst so mannhaften Lippen.

»Ehrwürdiger Freund!« sagte er mit tremulirender Stimme … »ich thue nur meine Pflicht! Nicht an mich dürfen Sie sich wenden, wenn Sie Ihren Gefühlen Ausdruck verleihen wollen, sondern an das Volk, an die gesammte Bürgersc-haft. Wir alle sind ja von dem gleichen Gedanken beseelt, der in den heiligen Worten gipfelt: Vorwärts mit Gott für unser geliebtes, glorreiches Gressinet!«

Viertes
Kapitel.

Die Angelegenheiten der jungen Gemeinde nahmen von dieser Stunde an in der That einen Aufschwung, der den Segen des Himmels deutlich erkennen ließ.

Die Schulmeister wurden engagirt, wiewohl man den vorgeschlagenen Gehalt nachträglich auf siebzig Franken jährlich verringerte.

Die Feuerspritze wurde gekauft und in der Scheuer Grimmont’s sorgfältig untergebracht.

Die erste Nummer des ›Unverzagten Streiters von Gressinet‹ erschien in Klein-Octav und erfreute sich des allgemeinsten Beifalls. Der Leitartikel, von Croquepeu verfaßt, behandelte das mehrfach erwähnte Steinwurf-Attentat der Clatounesen unter dem pittoresken Titel: ›Wie man in Clatou das Recht freier Bürger achtet!‹; – während Jules Pierrot unter der Rubrik: ›Clatounesische Lü-gen‹ nachzuweisen suchte, daß in ganz Clatou kein vorurtheilsloser Ehrenmann lebe, und daß insbesondere die Justiz viel zu wünschen lasse.

Bereits wenige Tage nach erfolgtem Ankauf der Feuerspritze begann Gressi-net mit den Übungen.

Es war ein feierlicher Moment, als die Bürgerschaft sich vor das roth und blau lackirte Instrument spannte und vor das Dorf auf die »Gemeindewiese« marschirte, wo das erste Probespritzen stattfinden sollte.

Croquepeu dichtete aus Anlaß dieses bedeutsamen Ereignisses eine Cantate, deren Refrain also lautete:

»So fürchten wir nie des Verrathes Brand:wir spritzen für Freiheit und Vater-land.«

Unter den weihevollen Klängen einer großen Harmonika wurden die ersten Stöße geleistet. Das Pumpwerk übertraf an Promptheit und Energie alle Erwar-tungen. Diese Spritze zu bedienen, war eine Lust, eine ideale Beschäftigung, die an das freie Schaffen des gottbegnadeten Künstlers erinnerte.

Die Gressineter waren just in der besten Arbeit, als unvorsichtiger Weise Herr Laloupon, der Pfarrer von Clatou, vorüberging. Alsbald erinnerte man sich des Tedeums, das dieser entartete Priester aus cynischer Freude über die Mißhandlung des Gressinetischen Rächercorps’ hatte anstimmen lassen. Eine diabolische Wuth bemächtigte sich aller Gemüther. Croquepeu, der die Spitze des Schlauches hielt, wechselte mit Jules Pierrot einen Blick des Verständnisses, wartete, bis der Pfarrer etwa zehn Meter entfernt war, und richtete dann den straffen Strahl mit seiner vollen Vehemenz auf die unteren Rückenwirbel des Dahinwandelnden.

Die Wirkung war colossal. Der Diener der Kirche wurde nicht nur vollstän-dig durchnäßt, sondern auch empfindlich contusionirt. Zornglühend hinkte er nach Hause und sandte alsbald dem Maire ein langes Klageschreiben, worin er um Genugthuung für die erlittene Injurie bat, Gott zum Zeugen für die fortsch-reitende Entartung des Menschengeschlechts anrief, und die Gressineter mit den Philistern und anderen heidnischen Völkerschaften verglich.

Des anderen Tages schickte der Bürgermeister zwei berittene Gensdarmen aus und ließ die Feuerspritze im Namen des Gesetzes confisciren.

Alle Reclamationen der Betroffenen blieben erfolglos. Der Maire gab zur Antwort, Gressinet gehöre zur Gemeinde Clatou, und sobald es in Gressinet brenne, werde er, Clamard, von Amtswegen für die erforderlichen Lösch-maßregeln Sorge tragen. Eine eigene Spritze sei subordinationswidrig.

Der ›Unverzagte Streiter von Gressinet‹ brachte in seiner nächsten Nummer einen Leitartikel, betitelt: ›Wo soll das enden?‹ Herr Clamard war in besagtem Aufsatze auf’s Leidenschaftlichste angegriffen. Croquepeu schloß mit der bede-utsamen Wendung: »Und so werden wir, angesichts der obwaltenden Verhältnisse, höheren Ortes das Recht suchen, das uns von maßgebender Seite in einer so durchaus nicht näher zu qualificirenden Weise verweigert wird.«

Diese Drohung des ›Unverzagten Streiters von Gressinet‹ ward noch in der-selben Woche verwirklicht.

Jules Pierrot verfaßte eine Adresse an den Sous-Préfet, die sich alsbald mit Unterschriften bedeckte.

Das ebenso klar als taktvoll gehaltene Document hob die Wichtigkeit einer municipalen Entwickelung Gressinets aufs Nachdrücklichste hervor und betonte die hohe culturgeschichtliche Bedeutung gut organisirter Lösch-Apparate. Dann ging die Adresse auf den speciellen Fall ein und erhärtete mit allen Mitteln der Logik, daß Herr Clamard, der Maire, sich eines Gewaltstreiches schuldig ge-macht habe, um dessen geneigte Abstellung man um so dringender bitte, als bereits die Presse anfange, die Angelegenheit in unangenehmer Weise zu interp-retiren. Die Ehre Gressinet’s erheische eine schleunige und glänzende Satisfac-tion.

Leider hatte der Unterpräfect eine Nichte der Schwägerin des angeheirateten Onkels des Bürgermeister zur Frau.

Die Petition wurde zurückgewiesen.

Man wandte sich nun mit einer neuen Beschwerde an den Präfecten.

Leider war der Präfect ein Duzbruder des Unterpräfecten.

So machten denn die Gressineter abermals Fiasco.

Das journalistische Organ der jungen Gemeinde führte indeß nicht umsonst den Titel: ›Der unverzagte Streiter‹! Die wackern Bürger ließen sich durch das mehrmalige Fehlschlagen ihrer Hoffnungen nicht abschrecken.

Es war seit einiger Zeit das dunkle Gerücht nach Gressinet gedrungen, Napo-leon III. und sein Gouvernement seien liberal geworden.

Die Gressineter wußten zwar nicht genau, was sie sich unter diesem ›Libera-lismus‹ zu denken hatten, aber eine instinctive Ahnung sagte ihnen, Liberalis-mus sei etwas Ähnliches wie Liberalität; und da überdies Jules Pierrot ver-sicherte, in Paris sei jeder anständige Mensch liberal und der Kaiser folge nur dem Gebote der öffentlichen Meinung, wenn er sich gleichfalls zum Liberalis-mus bekehrt habe, so beschloß man, die Sache bis aufs Äußerste zu treiben und in Angelegenheiten der Feuerspritze eine Adresse an Se. Excellenz den Minister des Innern aufzusetzen.

Am 14. Juli 1870 ging also ein recommandirtes Sendschreiben nach Paris ab. Nachschriftlich war dem Document die Bitte um recht baldige Erledigung bei-gefügt, da es ja leicht einmal in Gressinet brennen könne, und die Bürgerschaft alsdann in die größte Verlegenheit gerathen würde, wenn keine Spritze zur Hand sei.

Die Patrioten warteten von Tag zu Tag, aber es kam keine Antwort. Wohl aber erschreckte sie eines schönen Morgens die Nachricht, daß der große Sta-atsmann Emil Ollivier an Preußen den Krieg erklärt habe.

