Ernst Eckstein

Es ist eigentümlich, wie schwer sich der Gymnasiast daran gewöhnt, das Privat-leben seiner Lehrer unbefangen und parteilos ins Auge zu fassen und in dem Manne, der da berufen ist, von der Höhe seines Katheders den Äschylus zu erk-lären und Karzerstrafen zu verhängen, ohne störende Nebengedanken den Bür-ger und Staatsbürger zu würdigen. Alles, was der Lehrer im Kreise seiner Fa-milie oder innerhalb der menschlichen Gesellschaft treibt, gewinnt für den Blick des Gymnasiasten eine absonderliche Beleuchtung, und zwar müssen wir zu unserem Bedauern konstatieren, daß diese Beleuchtung nur in Ausnahmefäl-len die einer rein menschlichen Sympathie ist. Vielmehr geht das Gymnasias-tengemüt systematisch darauf aus, jeder Handlung des Gymnasialprofessors, und sei sie die indifferenteste und naturgemäßeste, eine komische Seite ab-zugewinnen und übermütige Glossen daran zu knüpfen.

Zu den ernstesten und heiligsten Familienereignissen gehört die Vermehrung des Hausstandes durch einen jungen Sprößling. Unter normalen Verhältnissen beeilen sich sofort die Verwandten und Freunde, das höchlich erfreute Eltern-paar zu beglückwünschen, und ein Inserat im Tageblatt verkündet auch den ent-fernteren Gönnern und Gesinnungsgenossen, daß die liebe Frau Berta oder Jo-sephine ihren Gatten mit einem kräftigen Jungen überrascht habe. Wenn der Gymnasiast wirklich ein ethisch tief angelegtes Geschöpf wäre, so müßte ein derartiges Vorkommnis in der Familie des Gymnasialprofessors auf die ganze Klasse einen erhebenden und läuternden Einfluß ausüben. Aber just das Gegen-teil ist der Fall …

In Sekunda und Prima erfreuten wir uns eines Lehrers, der nur darum nicht die oben erwähnten Insertionskosten in jedem Semester dreimal zu tragen hatte, weil die Natur in diesem Punkte unüberwindliche Hindernisse aufgetürmt hat. Aber alljährlich einmal trat die beglückende Überraschung doch ein, und die ganze Klasse war dann in einer Weise demoralisiert, die mit dem Geist, wie er in einer Pflanzstätte des Schönen, Wahren und Guten herrschen soll, schroff kontrastierte.

Schon einige Wochen vor dem entscheidenden Tage raunte man sich auf allen Bänken das Geheimnis von Doktor Brömmels erneuten Hoffnungen zu. Sobald diese Tatsache für ausgemacht galt, beschäftigten wir uns während der Unter-richtsstunden Brömmels vornehmlich mit Epigrammen und Xenien, denen es oblag, unsere Entdeckung nach ihrer sittlichen, kulturgeschichtlichen und nati-onalökonomischen Seite zu kritisieren.

Eine hervorragende Rolle in diesen rhythmischen Kleinigkeiten spielte Niobe, als das Urbild eines überschwenglichen Mutterstolzes. Auch Danaos und andere mythische Gestalten woben sich zwanglos in unsere Distichen ein. Und da sich mir bei einer tieferen Würdigung der Sachlage die Erwägung aufdrängte, wie es Herrn Brömmel dereinst wohl gelingen möchte, seine zahlreichen Töchter glücklich und vorteilhaft zu verheiraten, so schuf ich, die Ereignisse antizipie-rend, eine Ballade, die mit den Versen anhub:

Herr Brömmel ist von TöchternAllmählich ganz umringt;Er denkt und sinnt und dichtet,Wie er sie unterbringt.Schon sind Amandens LockenMit zartem Grau meliert,Und Ostern wird die Jüngste,So Gott will, konfirmiert.

Im weiteren Verlauf der Dichtung schob ich nun dem unglücklichen Lehrer eine endlose Reihe von Machinationen unter, von denen keine zum erwünschten Ziele führt. Da ergreift ihn die helle Verzweiflung. Die Hände zum Zeus erho-ben, bricht er in die klagenden Worte aus:

O Herr, sieh du in GnadenAuf meiner Töchter ZahlUnd hilf mir, Allerbar-mer,In meiner Vaterqual!

Da läßt Zeus seine Donner rollen, und eine vernichtende Stimme ruft dem erschrockenen Bittsteller zu:

Was du dir angerichtet,Ertrage mit Geduld:Hast du zu viele Töchter,So bist du selber schuld!