»O weh,« sprach Croquepeu, als er am Abend nach dieser verhängnisvollen Botschaft mit Jules Pierrot in der Weinschenke des würdigen Goguenard saß, »da sieht’s schlecht aus mit unserer Petition! Die Herren in Paris werden jetzt an größere Dinge zu denken haben, als an Gressinet und die Feuerspritze.«

»Pah,« erwiderte Goguenard, »haben wir nicht ausdrücklich um rasche Er-ledigung gebeten? Es ist ja doch wahrhaftig keine große Mühe, ein ›Geneh-migt‹ an den Rand zu schreiben, und das Ding auf die Post zu geben.«

»Goguenard, Goguenard, ich verstehe mich besser auf diese Späße. Unsere Spritze ist für immer zu den Todten geworfen.«

»Unsinn! Wie lange wird denn der Krieg dauern! Die paar Kosacken nehmen wir auf den kleinen Finger. Nun, und wenn sie erst wieder Frieden gemacht haben und die rothen Bänder vertheilen, hernach wird auch unsere Spritze erle-digt. Man muß die Geduld nicht verlieren. Nicht wahr, Herr Jules?«

»Hm, hm,« versetzte Jules Pierrot, – »ich glaube zwar auch, daß wir in höchstens vierzehn Tagen Preußen so ziemlich erobern werden, aber mit dem Friedenschließen geht’s nicht immer so glatt, wie man denkt. Als ich in Paris war, da schlugen sich die Deutschen drüben über dem Rhein. Nun, die Gesc-hichte hat auch nicht lange gedauert, was die eigentliche Kriegführung betraf; aber bis alles wieder im Reinen war, ist doch manches Quart die Seine hinun-tergeflossen. Ich meinestheils wäre der Ansicht, wir warteten gar nicht ab, was das Ministerium beschließt, sondern holten uns die Spritze auf eigene Faust.«

»Das ist ein Gedanke!« rief Croquepeu. »Weiß Gott, Jules, du hast mitunter prächtige Einfälle! Wo steht die Spritze?«

»Im Hinterhofe des Maire,« versicherte Goguenard. »Aber schwer wird sie zu kriegen sein. Der Hof ist ummauert und vor der Thür liegt ein Schloß, das seine vier Kilogramme wiegt. Nein, Kameraden, so wird nichts ausgerichtet!«

»Nicht heute, nicht morgen, aber vielleicht in einigen Wochen,« erwiderte Jules mit Würde. »Ich will euch was sagen. Es gilt hier vor allen Dingen, die richtige Gelegenheit auszukundschaften. Ich will spioniren.«

»Aha!« schmunzelte Croquepeu mit einem verständnißreichen Augenzwin-kern.

»Goguenard,« sagte Jules, »da Sie uns eigentlich auf diese Idee gebracht ha-ben, so sollen auch Sie erfahren, was ich bis jetzt nur meinem vertrautesten Freunde, dem hier anwesenden Schulmeister Henri Jérôme Croquepeu mitget-heilt habe …«

Der Weinwirth horchte auf.

»Ja, Meister Goguenard,« fuhr Jules mit geheimnisvoller Betonung fort, – »ich bin der Mann, der die Verhältnisse in dem Clamard’schen Hinterhofe gründlich in Augenschein nehmen und den geeigneten Moment der That mit Zuverlässigkeit berechnen kann. Sie sind discret, Goguenard …«

Der wackere Bürger legte zur Betheuerung seiner Verschwiegenheit die rech-te Hand in die Herzgrube.

»Nun denn …« flüsterte Jules, »ich bin der Verlobte der schönen Marion Leclerc …«

»Nicht möglich!« rief Goguenard. »Sie, Herr Jules, der feurigste Patriot, der glühendste Gegner der Clatounesen, der … wie soll ich nur sagen … Sie, der Chef der ganzen Agitation …«

»Liebster Freund,« versetzte Jules bedeutungsvoll, »es giebt Angelegenheiten, in denen die Parteiunterschiede aufhören. Nehmen sie z. B. einmal an, die Preußen trügen über unsere glorreichen Heere den Sieg davon …«

»Pah!« lachte Goguenard.

»Nun natürlich, es ist nur eine Annahme! Aber gesetzt den Fall … die feind-lichen Armeen überschwemmten unser Departement … Glauben Sie, daß im Angesicht des gemeinsamen Gegners der Zwist der Gressineter und Clatounesen fortbestehn würde? Goguenard! Ich bin Gressineter mit Leib und Seele! Sie kennen meine Thaten, – ich brauche daher keine überflüssigen Worte zu mac-hen! Aber so unversöhnlich wir auch die verrätherischen Bewohner von Cla-tou hassen – eins werden wir doch nie und nimmer vergessen: sie sind Franzo-sen! Gegen die Bajonnete der Preußen würden wir selbst die Clatounesen bis auf den letzten Mann vertheidigen. Habe ich Recht?«

»Ohnstreitig!« rief Croquepeu begeistert, während er das volle Glas zum Mund führte.

»Wenn’s die beiden Herrn sagen, dann muß es wohl wahr sein,« versetzte Goguenard nachdenklich …

»Nun, sehen Sie wohl: wie’s im Krieg ist, so ist es auch mit der Liebe. Amor fragt nicht lange, ob sein Gegenstand diesseits oder jenseits der Gemarkung wohnt. Kurz und gut, Marion ist meine Braut …«

»Aber ihr Vormund?« fragte Goguenard mit hochgezogener Braue.

»Das ist’s eben!« erwiderte Jules. »Just mit Rücksicht auf den Herrn Maire habe ich diese Gelegenheit benutzt, um Sie in mein Geheimniß einzuwei-hen …«

»Wie so?«

»Hören Sie mich an. Ich schleiche mich jeden Mittwoch und jeden Sonna-bend als Fuhrknecht verkleidet nach der Mairie und verplaudere ein Stündchen mit meiner Herzallerliebsten. Der Alte ist dann nicht zu Hause, und Marion weiß es stets so einzurichten, daß mir auch im Treppenbau niemand begegnet. Von ihrem Fenster aus kann man den Hinterhof überblicken. Wenn ich mich bis jetzt gehütet habe, hinauszugaffen, so geschah dies aus leicht begreiflicher Vorsicht. Jetzt, da ich weiß, welche Interessen auf dem Spiele stehen, werde ich die Sache riskiren und die Verhältnisse auskundschaften. Die Feuerspritze von Gressinet wird gerettet werden, und Sie, Meister Goguenard, sollen die Lorbeeren des glorreichen Unternehmens unverkürzt einheimsen.«

»Mit Vergnügen! Ich bin zu allem bereit. Gressinet geht mir über Leib und Leben.«

»O, es ist keine Gefahr vorhanden,« fuhr Jules fort. »Wenn Sie sich an die Spitze von vier, fünf geriebenen Burschen stellen, so wird es Ihnen ein Leichtes sein, die Angelegenheit zum gewünschten Ziele zu führen. Ich meinestheils verzichte auf jeden Ruhm. Sie, lieber Goguenard, Sie allein werden den Gres-sinetern das geraubte Kleinod zurückerobert haben.«

»Das läßt sich hören. Sie sind in der That ein großmüthiger Charakter, Herr Jules.«

»Nicht wahr, Croquepeu,« sagte Pierrot eifrig, »die Perspektive, die ich da unserem trefflichen Weinwirth eröffne, darf geradezu als glänzend bezeichnet werden?«

»Als kymmerisch, als phänomenal,« bestätigte der diensteifrige Schulmeister.

»Das wäre denn abgemacht!« rief Jules. »Und nun, mein wackerer Go-guenard, bitte ich Sie um einen Gegendienst!«

»Reden Sie!«

»Marion’s Vormund, der Tyrann von Clatou, ist natürlich mir vor allen Gres-sinetern spinnefeind …«

»Das gereicht Ihnen nur zur Ehre, Herr Jules.«

»Er wird mir das Mädchen nie und nimmer gutwillig zur Frau geben …«

»Das glaub’ ich selbst.«

»Aber Marion liebt mich, und mein Entschluß, sie zu heirathen, steht so fel-senfest, daß kein Himmel und keine Hölle ihn erschüttern werden.«

»Löblich, sehr löblich, Herr Jules.«

»Da ich nun das Ziel meiner Wünsche auf dem gewöhnlichen Weg nicht er-reichen kann, da eine friedliche Vereinbarung nicht möglich ist –«

»So machen Sie’s wie der Kaiser und erklären den Krieg!«

»So ist’s! Ich werde Marion entführen.«

»Alle Wetter!«

»Ja, würdiger Weinverzapfer! Ich bin nicht gesonnen, demüthig den Nac-ken zu beugen und zu entsagen, wo der Kampf mir die Krone verschaffen kann. Marion hat bereits eine Ahnung von meinem Vorhaben … Ich zweifle nicht, daß sie mir folgen wird, – folgen – folgen – bis an das Ende der Welt.«

Jules Pierrot streckte den rechten Arm aus, um anzudeuten, wie unendlich weit Marion ihm folgen würde. Goguenard nickte bedächtig mit dem röthlich schillernden Haupte, während Croquepeu von neuem das Glas zum Mund führte.

»Und was kann ich bei dieser Angelegenheit thun?« fragte der Weinwirth nach einer Pause.

»Hören Sie weiter,« versetzte Jules. »Ich werde also Marion aus dem Kerker der Mairie mit Gewalt befreien, und zwar in derselben Nacht, in welcher Sie, an der Spitze Ihrer Getreuen, die Feuerspritze erobern …«

»Und da soll ich das Mädel wohl auf die Spritze setzen?« fragte Goguenard im Ton eines Mannes, dem eine bedeutsame Idee aufdämmert.

»Unsinn! Marion wird mit der Expedition, die Sie commandiren, nicht in die mindeste Berührung kommen. Ich besorge die Entführung meiner Geliebten auf eigene Faust. Nein! Sie sollen dem reizenden Kind ein Versteck gewähren. Ihre Frau ist klug und verschwiegen; es wird ihr ein Leichtes sein, die Kleine so lange zu verbergen, bis der Bürgermeister seine Einwilligung gegeben hat. Ist Marion erst in Sicherheit, dann werde ich Herrn Clamard schon auftrumpfen. Das Spiel ist dann so gut wie gewonnen.«

»Mein Haus steht Ihnen und Ihrer Dame jederzeit zur Verfügung,« erwiderte Goguenard, indem er Herrn Jules freundschaftlich die Hand reichte. »Sobald der Moment gekommen ist, winken Sie! Ich werde die Feuerspritze im Sturm nehmen und Fräulein Marion so meisterhaft verstecken, daß alle Häscher des Tyrannen von Clatou nicht im Stande sein sollen, das Geheimnis zu enträthseln.«

»Ich danke Ihnen, Goguenard! Also es bleibt dabei! Vorwärts mit Gott für Freiheit und Gressinet!«

»Und Marion Leclerc!« ergänzte der Wirth mit einem vielsagenden Lächeln. »Erst freilich kommt der Patriotismus – aber gleich dahinter folgt Amor! Nicht wahr, Verehrtester? Die Liebe glüht fast ebenso heiß wie das Pflichtgefühl?«

»Sie sind ein kleiner Schwerenöther!« sagte Jules, indem er sich erhob. »Komm, Croquepeu, wir haben heute genug geleistet! Laß uns den Rest des Abends unserm Journal widmen!«

Croquepeu leerte sein Glas, hing seinen Arm in den des Handlungsdieners und verließ in bedenklichem Menuetschritt die Schenke des würdigen Go-guenard, der artig sein Käppchen lüftete und seinen scheidenden Gästen und Gesinnungsgenossen ein lebhaftes »Auf Wiedersehn!« nachrief.

Fünftes
Kapitel.

Mehr als zwei Monate waren verflossen. Der große Tag von Sedan hatte das übermüthige Frankreich belehrt, daß man nicht ungestraft mit dem Glück einer friedlichen Nation spielt. Unaufhaltsam drangen die siegreichen Heere der De-utschen vorwärts. Paris, die Metropole, in deren Schooß das frevelhafte Unter-fangen der Kriegserklärung herangereift war, Paris, die eigentliche Urheberin des fluchwürdigen Verbrechens, war bereits von dem ehernen Ringe der Bela-gerung vollständig umzingelt. Immer neue Heeresmassen wälzten sich von Os-ten her über das unglückliche Land, das seinen Übermuth nun so furchtbar zu büßen hatte. Fast jeder Tag brachte die Nachricht von einem neuen Erfolge der deutschen Waffen. Wo der Adler der Hohenzollern sich zeigte, da zerstoben die demoralisirten Schaaren der Gallier wie Spreu vor dem Winde und trugen die blasse Angst und das zitternde Entsetzen weiter in die Reihen ihrer zagenden Brüder. Ganz Frankreich befand sich in einem Zustande der Aufregung, der Wuth, der Verzweiflung, dessen düstere Färbung nur mit der Feder eines Dante nachgemalt werden könnte.

Auch Gressinet fühlte sich zum ersten Male als Mitglied eines großen geme-insamen Vaterlandes und schrie mit Jules Favre: »Keinen Fuß breit unseres Bodens! Keinen Stein unserer Festungen!« Der ›Unverzagte Streiter von Gres-sinet‹ beschäftigte sich eifrig mit der Frage, was zu thun sei, wenn man die Preußen wieder über den Rhein getrieben habe, und verfocht die Ansicht, man müsse sich mit der Annexion der bayerischen Pfalz begnügen, da eine Erobe-rung preußischen Gebietes zu erneuten Kriegen Anlaß geben würde. Ja, Croqu-epeu ging schließlich so weit, den Verzicht auf jede Grenz-Erweiterung zu empfehlen, und die Entrichtung einer Kriegsentschädigung von acht Milliarden als diejenige Bedingung zu bezeichnen, deren Erfüllung den besiegten Barbaren am leichtesten fallen würde. Dem bekannten Sprüchworte von den goldenen Brücken zufolge, müsse er als echter Patriot immer wieder auf diese acht Milli-arden zurückkommen. »Frankreich,« so schloß Croquepeu eines Tags wörtlich, »ist das Land der Großmuth par excellence! Zeigen wir dem staunenden Eu-ropa, daß wir trotz der schmachvollen Übergriffe unserer Feinde diese unsere Nationaltugend nicht verlernt haben!«

Bildeten indeß die kriegerischen Ereignisse einen hochwichtigen Faktor in den Materien des ›Unverzagten Streiters von Gressinet‹, so ward um dieser äußeren Angelegenheit willen das Innere des Gressineter Gemeinwesens kei-neswegs von der Tagesordnung verwiesen. Im Gegentheil. Die municipale Feh-de mit Clatou wogte jetzt lebhafter denn je. Der ›Unverzagte Streiter‹ beha-uptete, es sei ein evidenter Mangel an Vaterlandsliebe, wenn der Maire sogar im Angesichte des Feindes sich weigere, die Selbstständigkeit Gressinets anzu-erkennen und die Feuerspritze herauszugeben; – während der ›Clatouneser Beobachter‹ die Emancipationsbestrebungen der Gressineter unter den obwal-tenden Verhältnissen zwiefach hochverrätherisch und unpatriotisch fand und die Einwohner der Colonie als »Spione Bismarck’s« verdächtigte …