Der Leser wird schon bei der Lektüre dieser wenigen Proben die Über-zeugung gewinnen, daß unsere Lieblosigkeit einen wahrhaft beängstigenden Höhegrad erreicht hatte. Was war indes meine Ballade gegen die Xenien Wil-helm Rumpfs oder die Vierzeiler Emanuel Boxers? Eines dieser Quatrains la-utete z. B.:

Und gibt’s ein Zwillingspaar,So sind’s der Kinder zwei;Und gibt’s noch eines mehr,So sind es ihrer drei.

Ein anderes:

Wie zärtlich strahlt dein Angesicht,Und wonnig glüht der Liebe Feuer!Doch eines, Kind, bedenkst du nicht:Das Geld ist rar, das Leben teuer.

Ein drittes griff die Sache noch ironischer und beißender an. Es lautete:

Flocken, Flocken streut der Winter,Zahllos wie der Sterne Heer,Zahllos wie der Sand am Meer,Zahllos wie Herrn Brömmels Kinder.

Oder in knapperer Form:

»Wie ist die Stadt verwaist!«Die Brömmels sind verreist.

Ja, selbst ethnographische Streiflichter blitzten aus unseren geistsprühenden Epigrammen:

»Das deutsche Volk vermehrt sich flott,Und Frankreich senkt beschämt die Fahne …«Kein Wunder das, beim ew’gen Gott!Herr Doktor Brömmel ist Ger-mane!

Unter solchen und ähnlichen Perfidien verstrich Woche um Woche, und nun ging es ungefähr, wie ich nachstehend verzeichne.

Es war etwa in der Nachmittagsstunde zwischen zwei und drei. Doktor Brömmel erging sich gerade in einer ausführlichen Darlegung der griechischen Literaturverhältnisse seit dem Tode des Euripides … Plötzlich vernahm man an der Tür des Schulsaales ein schüchternes Pochen.

»Herr Professor, es klopft!«

Über die Züge Brömmels flog ein eigentümliches Leuchten.

»So, es klopft?« sagte er mit unsicherer Stimme. »Sehen Sie einmal nach, Boxer, wer da ist.«

Boxer ging, um zu öffnen. Im Rahmen der Pforte ward das ernste Haupt des Pedells sichtbar.

»Ah, Sie sind es, Quaddler«, sagte der Professor, nur mit Mühe eine gewisse Erregung bewältigend. »Was wollen Sie?«

»Herr Professor, Ihr Mädchen ist draußen, Sie möchten doch rasch mal nach Haus kommen.«

Durch die versammelte Sekunda ging ein leises, fast unhörbares Murmeln. Boxer, der sich wieder auf seinen Platz zurückzog, streckte uns bedeutsam die Zunge heraus und zog die Brauen in die Höhe, als wollte er sagen: »Jamjam adest!« Professor Brömmel aber beauftragte den Primus, einstweilen ein Kapi-tel aus Xenophons Memorabilien übersetzen zu lassen, griff hastig nach Stock und Hut und eilte ins Freie.

Sofort bemächtigten wir uns des Pedells.

»Was ist denn los, Herr Quaddler?« riefen wir, eine naive Unkenntnis heuc-helnd. »Die Frau Professorin ist doch nicht krank geworden?«

Quaddler schüttelte unwillig das Haupt.

»Ach, die Herren Sekundaner müssen immer ihre Possen machen«, sagte er ärgerlich. »Sie werden wohl sehr gut wissen, was geschehen ist.«

»Aber wir haben keine Ahnung, bester Herr Quaddler!« riefen wir im Chor.

»Ach, gehen Sie weg, ich kenne das. Seit zwanzig Jahren bin ich Pedell, und die Herren Sekundaner haben es noch jedesmal so gemacht.«

»Das ist wohl bis jetzt in jedem Semester passiert?« fragte Boxer.

»Herr Boxer,« sagte Quaddler sehr ernst, »ich muß mir gütigst erlauben, zu vermerken, daß ich unmöglich zugeben kann, wo es sich um den Respekt han-delt, und wofern Sie immer so Narrenspossen im Kopfe haben!«

»Aber ich frage ja nur, – ereifern Sie sich doch nicht! Also es ist wirklich was Kleines?«

Quaddler wurde jetzt ungemütlich.