– – Jules Pierrot hatte bisher vergeblich auf eine günstige Gelegenheit zu der geplanten Doppel-Eroberung gelauert. Hundertmal fragte Goguenard, ob er noch nicht »marschiren« könne, und hundertmal erwiderte Jules achselzuckend: »Noch nicht, aber bald!«

Jetzt endlich schien der entscheidende Augenblick gekommen …

Es war am 29. September, Abends neun Uhr. Herr Clamard, der Bürgermeis-ter, war in Amtsangelegenheiten nach St. Quentin gereist; sein Adjunkt lag an einem Bronchialkatarrh ernstlich darnieder; der Schreiber war bei dem Notar Brassou zur Kindtaufe geladen; und der Bureaudiener konnte als taub und al-tersschwach nicht in Betracht kommen. Die Haupt-Persönlichkeit, die bis zur Stunde die Pläne der Gressineter vereitelt hatte, Fanchon, die pflichttreue Köchin, war des Tags zuvor ihres Amtes entlassen worden. An ihrer Stelle fi-gurirte jetzt eine alte Bäuerin, Namens Marguérite, die sich vermittelst eines Hundert-Sousstücks überreden ließ, die Schlüssel zum Hinterhofe herauszuge-ben und die Expedition Goguenards gewähren zu lassen.

Die Glocken von Clatou hatten also, wie gesagt, die neunte Abendstunde ver-kündigt. Die Einwohnerschaft des Städtchens dachte allmählich an’s Schlafen-gehen. Die Nacht war düster und wolkig. Über der ganzen Landschaft lagerte es wie die Vorahnung bedeutsamer Ereignisse.

Da traten aus der Weinschenke des Bürgers Goguenard sieben Männer ins Freie.

Sie trugen blaue Blousen und niedrige Mützen mit kurzen Schildern aus grün lackirtem Leder. Ihre Züge athmeten eine unverkennbare Entschlossenheit.

Sie wandelten schweigend nach der »Gemeindewiese«. Dort angelangt mach-ten sie Halt und schüttelten sich, wie zur Erneuerung eines brüderlichen Bun-des, die Hände.

»Patrioten,« sagte Jules Pierrot, »ich überlasse euch jetzt dem Commando di-eses trefflichen Weinwirths! Gressinet erwartet, daß Jedermann seine Pflicht thue!«

Ein beifälliges Murmeln flog durch die Reihen der Verschworenen.

»Ich gehe voran,« fuhr Pierrot fort, »und sorge dafür, daß ihr die Pforte of-fen findet. Nach gelungener That treffen wir uns wieder hier auf der Gemein-dewiese!«

»So sei es!« flüsterten die entschlossenen Blousenmänner.

»Also auf Wiedersehn!«

Jules eilte hastig von dannen.

»Es ist noch früh,« sagte Goguenard, als der Handlungsdiener im Dunkel des Septembernebels verschwunden war. »Vor zehne dürfte es kaum rathsam ersc-heinen, ans Werk zu gehen.«

»Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf,« versetzte Croquepeu, »so würde ich vorschlagen, die Sache auf Mitternacht zu verschieben. Unserm Pier-rot wird bei seiner Marion die Zeit wohl nicht allzu lang werden, – und übert-riebene Vorsicht ist stets besser als Leichtsinn.«

»In der That,« meinte ein Anderer, »es wäre äußerst fatal, wenn wir vorzeitig entdeckt würden. Haben wir die Spritze nur einmal aus Clatou heraus, dann wollen wir schon dafür sorgen, daß sie den Clatounesen nicht wiederum in die Hände fällt. Aber ein ungelegener Allarm, ehe die Eroberung vollbracht ist, – und alles ist unwiderruflich verloren. Bedenkt, Brüder, was auf dem Spiele steht!«

Nach langem Hin- und Herreden wurde dieser Antrag genehmigt. Da man indeß keine Lust verspürte, die Geisterstunde unter freiem Himmel zu erwar-ten, so kehrte man in die Goguenard’sche Weinschenke zurück und becherte, bis die Kuckuksuhr über dem zinnbeschlagenen Ecktische elf rief. Dann bega-ben sich die Verschworenen in Goguenards Privatgemächer, um nicht die Auf-merksamkeit des von dem Clatouneser Maire besoldeten Polizeidieners zu erre-gen, und harrten daselbst unter begeisterten Gesprächen des ersehnten Gloc-kenschlags.

Endlich! Zu je zweien schlichen sie über die Schwelle und eilten dann geräuschlos der Wiese zu … Croquepeu hatte diesen Modus befürwortet … Von der Wiese aus nahm Goguenard mit zwei handfesten Burschen die Rich-tung nach dem südlichen Thore von Clatou, wo die Mairie lag, während Croquepeu mit den Andern von Westen her operirte.

Alles ging nach Wunsch. Die Bürgerschaft von Clatou lag ahnungslos in den Federn. Die Straßen waren wie ausgestorben. Im Vorhofe der Mairie athmete keine Seele. Goguenard war mit den Seinen zuerst am Platze. Zwei Minuten später kam Croquepeu. Die Pforte nach dem Hinterhofe stand offen. Die Verschworenen drangen ein, packten die roth und blau lackirte Feuerspritze mit einem halb unterdrückten Jubelruf bei der Deichsel und zogen sie langsam ins Freie. Nach kurzer Frist war das südliche Thor erreicht. Niemand hatte den kühnen Griff der Gressineter bemerkt. Jetzt, im offenen Felde angelangt, setzte sich die Colonne in Trab. Etwa drei Minuten lang brauste die wilde Jagd durch die neblige Dämmerung dahin, – unheimlich, gespenstisch, wie eine Schaar von ruh’losen Geistern. Dann machten sie Halt.

»Triumph, Triumph!« jauchzte Croquepeu. »Nicht fünfzig Franken nähme ich für diese beseligende Wollust des Siegesbewußtseins!«

»Bürger!« sagte Goguenard, »wir haben unsere Schuldigkeit gethan! Wir können stolz auf uns sein!«

»Aber nun schafft die Beute in Sicherheit!« mahnte Croquepeu. »Die Geschichte kann schneller entdeckt werden, als wir uns träumen lassen, und es wäre doch bitter …«

»Herr Schullehrer,« versetzte Goguenard mit Nachdruck, »jetzt, wo wir das Ding einmal haben, soll es uns eine Armee von Teufeln nicht wiederum aus den Händen reißen! Uebrigens bin ich ganz Ihrer Ansicht, daß wir das kostbare Kle-inod sofort nach dem verabredeten Versteck bringen. Hier auf der Gemein-dewiese können wir die Spritze nicht länger stehen lassen. He, Leute, – ihr Be-iden da –, ihr könntet euch vorspannen und das Symbol unserer communalen Selbständigkeit, wie der Herr Schullehrer sagt, hinüberfahren – ihr wißt ja, wohin.«

Die beiden Vaterlandsfreunde nickten, griffen zu und verschwanden mit der Feuerspritze von Gressinet hinter dem Buschwerk.

»Aber wo bleibt unser Pierrot?« fragte Croquepeu, als das Knirschen der Räder in der Ferne verhallt war.

»Hier ist er, ihr Unglückseligen!« erwiderte eine athemlose Stimme.

Es war Jules selber, der querfeldein der Gemeindewiese zueilte.

Nach wenigen Secunden stand er mitten unter den Verschworenen.

»Nein! daß ich so was erleben muß! Goguenard, Weinwirth, wo haben Sie Ihre fünf Sinne gehabt? Ich warte wie ein Narr eine, zwei, drei Stunden, aber kein Goguenard läßt sich blicken!«

»Sehr einfach …« versetzte der Angeredete.