»Wenn Sie meinen, Sie können hier Ihren Spott mit mir treiben, so muß ich mir ergebenst zu vermerken erlauben, daß Sie gütigst im Irrtum sind. Wenn der Herr Professor zurückkommen, werde ich vermelden, was vorgefallen ist.«

»Was? Er droht?« rief jetzt eine Stimme von den hinteren Bänken.

»’naus! ‘naus!« donnerte eine zweite.

Quaddler richtete sich hoch auf.

»’naus, sagen Sie? ‘naus? Wissen Sie was, wenn Sie mir so kommen und ‘naus sagen, dann gehe ich.«

Und hiermit machte er kehrt und verschwand im Korridor.

Jetzt brach ein unendlicher Jubel los. Einer von uns bestieg den Katheder und machte seine Mitschüler in einer kurzen Ansprache auf das Wichtige und Erhe-bende des Momentes aufmerksam. Am Schluß dieser Rede betonte er die Notwendigkeit, dem gefeierten Lehrer durch eine möglichst glänzende und einstimmige Demonstration die Teilnahme der Sekunda an dem freudigen Ere-ignis recht unmittelbar auszudrücken. Nach längeren Debatten ward der Besch-luß gefaßt, Herrn Brömmel des anderen Tages bei seinem Erscheinen im Lehr-zimmer ein großes Bukett und eine ad hoc zu verfertigende lateinische Ode zu überreichen. Da wir nichts Besseres zu tun hatten, so gingen unsere berufensten Lateiner sofort ans Werk, das projektierte Festgedicht in seinen Umrissen zu Papier zu bringen. Sechs oder sieben Entwürfe gelangten zur Verlesung. Es fand sich da eine reiche Auswahl der wunderbarsten und überraschendsten Wendungen. Eine dieser Hymnen begann mit den Worten:

Praeceptori nostro caro,Viro justo ac praeclaro,Ridet Zeus haud ita raro – eine Strophe, deren Schlußwendung nicht der Grazie entbehrt. Ich selbst hatte eine tiefempfundene Ode verfaßt, die mit dem Ausrufe begann:

Iterum iterumque …

Sie wurde jedoch von der Majorität meiner Kameraden als zu karzergefährlich abgelehnt.

Des anderen Tages mit dem Glockenschlag neun trat Doktor Brömmel nicht ohne eine gewisse Befangenheit in das Schulzimmer. Sofort erhob sich der Primus von Obersekunda und streckte die Rechte wie zum Eidschwur nach der Decke. Auf dieses verabredete Signal brach die ganze Klasse in ein stürmisches Hoch aus: Hoch! und abermals Hoch! und zum drittenmal Hoch! Doktor Brömmel wußte nicht, ob er danken oder eine Untersuchung einleiten sollte. Ehe er sich jedoch über dieses Dilemma entschieden hatte, trat unser bester Redner aus den Bänken, schritt, in der Linken das riesige Bukett, in der Rech-ten die auf sauberes Velinpapier geschriebene Ode haltend, nach dem Katheder hin und begann seine Deklamation. Das Festgedicht war so eingerichtet, daß nach jeder achtzeiligen Strophe der Chor einfallen mußte, was denn auch je-desmal bestens besorgt wurde. Herr Doktor Brömmel schwankte während der ganzen Zeremonie fortwährend zwischen den verschiedenartigsten Stimmungen hin und her. Einmal biß er sich so entschieden auf die Lippe und legte die ge-ballte Faust auf die Kathederfläche, daß wir unbedingt überzeugt waren, er würde die ganze Klasse wegen Komplotts beim Lehrerkollegium anzeigen; dann aber, unseren heiligen Ernst wahrnehmend, lächelte er still vor sich hin und gedachte an Berta, die ja in der Tat, die ja wirklich, die ja genau so, wie es in dem Festgedicht hieß, sein Haus mit Freude und Segen erfüllt hatte. Im stil-len aber mochte er Gott danken, daß der ganze Umfang seines Glückes den Schülern zurzeit noch verborgen geblieben war. Hätten wir gewußt, daß sich das oben mitgeteilte Quatrain Boxers verwirklichen sollte, hätten wir geahnt, daß die Welt um zwei junge Brömmels reicher geworden war: wir würden oh-ne Zweifel zwei Redner ins Feld gesandt, zwei Oden gedichtet und zwei Bu-ketts überreicht haben, eine Huldigung, deren unverkennbare Komik die Reser-ve, mit welcher Doktor Brömmel uns jetzt anhörte, unmöglich gemacht hätte.

Nachdem unser Spruchvermelder seine Aufgabe erledigt hatte, sagte Doktor Brömmel mit gemessener Freundlichkeit: »Ich danke Ihnen. Wir wollen uns durch diesen Zwischenfall indessen nicht weiter stören lassen und unsere Arbeit da wieder aufnehmen, wo wir sie unterbrochen haben.«

Es dauerte zwei Tage, bis wir erfuhren, daß die Sonne des Brömmelschen Hauses in das Zeichen der Zwillinge getreten war. Jetzt aber kannte die Flut der Epigramme, Distichen und Quatrains keine Grenzen mehr. Boxer verfertig-te allein an zweihundert Vierzeiler, und da wir seine Aperçus in hohem Grade originell fanden, so beschlossen wir, dieselben auf gemeinschaftliche Kosten drucken zu lassen. Gedacht, getan. Jeder von uns bekam zwei Exemplare der köstlichen Sammlung: die übrigen zerschnitten wir in kleine Streifen, und zwar so, daß jedesmal ein Quatrain durch diese Teilung isoliert wurde, und verstreu-ten die eigentümlichen Bonbonzettel kurz vor dem Beginne der nächsten Brömmelschen Lehrstunde im Schulzimmer und insbesondere auf dem Kathe-der.

Brömmel erschien wie gewöhnlich mit einer gewissen Schüchternheit. Der Soldat mag noch so oft den Donner der Schlachten gehört haben: beim Beginn des Gefechts verspürt er immer ein gewisses Unbehagen, das er erst nach und nach im Laufe des Treffens bemeistern lernt.

Auf dem Katheder angelangt, bemerkte Brömmel zu seiner größten Über-raschung, daß man seinen Ehrenplatz heute in höchst eigentümlicher Weise de-koriert hatte. Er runzelte die Stirn und wollte sich eben erkundigen, »wer sich einen so witzlosen Streich erlaubt habe«, als sein Blick auf dem Namen Brömmel haften blieb, der sich in großen Buchstaben aus dem typographischen Karree einer sauber ziselierten Strophe hervorhob. Der Schulmann sah näher zu und vermochte nur mit Mühe einen Ausruf des Entsetzens zu unterdrücken.

»Sehr gut, sehr gut!« stöhnte er nach einer Weile, heftig die Nüstern blähend. »Und wer ist der saubere Kamerad, der sich dieser wohlfeilen Späße erfrecht? Er möge sich nennen, der Feigling, damit ich ihm zeigen kann, was einem solchen ehrlosen Streiche gebührt!«

In den Räumen der Sekunda herrschte lautlose Stille.

»Nun, will sich der wohl melden, der mir diese schmutzigen Wische da auf den Katheder gelegt hat? Ich frage nicht zum dritten Male!«

Über den Subsellien brütete eine unheimliche Grabesruhe. In der Tat hatten wir keine Veranlassung, der Aufforderung des Herrn Professors nachzukom-men, da er uns so energisch versicherte, zum drittenmal würde er nicht fragen.

»So!« rief Brömmel nach einer längeren Pause, furchtbar die Augen rollend; »der will sich also nicht melden? Gut! Sehr gut! So werde ich die ganze Klasse über Mittag hier behalten!«

Jetzt erhob sich auf den hinteren Bänken ein Brummen des Unwillens, dem sich bald ein sehr dezidiertes Scharren mit den Stiefelabsätzen zugesellte.

»Was? Brummen wollen Sie? Scharren wollen Sie? Kindsköpfe, die Sie sind! Ich werde Ihnen einmal einen Quartaner herauf holen, der soll Ihnen sagen, was Lebensart ist!«

Gelächter auf allen Bänken.

Jetzt riß Herrn Brömmel die Geduld. Er eilte mit großen Schritten auf Boxer zu, den er in dem begründeten Verdacht hatte, einer der Haupträdelsführer bei jedem Skandal zu sein, und rief mit Donnerstimme:

»Sie sind mir für diesen himmelschreienden Unfug verantwortlich! Entweder Sie machen mir den Schuldigen ausfindig, oder ich sperre Sie vier Tage auf den Karzer.«

»Meinen Sie mich?« lächelte Boxer mit der Unschuld eines vierzehnjährigen Mädchens.