Jules ließ ihn nicht zum Worte kommen.

»Sehr einfach!« wiederholte er in gereiztem Crescendo. »Eine schöne Ein-fachheit, die mir meinen ganzen Plan verpfuscht hat! Es ist unerhört!«

»Aber so erlauben Sie doch …«

»Und du, Croquepeu! Wahrhaftig, ich habe dich für einen zuverlässigen Menschen gehalten! Schnöde Verblendung! Nichts ist diesem Jahrhundert mehr heilig! Wir leben in der Aera des Schwindels, des Betrugs und der Dummheit …«

»Aber was ist denn passirt? Die Spritze ist in sicherem Gewahrsam. Und wo hast du deine Marion?«

»Satanischer Schulmeister, das ist es ja!« wetterte Jules im höchsten Zorne. »Lautete unsere Verabredung nicht auf halb zehn? Solltet ihr nicht erst die Spritze holen? Wollte ich nicht alsbald mit Marion nachkommen?«

»Nun, und? – Ich wiederhole dir, die Spritze ist gerettet.«

»Aber ihr habt mir durch eure himmelschreiende Unpünktlichkeit das ganze Spiel verdorben! Warum in Teufels Namen kommt ihr nicht rechtzeitig? Alles war in schönster Ordnung. Marion hatte Ja gesagt. Schluchzend lag sie in mei-nen Armen und schwur mir, sie werde mich bis ans Ende der Welt begle-iten …«

»Nun, und …?«

»Nun, ich war selig und gewärtigte in jedem Augenblick eurer Ankunft. Ich konnte doch nicht vorher durchgehen. Eine derartige Verwegenheit hätte die Rettung der Feuerspritze compromittirt, denn die alte Marguérite war zwar mit der Entführung dieses Instrumentes, nicht aber mit der ihrer jungen Gebieterin einverstanden …«

»Aber ich verstehe immer noch nicht.«

»O menschliche Beschränktheit! Wäret ihr nun gleich zur Stelle gewesen, so würde Alles wie am Schnürchen gegangen sein. Aber nein! Minute um Minute verrinnt. Ich horche: nichts! Ich lausche: nichts! Ich gucke: nichts! Absolut nichts! Nun, Marion konnte doch nicht von neun bis zwölf unausgesetzt in me-inen Armen liegen und schluchzen. Sie geht also nach dem nächsten Fauteuil und nimmt Platz. Ich nehme auch Platz. Nun fängt mir das Mädel an, zu über-legen. Sie malt sich die Folgen ihrer Flucht immer lebhafter und bedenklicher aus. Sie blickt ernst und ernster … ›Was fehlt dir, Marion?‹ frag’ ich besorgt. ›Ach nichts, liebster Jules!‹ stammelt sie verlegen und ängstlich. Immer schweigsamer starrt sie in die Ecke … Es schlägt zehn … Es schlägt elf … ›Ach, Jules, … mir ist so bange …!‹ ›Warum denn?‹ – ›Ach, Jules, was wird der Onkel sagen?‹ … Und so ach-Jült sie mir weiter, bis ich im Hof eure Tritte höre … ›Auf, Geliebte! Der Moment ist da!‹ ruf’ ich in unterdrücktem Jubelto-ne. Ja wohl! Hat sich was zu jubeln! ›Ach Jules,‹ sagt sie, ›ach Gott, ach, ich getrau’ mir’s nicht … Ach Jules, es ist Sünde! Ach, der Onkel bringt mich um … Nein, nein, ich thu’s nicht, ich thu’s nicht!‹ Vergeblich demonstrir’ ich ihr vor, daß Liebe kein Verbrechen sei; daß es sich ja nur um einen listigen Schachzug handle, der uns die Partie gewinnen solle … Sie bleibt bei ihrem ›Nein, nein, ich thu’s nicht!‹ – und damit Basta!«

»O Weiber, Weiber!« rief Croquepeu pathetisch.

»Ja, jetzt hast du gut über Weiber schimpfen, du pflichtvergessener Kinder-fuchtler! Wer ist denn an der ganzen Geschichte Schuld? Ihr! Ihr!«

»Aber wir dachten …«

»Ihr habt nichts zu denken! Ein Mann, ein Wort! Wer sich verabredet, der hat seinem Versprechen zu genügen, sonst ist er nicht werth, Bürger von Gressinet zu sein.«

»Nun, da hast du sie also sitzen lassen?« fragte der Schulmeister neugierig.

»Sitzen lassen? Wie verstehst du das? Meiner Liebe thut das nicht Abbruch. Im Gegentheil! Ich weiß die Motive des Mädchens zu würdigen …«

»Aber sagen Sie einmal, Herr Jules,« rief jetzt einer der Umstehenden, »das ist ja das erste Wort, das wir hören! Was? Sie haben mit einer Clatouneserin zu schaffen?«

»Ja, Kameraden. Hat Goguenard euch nicht heute Nachmittag in dieses Geheimniß eingeweiht? Ich autorisirte ihn.«

»Ja, er hat uns davon erzählt, aber ich dachte, es wäre nur eine Finte, um uns desto eifriger auf’s Gelingen erpicht zu machen. Nein, Herr Jules, – eine Clato-uneserin! Das ist stark für einen Patrioten.«

»Bürger, Sie reden, wie Sie’s verstehen! Aber vergeuden wir nicht die Zeit mit unnöthigem Geschwätz! Macht, daß ihr heim kommt! Der Maire ist da!«

»Was? wie? wo? ist’s möglich?« klang es im Chore.

»Ja, nicht nur möglich, sondern thatsächlich. Ihr laßt mich ja nicht ausreden. Aber wenden wir uns dem Dorfe zu. Der Tyrann könnte den Raub der Spritze noch in dieser Nacht entdecken … Es ist besser, wir sind vorsichtig …«

Die Colonne setzte sich in Marsch.

»Also,« fuhr Pierrot fort – »ich will eben Marion noch einmal bei ihrer Lie-be zu mir beschwören … da öffnete sich die Thüre, und herein tritt Herr Cla-mard, der Bürgermeister von Clatou!«

»Ha! oh! ah!«

»Ja wohl! der Bürgermeister! Ich glaube, der Schlag soll mich rühren. Wie er mich erblickt, kreuzt er die Arme vor der Brust, runzelt die Stirne und fragt mit fürchterlicher Stimme: ›Was thun Sie hier?‹ Ich stammle einige Worte der Erwiderung und platze endlich mit dem Bekenntnis heraus: ›Ich liebe Marion Leclerc!‹«

»Welcher Muth! Dem das so ins Gesicht zu sagen!« unterbrach Croquepeu den Bericht seines Freundes.

»Es fehlt mir nie an Courage,« versetzte Jules Pierrot nachdrücklich.

»Das weiß der Himmel und Clatou!« rief Goguenard.

»Nun,« fuhr Pierrot fort, »ich gesteh’ also meine Neigung … Da hättet ihr den Wütherich sehn sollen! – ›Was?‹ ruft er … ›Sie lieben meine Nichte? Ei, so machen Sie doch so schnell als möglich, daß Sie die Treppe hinunter kom-men, sonst lass’ ich Sie vor die Thüre werfen, daß Ihnen alle Knochen im Leibe knacken!‹«

»Im Leibe knacken!« wiederholte Goguenard. »Das ist eine Injurie, wie sie im Buche steht. Sie müssen den Bürgermeister belangen. Unter vier Wochen darf er nicht wegkommen.«

»Eine Injurie!« versetzte Pierrot eifrig. »Das hab’ ich auch gesagt. ›Herr Mai-re,‹ sagte ich, ›Sie reden da in einem Tone …‹ – ›Was?‹ schreit er, ›ich rede in einem Tone …? Marion, du hast’s gehört, der Spitzbube sagt, ich rede in einem Tone!‹ – ›Aber Herr Maire!‹ rufe ich, ›Ihre Nichte erwiedert meine Liebe.‹ – Umsonst! – ›Hinaus!‹ donnert er in höchster Entrüstung. ›Entweihen Sie nicht dieses Haus durch Ihre unsaubere Gegenwart! Nie werde ich meine Marion an einen Gressineter wegwerfen; lieber stecke ich sie in’s Kloster! Hinaus, wieder-hole ich, oder ich lasse Sie arretiren!‹«

»So eine Unverschämtheit!« bemerkte Goguenard heftig.

»Hat der Mensch denn kein Herz im Leibe?« seufzte Croquepeu. »Einen Lie-benden so vor der Geliebten zu verunglimpfen!«

»Das ist jetzt schon das dritte Mal!« sagte Jules, indem er die Faust ballte. »Erst die Steinwurf-Affaire, dann der Schlossergeselle, und jetzt der Bürger-meister in eigenster Person! Aber warte, verdammtes Nest! Rache!«

»Und was geschah weiter?« fragte Goguenard.

»Nun, was sollte ich thun? ›Herr Maire,‹ sagte ich entschlossen, ›hören Sie mich an! Wenn Sie mir in dieser unerhörten Manier auftrumpfen und mir in Gegenwart des Wesens, das ich mehr liebe, als Licht und Leben, so schroff die Thür weisen, und überhaupt in jeder Beziehung meine Ehre beleidigen, – wis-sen Sie was, Herr Maire, was ich dann thue? Dann überlass’ ich Sie Ihrem Gewissen! Leben Sie wohl, Herr Maire!‹«

»Nun, und?«

»Und dann ging ich.«

»Armer Jules,« sagte Croquepeu. »Aber du hast’s ihm doch wenigstens tüch-tig heimgezahlt.«

»Nicht wahr?«

»Gründlich, auf Ehre! Leider wird dir das wenig helfen. Ich fürchte, du mußt deine Flamme aufgeben.«

Jules seufzte.

»Aufgeben, Croquepeu? Geh, du hast nie geliebt! Ich gestehe dir zwar, daß ich nicht mehr viel hoffe, – aber aufgeben? Nein, Croquepeu! So lange ein Pulsschlag …«

Sie waren in Gressinet angelangt. Die Patrioten schüttelten sich die Hände, um sich zu trennen.

»Jules,« sagte der Schulmeister, »nicht wahr, du verzeihst uns, daß wir dir, ohne es zu wollen, einen Strich durch die Rechnung gemacht haben?«

»Bürger,« versetzte Jules, indem er die Rechte ausstreckte, »ich hege keinen Groll! So schwer ihr mich auch geschädigt habt, – ich vergebe euch!«

Und somit eilte er um die Ecke.

Sechstes
Kapitel.

Des andern Tages las man an allen Mauern Clatou’s und Gressinet’s folgendes Manifest:

»Einwohner!

»Ein schamloser Diebstahl ist in der Nacht von gestern auf heute innerhalb eures Weichbildes verübt worden. Die s. Z. den Gressineter Insurgenten confis-cirte Feuerspritze wurde, unter gewaltsamer Erbrechung der Pforten, aus dem Hinterhofe der Mairie entführt, ohne daß es bis jetzt gelungen wäre, der ruchlo-sen Thäter habhaft zu werden.

»Einwohner der Gemeinde Clatou-Gressinet! Dieses unerhörte Attentat auf die Gesellschaft bildet einen unauslöschlichen Schandfleck auf dem Ehrenschil-de unserer geliebten Vaterstadt! Ich fordere daher alle guten Bürger auf, das Ihrige zur Entlarvung der Missethäter beizutragen. In einem Augenblicke, wo Frankreich von einer Prüfung heimgesucht wird, wie sie in den Annalen unse-rer glorreichen Geschichte ohne Beispiel sein dürfte, erscheint ein Verbrechen wie das vorliegende doppelt verwerflich. Soll dereinst die Chronik berichten, Clatou-Gressinet habe sich die durch die feindlichen Siege hervorgerufene Verwirrung zu Nutz gemacht, um dem Gesetze Hohn zu sprechen? Einwohner! Patrioten! Die Augen von ganz Europa sind auf euch gerichtet! Duldet nicht, daß man euren guten Namen ungestraft der Verachtung aller civilisirten Natio-nen Preis gebe! Frankreich ist, so tief es auch in diesem Augenblicke darnieder-liegt, das Land der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der echten Bürgertugend. Thut das Eurige, um diesen Ruf aufrecht zu erhalten!

»Der Weinwirth Goguenard, den der dringende Verdacht trifft, um das At-tentat zu wissen, ist bereits in Haft genommen. Die unterzeichnete Behörde sieht weiteren Enthüllungen von zehn bis vier Uhr im Bureau der Bürgermeis-terei entgegen.

Der Maire von Clatou-Gressinet.

C. Clamard. †*

Für die Ausfertigung: Coquerel, Adjunkt.«

Die Clatounesen schäumten vor Wuth. Der desselbigen Abends erscheinende ›Beobachter‹ verlangte im Namen Frankreichs eine »exemplarische Züchtigung dieser entarteten Söhne des Vaterlandes« und ließ ziemlich unverblümt durch die Zeilen blicken, wen er nach so mannigfachen Antecedentien für schuldig erachten müsse …

Herr Clamard versäumte indessen nichts, was die aufgeregte öffentliche Meinung beruhigen konnte. Schon in aller Frühe hatte er, wie sein Manifest besagte, den Weinwirth Goguenard verhaften lassen. Seine zweite Maßnahme bezog sich auf den ›Unverzagten Streiter von Gressinet‹, der bereits vor mehreren Wochen unter dem Titel: »Wie löschen wir?« einen höchst bedenk-lichen Artikel gebracht hatte. Damals war jener Aufsatz nicht ernstlich beachtet worden: jetzt gewann er angesichts des heimtückischen Attentats eine sehr compromittirende Färbung. Herr Clamard suspendirte den ›Unverzagten Strei-ter‹ von Amtswegen, belegte das redactionelle Material – eine Schreibmappe, eine Scheere, ein Tintenfaß, vier Hefte Conceptpapier, drei Stahlfedern, vier Gänsekiele und ein zweiklingiges Federmesser – mit Beschlag und beauftragte die competenten Behörden mit der Einleitung eines Preßprocesses.

Nach Erledigung dieser von dem Publikum mit größter Befriedigung aufge-nommenen Präliminarien ordnete Herr Clamard eine regelrechte Haussuchung bei sämmtlichen Bürgern von Gressinet an.

»Die Spritze soll und muß wiedergefunden werden!« sprach er zu seinen Leuten … »Bedenkt, daß nicht nur die Ehre Clatou’s, sondern auch die Würde meines Amts auf dem Spiele steht! Ich werde Denjenigen, der mir die Spritze wiederbringt, zum Kreuz der Ehrenlegion vorschlagen.«

Die Leute gingen und suchten. Sie kehrten ganz Gressinet um und um. Jede Schublade wurde aufgezogen; keine Rocktasche blieb undurchstöbert; unter je-de Bettlade ward geschnüffelt: umsonst! Die Spritze war nirgends aufzutreiben.

Herr Clamard erließ ein erneutes Manifest. Er sicherte Demjenigen, der über den Verbleib des vermißten Instruments irgend welche Anhaltspunkte zu geben vermöchte, eine Belohnung von 100 Francs zu. Aber unter den Patrioten Gres-sinet’s fand sich kein Verräther. Die Spritze war und blieb verschwunden wie eine Stecknadel.