»Ja, Sie! Ich sehe Ihnen an, daß Sie die ganze Geschichte angestiftet haben! Kein Wort mehr!«

»Aber, Herr Doktor, ich versichere Sie, daß ich keine Ahnung habe, um was es sich eigentlich handelt. Gebrummt habe ich diesmal nicht, und wegen Nichtbrummens zu brummen fällt mir gar nicht ein.«

»Lassen Sie Ihre schlechten Witze, sonst werden Sie Ihre Lage nur noch verschlimmern! Wollen Sie mir kurz und bündig gestehen, was Sie von der Sache wissen?«

»Von welcher Sache, Herr Doktor? Gebrummt habe ich nicht, denn ich sitze viel zu weit vorn, und gescharrt habe ich auch nicht, denn ich habe heut’ Stiefel an, die mir so eng sind, daß ich keinen Fuß rühren kann. Also wovon soll ich wissen?«

»Mensch, Sie verstellen sich in einer Weise, die geradezu empörend ist. Ich frage Sie, was wissen Sie über den Autor der schamlosen Pasquille, die man mir dort auf den Katheder gelegt hat?«

»Erlauben Sie einmal«, sagte Boxer, nach dem Katheder eilend. – Er las mit halblauter Stimme:

»O lieber Gott, in jedem JahrEin frisch besohltes Zwillingspaar …«

»Behalten Sie diese Dummheiten für sich, und gehen Sie auf Ihren Platz zu-rück!« schrie Brömmel mit steigender Erbitterung.

Boxer raffte die Zettel, die auf dem Katheder lagen, zusammen und steckte sie in die Brusttasche.

»Wenn Sie mir drei Tage Zeit lassen,« sagte er harmlos, »so wird es mir nicht schwer halten, den Urheber zu ermitteln. Ich gehe einfach bei allen Druc-kereien der Stadt herum und erkundige mich, in welcher Offizin diese Zettel gedruckt worden sind. Das ist das einfachste und sicherste Mittel.«

»Das werden Sie bleiben lassen«, versetzte Brömmel energisch. »Wollen Sie Ihren Impertinenzen die Krone aufsetzen und diese Sudeleien womöglich noch ins Tageblatt befördern? Geben Sie her!«

Boxer nahm jetzt die Stellung ein, die Lessing auf seinem berühmten Gemälde dem Johann Huß zuerteilt hat.

»Herr Professor,« sagte er, »das ist eine schreiende Ungerechtigkeit! Sie bed-rohen mich mit einer mehrtägigen Karzerstrafe, falls ich Ihnen den Schuldigen nicht namhaft mache, und dabei suchen Sie mir die Mittel zu entziehen, die al-lein geeignet sind, mir die gewünschte Entdeckung zu ermöglichen. Herr Pro-fessor, Sie werden entschuldigen, wenn ich mich damit nicht beruhigen kann. Ganz ergebenst bitte ich um die Erlaubnis, sofort zum Herrn Direktor gehen zu dürfen. Ich werde ihm die ganze Angelegenheit vortragen und diese Zettel zur Verfügung stellen. Der Herr Direktor mag dann selbst entscheiden, ob ich dafür verantwortlich bin, wenn andere etwas von Zwillingen schreiben. Außerdem habe ich niemals gehört, daß Zwillinge ein Schimpfwort wäre.«

Brömmel sah jetzt sehr wohl ein, daß er sich in eine Sackgasse verrannt hatte. Er wäre lieber gestorben, ehe er zugegeben hätte, daß der Direktor diese schnö-den Machwerke der mißratenen Sekundaner zu Gesicht bekäme. Was konnte es frommen, wenn die offizielle Folge einer solchen Wendung der Dinge wirklich für Boxer und Genossen verhängnisvoll ward? Privatim hätte der Direktor sich doch köstlich amüsiert und nicht verfehlt, im Klub und auf den öffentlichen Bierkellern, die er mit Vorliebe frequentierte, das Ereignis zum besten zu ge-ben, ganz abgesehen davon, daß Brömmel sich dem Direktor gegenüber selbst unter vier Augen nicht kompromittieren wollte. Der Zwist wurde also bei-gelegt, Boxers Unschuld in ihrem vollen Umfange anerkannt und von einer we-iteren Untersuchung Abstand genommen, weil, wie Doktor Brömmel sich ausdrückte, die ganze Sache eigentlich zu erbärmlich war, um ein Wort darüber zu verlieren.