Was half es dem Herrn Bürgermeister, daß Jules Pierrot und Croquepeu wegen Aufreizung zu einer verbrecherischen Handlung je vierzehn Tage ins dunkle Verließ des städtischen Kerkers geworfen wurden?

Was half es, daß der ›Unverzagte Streiter‹ verstummt war?

Die Spritze war fort, und aller officieller und officiöser Zorn des Pascha’s war nicht im Stande, sie wieder herbeizuschaffen.

Siebentes
Kapitel.

Wochen und Monate verstrichen. Der kühne Dictator Gambetta – getreu sei-nem Grundsatze, lieber sein Vaterland zu ruiniren, als die erlittenen Niederla-gen einzugestehen – hatte den Krieg gegen die siegreichen deutschen Heere mit ebenso wenig Glück als Verstand fortgesetzt. In der Nähe von St. Quentin stand der General Faidherbe an der Spitze der sogenannten Nord-Armee den kampferprobten Truppen des General Göben gegenüber. Das ganze Departe-ment, Clatou und Gressinet nicht ausgenommen, zitterte und bebte; denn Je-dermann fühlte, daß es binnen kürzester Frist zu einem entscheidenden Schlag kommen mußte, und Frankreich hatte bereits zu oft die Wucht der deutschen Hiebe empfunden, als daß die siegesgewissen Phrasen der Delegation und ihrer Feldherren ernstlich hatten verfangen können.

Eine klare, frostige Winternacht breitete ihre sternbeglänzten Fittiche über den Erdball. Clatou und Gressinet hatten im Arme des Traumgottes ihre Zwis-tigkeiten und das Unglück ihres einst so übermüthigen Vaterlandes ziemlich vergessen. Nur zuweilen fuhr ein Clatounese jählings zusammen und stammelte schlaftrunken die heroischen Worte: »Keinen Stein unserer Festungen!« Nur zuweilen entschlüpfte einem Gressineter der selbstzufriedene Ausruf: »Sie ist gerettet!«

Der Mond schien hell; die Eiszapfen des städtischen Brunnens flimmerten fe-enhaft; breit und leer lagen die hartgefrorenen Straßen, und an den Fenstersche-iben malte die Kälte bereits in undurchsichtigen Schichten ihre phantastischen Blumen und Arabesken.

Vom Thurme Clatou’s schlug es drei … Da horch! Klang das nicht aus der Ferne wie das Grollen eines herannahenden Gewitters? Horch! Wieder und wieder erneut sich der dumpfe, unheimliche Schall; immer näher und näher wälzt sich das seltsame Dröhnen und Donnern!

Jetzt wird es in Clatou lebendig. Allenthalben blitzt Kerzenschein durch die eisbedeckten Scheiben. Hie und da öffnet sich ein Fenster, und lange, weißgek-leidete Gestalten in wallenden Zipfelmützen strecken ängstlich schnuppernd die Nasen ins Freie. Man klappert vor Frost und Entsetzen. Wilde Flüche auf Olli-vier und Napoleon III. mischen sich mit dem Schreckensrufe: »Die Preußen!«

Nach zehn Minuten ist die ganze Gemeinde Clatou auf den Beinen. Die We-iber stürzen mit fliegenden Haaren und gerungenen Händen auf die Straße. Die Männer stehen stirnrunzelnd vor den Hausthüren und gaffen in die mondhelle Nacht hinein. Jetzt naht der Wächter und bläst Alarm. Der Küster eilt nach der Kirche, um die Glocken zu läuten. Bleich wie der Tod tritt der Herr Maire auf den Balkon seines ›Palastes‹ und starrt hinunter in das rath- und trostlose Gewühl. Zwei der beherztesten Patrioten eilen vor das südliche Thor, um die Situation auszukundschaften.

In Gressinet hat sich unterdessen die gleiche Comödie aufgespielt. Jules Pier-rot und Croquepeu rennen in voller Nationalgarde-Uniform durch die Straßen und rufen die Bürger nach der Scheune des alten Grimmont. Die Weiber sch-reien ganz in derselben Tonart wie die Clatouneserinnen, und die Familienväter fluchen noch lauter als ihre Collegen in der Mutterstadt. Auch Gressinet sendet Kundschafter aus.

Inzwischen kommt das Gefecht näher und näher. Es ist eine versprengte Abtheilung französischer Truppen, die von einigen deutschen Bataillonen ver-folgt und mit jeder Minute mehr in die Enge getrieben wird. Jetzt treffen die ersten Flüchtlinge in Clatou ein. Sie bringen die Schreckensnachricht, daß ges-tern eine große Schlacht stattgefunden, die General Faidherbe verloren habe. Kaum hat man ihnen etwas Speise und Trank gereicht, als auch schon die ersten feindlichen Granaten aufs Straßenpflaster einschlagen. Alles rennt, rettet und flüchtet. Der Bürgermeister verkriecht sich in den untersten Keller der Mairie; das Verließ, in welchem der arme Goguenard noch immer von Amtswegen schmachtet, wird erbrochen, denn es ist bombenfest. Zehn, zwan-zig, dreißig Bürger leisten mit einem Mal dem erstaunten Weinwirth Gesellsc-haft. Goguenard, nicht faul, benutzt die Gelegenheit zur Flucht und langt at-hemlos in Gressinet an, wo er zwar freundlich, aber ohne Enthusiasmus empfangen wird. Die Angst lähmt alle anderen Empfindungen.

Zitternd lauschen die Patrioten aus ihren Verstecken dem stets wachsenden Schlachtlärm. Die ganze Schaar der flüchtigen Franzosen hat sich auf Clatou geworfen. Der Feind überschüttet die Stadt mit einem furchtbaren Hagel von Projektilen. Die Franzosen suchen sich zu verschanzen: ein eitles Beginnen. Nach Verlauf einer halben Stunde sind sie zum westlichen Thore hinausgewor-fen. Mit Hurrah dringen die Preußen nach. Die Soldaten Gambetta’s erkennen ihr Schicksal … In Béricourt, eine Stunde westwärts von Gressinet, werden sie umzingelt. Sie capituliren.

Clatou athmet auf. Der Kampf ist vorübergebraust. Aber, o Entsetzen! Welc-her Anblick bietet sich der erschütterten Bürgerschaft, als sie sich endlich aus den Kellern und Verließen hervorwagt! Clatou brennt! In der Mairie, im Sprit-zenhause und an drei anderen Stellen haben die feindlichen Granaten gezündet. Sprachlos begaffen die Patrioten das drohende und immer weiter um sich grei-fende Unheil. Keiner rührt sich, keiner legt Hand an, um der Flammen Herr zu werden …

»Bürger!« ruft endlich Herr Clamard, der sich in der Mitte des Marktplatzes auf einen Stuhl gestellt hat, – »Bürger! Ihr habt soeben einer dräuenden Gefahr mit einem Muthe, den die Geschichte anerkennen wird, ins Auge geschaut! Auf! Laßt uns auch angesichts dieser noch schwereren Heimsuchung nicht ver-zagen! An die Spritzen!«

»Das Spritzenhaus brennt,« erwidern die Bürger in zitternder Herzensangst.

»An die Spritzen, sage ich, im Namen des Gesetzes!«

Einige der Beherztesten eilen nach dem Spritzenhause. Wehklagend kehren sie zurück.

»Die Spritzen liegen beide in Trümmern!« rufen sie schon von Weitem. »Die Granaten haben alles kurz und klein geschlagen. Wir sind verloren.«

»Man läute Sturm!« ruft Herr Clamard im Tone der höchsten Verzweiflung … »Gott wird uns nicht verlassen, Patrioten!«

»Wenn er nur löschen wollte! Nur Einen ordentlichen Wolkenbruch! Aber bei dieser Kälte kann selbst der liebe Gott nicht regnen lassen. O heilige Jung-frau, – wie sind wir geschlagen!«

Da rasselt etwas über das Straßenpflaster. Alles blickt auf. Ein Hurrah schallt den Angstbeklommenen entgegen. »Es lebe Frankreich!« tönt es von zwanzig vaterländisch gesinnten Lippen.

… Hatte Jules Pierrot nicht einst zu Croquepeu gesagt: »Den Preußen ge-genüber sind wir alle Franzosen, alle Söhne einer großen, gemeinsamen Mut-ter!« –?

Die Gressineter bewiesen jetzt durch die That, daß dieses erhebende Wort ih-res Stimmführers keine gehaltlose Phrase war.

»Die Feuerspritze von Gressinet!« jauchzten die Clatounesen … »Rasch, rasch, ihr Wackeren, eh’ es zu spät wird!«

Majestätisch rollte die roth und blau lackirte Feuerspritze vor die Mairie. Im Nu war Wasser in Hülle und Fülle zur Hand. Die Gressineter hatten nicht um-sonst den Pfarrer von Clatou zum Ziel ihres Strahles genommen! Mit derselben Accuratesse, die damals den Diener der Kirche verunglimpfte, richteten sie nun den rettenden Schlauch in die Flammen. Ha! wie zischte und knirschte das wüthende Element unter den gewaltigen Fluthen des rastlosen Sprührohres! Wie prasselte das siegreiche Naß in die lodernden Sparren des Dachstuhls! Ei-mer um Eimer verschwand in dem ölgestrichenen Bauch der gebenedeiten Maschine, und Eimer um Eimer entlud sich in die immer schwächer werdende Glut. Ganz Clatou bildete eine einzige große Kette, die sich alle möglichen und unmöglichen Gefäße von Hand zu Hand reichte … Nach Verlauf einer Vier-telstunde war die Mairie und ein daranstoßendes Wohnhaus – die am meisten gefährdeten Baulichkeiten des schwer geprüften Städtchens – glücklich gerettet.

Inzwischen hatte das Feuer freilich an den übrigen Punkten um sich gegrif-fen, aber das Schwierigste schien überwunden … An dem isolirt stehenden Spritzenhause war wenig gelegen; die beiden Privathäuser stießen dicht anei-nander und konnten abwechselnd mit erfrischenden Güssen bedacht werden. Überdies traf jetzt aus einem der benachbarten Dörfer Hilfe ein. Nach kurzer Frist arbeitete eine zweite Pumpe an der Seite der roth und blau lackirten Gres-sineterin, und ehe der metallene Mund der Glocken die sechste Morgenstunde verkündete, beschränkte sich der Brand auf einige qualmende Scheiter, die man vermittelst der städtischen Feuerhaken vom Firste eines der betroffenen Häuser heruntergerissen hatte. Der angerichtete Schaden belief sich auf eine verhältnismäßig unbedeutende Summe: Clatou konnte mit seinen Schutzgöttern zufrieden sein.

Als die Spritze von Gressinet ihren letzten Strahl entsandt hatte, als Jules Pi-errot, vor Eifer und Anstrengung glühend, sein Taschentuch zog, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, da trat Herr Clamard, der Maire, auf ihn zu, umarmte ihn im Angesicht des versammelten Volkes und sprach also:

»Bürger der Gemeinde Clatou! Bürger der Gemeinde Gressinet! Laßt uns alle Streitigkeiten, die uns bisher trennten, in diesem erhebenden Augenblicke zu Grabe tragen! Ihr, wackere Gressineter, habt Anspruch auf unseren wärms-ten, thatkräftigsten Dank. Ich erkläre euch hiermit feierlichst, daß ich mich an geeigneter Stelle verwenden werde, um eure communale Selbständigkeit dau-ernd und in allen Punkten zu begründen. Ihr seid meiner väterlichen Obhut entwachsen. Gut denn! Wenn ihr nicht länger meine Kinder sein könnt, so laßt uns treue Freunde und engverbundene Nachbarn sein!«

Donnernder Applaus. Die Gressineter sanken sich unter Thränen der Rührung in die Arme und riefen: »Es lebe der Maire von Clatou! Es lebe Gressinet!«

»Bürger!« fuhr der Maire fort, »es ist Sitte, die Versöhnung zweier Völ-kerschaften durch das Weben zarter Privatbande so zu sagen symbolisch zu ver-sinnlichen. Bürger! Seht diesen entschlossenen, charakterfesten, patriotischen jungen Mann! Ich bin Herrn Jules Pierrot in mehr als einer Beziehung eine Ge-nugthuung schuldig. He, Marion, wo steckst du?«

Marion trat vor. Ein zierliches, pelzverbrämtes Mäntelchen umschloß die an-muthig-schlanke Gestalt mit vollendeter Grazie. Die Röthe der jungfräulichen Verwirrung lieh der ganzen Erscheinung etwas Berückendes.

»Bürger!« rief Monsieur Clamard mit immer steigendem Pathos, indem er mit der Linken die Hand seiner Nichte, mit der Rechten die des hochbeseligten Jules ergriff … »Bürger! Die jungen Leute hier lieben sich …«

»Ah!« klang es im Kreis der erstaunten Hörer.

»Seit lange verbindet sie eine ebenso innige, als tugendhafte Neigung … Wohlan, meine Kinder, im Namen des Gesetzes, ich verlobe euch!«

Jules schwamm in überschwänglichen Wonnefluten. Marion reichte ihm die Rechte und flüsterte ihm bebend vor Glück und Entzücken die Worte ins Ohr:

»Nicht wahr, Jules, ich hatte doch Recht, als ich nicht mit dir durchgehen wollte? Ist’s nicht so besser, mein Geliebter?«

Jules Pierrot antwortete nicht. Sein Herz war voll zum Zerspringen.

Der Bürgermeister hatte indessen noch nicht geendet.

»Es versteht sich von selbst, meine wackeren Gressineter,« sagte er nachd-rücklich, – »daß diese ruhmreiche Feuerspritze von jetzt ab euer unbestrittenes, rechtsgültiges Eigenthum bleibt. Wir unsererseits werden Sorge tragen, daß un-sere zerstörten Maschinen binnen kürzester Frist durch neue ersetzt werden, damit wir auf alle Fälle gerüstet sind. Möchte es recht bald einmal bei euch brennen, damit wir euren heroischen Opfermuth wett machen und den Liebes-dienst, den ihr uns geleistet habt, nach Würden vergelten können!«

»Hoch! hoch!« schrieen die begeisterten Bürgerschaaren.

»Hoch! hoch!« jauchzten die Frauen und Jungfrauen.

Der Wächter blies einen Tusch, und die Straßenjungen pfiffen auf den Fin-gern, daß dem Bürgermeister die Ohren gellten.

Seitdem lebt Clatou mit Gressinet in der rührendsten Eintracht. Marion ist die glückliche Gattin Pierrot’s. Herr Laloupon, der einst so übel mitgenommene Priester, hat die Ehe des liebenswürdigen Paares eingesegnet und mit Zugrun-delegung des ehedem in anti-gressinetischem Sinne ausgedeuteten Bibelwortes: »Selig sind die Friedfertigen!« eine ebenso ergreifende als wohlwollende Rede gehalten.

Oft noch erinnern sich die Bürger von Clatou und Gressinet jener frostigen Schreckensnacht und der schauderhaften Attake der Preußen. Wenn sie dann alles durchgesprochen und recapitulirt haben, dann nicken sie bedächtig mit den würdigen Häuptern und murmeln das altbekannte Sprüchwort, dessen Wahrheit ihnen früher nicht so recht einleuchten wollte:

»A quelque chose malheur est bon!«

Möchte es ihnen gleichwohl erspart bleiben, die deutschen Granaten zum zweiten Mal kennen zu lernen!