»Ich bitte mir übrigens aus,« fügte er hinzu, als er wieder auf dem Katheder Platz nahm, »daß Sie die Wische da unverzüglich vernichten. Sekunda stellt sich durch solche Lächerlichkeiten ein testimonium paupertatis aus, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Haben Sie nichts Besseres zu tun, als Ihre Zeit mit solchen unlauteren Reimereien zu vertrödeln? Schämen Sie sich in Ihre Seelen hinein! Wenn Sie so fortfahren, so werden Sie über kurz oder lang mo-ralisch zugrunde gehen, – denken Sie an mich! Ohne echten sittlichen Ernst ist eine gedeihliche Entwickelung des Menschen nicht denkbar, und wenn Sie noch so glänzende Fortschritte in den Wissenschaften machen, was ich nicht gerade behaupten kann, so würden Sie doch niemals zu wahrhaften Männern heranreifen, falls der frivole Geist, wie er seit einiger Zeit in dieser Klasse herrscht, einen dauernden Einfluß behaupten sollte. Wahrlich, es ist weit gekommen, wenn nicht einmal mehr das Privatleben des Lehrers vor den Un-gezogenheiten einer charakterlosen Schuljugend sicher ist. Aber das kommt von dem oberflächlichen und leichtfertigen Lebenswandel, dem sich die meisten jungen Leute von heutzutage leider schon sehr, sehr früh zu ergeben pflegen! Es ist ein wahres Unheil, wenn sich in der Stadt, wo die Gymnasien ihr Zelt aufgeschlagen haben, gleichzeitig eine Universität befindet. Verlassen Sie sich darauf, ich werde Ihnen auf die Finger sehen! Erfahre ich jemals wie-der, daß einer von Ihnen an Zechgelagen teilgenommen hat, so lasse ich ke-ine Milderungsgründe gelten: ich trage unbedingt auf Relegation an. Es sind Leute unter Ihnen, die gar nicht wissen, was sie sich und der bürgerlichen Ge-sellschaft als Mitglieder eines öffentlichen Erziehungsinstitutes schuldig sind. Das muß anders werden. Boxer, an Sie wende ich mich speziell. Sie sind mir wiederholt als derjenige bezeichnet worden, der bei allen nichtsnutzigen Streic-hen das große Wort führt. Ich rate Ihnen in aller Freundschaft, bessern Sie sich, sonst nimmt es kein gutes Ende mit Ihnen. Wahrlich, Ihr vortrefflicher Herr Vater hat es nicht um Sie verdient, daß Sie in dieser Weise seinem Namen Unehre machen.«

Boxer erhob sich mit der Miene eines tödlich Beleidigten.

»Herr Professor,« stammelte er mit gut gekünstelter Aufregung, »das hat mir noch niemand gesagt. Und was meinen Vater betrifft, so hat er erst gestern in meiner Gegenwart geäußert, ich sei der Stolz der Familie. Ich kann das durch Zeugen erhärten, und in der Tat wüßte ich auch nicht, inwiefern ich ihm die mindeste Unehre machte. Ich habe bis jetzt noch immer die besten Aufsätze geschrieben, und meine Zensuren lauten, bis aufs Betragen, stets günstig.«

»Setzen Sie sich! Ich weiß besser, was Ihr Herr Vater über Sie denkt, und sollte er wirklich im Zweifel sein, wie es um seinen Sohn bestellt ist, so werde ich ihm bei nächster Gelegenheit einmal gründlich die Augen öffnen.«

Boxer setzte sich, und der Unterricht nahm seinen Anfang.

Als aber Doktor Brömmel den Lehrsaal verlassen hatte, sanken sich die Se-kundaner gegenseitig in die Arme und jauchzten vor Wonne und Seligkeit.

»Ach,« klang es von Mund zu Mund, »der Himmel gebe, daß die Brömmeli-na bald wieder Zwillinge bekommt!«

 

 

Knebelii discipuli Threnodia.

 

Di omnes mundi homines,

Quae amant, iis non carerent,

Praeclara vitae esset spes,

Nam qui timores nos terrerent?

Perpetuo vellem bibere,

Sed saccus mi repletus raro!

O Deus, pater optume,

Quor fato utor tam amaro?

Quor gulam mi tam aridam,

Tam vini cupidam dedisti,

Si, quibus flammas opprimam,

Pecunias dare omisisti?

Ad ultimum me rediges:

Haud justum mi parasti sortem!

Mehercle! Quae mi cunque des, –

Aut dabis aes, aut dabis mortem!