Ernst Eckstein

Von ihm selbst in Briefform aufgezeichnet.

Hochgeehrter Herr Redakteur!

Ihr geschätztes Blatt erörtert mit Vorliebe charaktervolle Ereignisse aus dem alltäglichen Leben. In der Tat scheint mir der Ausspruch unseres vortrefflichen Schiller:

Was sich nie und nirgends hat begeben,Das allein veraltet nie …

aus mehr als einem Gesichtspunkt – veraltet; womit ich keineswegs gesagt ha-ben will, daß Schiller nicht gewisse Verdienste besäße. Erklärt doch derselbe Schiller, – ich habe das betreffende Gedicht erst vorgestern in der Deklama-tionsstunde rezitiert und infolge einer empörenden Verstimmung des Herrn Professors die Note »ungenügend« davon getragen, – erklärt doch derselbe Schiller, daß der Lebende recht hat. Das Deklamieren ist, beiläufig gesagt, me-ine Force, während ich im Griechischen durch allerlei Verkettungen häuslicher Übelstände in betrüblicher Weise zurückgeblieben und kaum imstande bin, die ersten Beispiele aus Jakobs zu übersetzen. Nichtsdestoweniger und desse-nungeachtet gelang es mir neulich, just im Griechischen den Ehrenplatz eines Primus zu erobern und bis zum Schluß der Lehrstunde unbeeinträchtigt zu be-haupten. Sie denken jetzt natürlich an unlautere Manipulationen, an abgeschrie-bene Exerzitien, an frech gehandhabte Spicker. Aber Sie irren: ich ward Pri-mus auf ganz legitimem, ich möchte sagen, auf höchst honorigem Wege, und kraft jenes Grundsatzes, den schon die Bibel betont: »Wer sich selbst ernied-rigt, der soll erhöhet werden«. Fahren Sie nur getrost in der Lektüre dieser me-iner Darlegung fort.

Professor Dr. Schmelzle, der uns den Jakobs erklärt, hat nämlich die bef-remdliche Angewohnheit, eine mangelhafte Leistung durch Degradation zu bestrafen. Kaum habe ich meinen Mund geöffnet, um den ersten Aor. Ind. Act. von βλέπω mit »ich wurde gesehen« zu verdeutschen, so ertönt schon das verhängnisvolle »Setz’ Dich zu unterst!« Beim Repetieren wie beim Extempo-rieren, beim Hersagen der Paradigmen wie beim Abfragen des Wörterverzeich-nisses – überall und jedesmal ernte ich dieses ungebührliche »Setz’ Dich zu un-terst!«, sobald ich auch nur zwei Silben über die Lippen gebracht habe. Es ist dies, wie Sie in Anbetracht meines sonstigen Bildungsgrades leicht ermessen werden, eine sogenannte Tücke des Schicksals, eine μοῖρα, ein fatum, das auf gewöhnlichem Wege nicht zu ändern ist. Wenn ich, der gehorsamst Unter-zeichnete, gleichwohl ein Mittel fand, das anscheinend so unnahbare Ziel des ersten Platzes unter Zweiundzwanzigen zu erreichen, so danke ich dies ledig-lich meinem diplomatischen Scharfsinn, der allerdings in unserer Familie schon seit mehreren Generationen heimisch ist, wie denn mein Onkel mütterlicher-seits, der bekannte Papierfabrikant Heinerle, die Schreibmaterialien in das Re-ichskanzleramt liefert, während mein Großvater vor der Schlacht bei Königg-rätz die Äußerung getan haben soll: »Wenn das Schlachtenglück sich auf die Seite der Preußen neigt, so glaube ich der österreichischen Armee eine ernstlic-he Niederlage prophezeien zu dürfen!« Habeat sibi! wie Professor Gordon zu sagen pflegt, wenn ich im Bilden eines lateinischen Partizipialsatzes nicht von der Stelle komme. Sie selbst sollen entscheiden, ob ich zu viel behaupte.

Professor Schmelzle – so viel wird Ihnen seit Beginn dieses Briefes klar sein – stellt an die Leistungsfähigkeit seiner Quartaner höhere Anforderungen, als er, streng genommen, vor dem Richterstuhle der Humanität verantworten könnte. Es fehlt ihm für die Beurteilung unserer Kenntnisse jeglicher Maßstab. Diese Tatsache fühlt er selbst, daher er denn von Zeit zu Zeit gewissermaßen an unser eigenes Urteil appelliert und am Schluß der Lehrstunde die bedeutsamen Worte spricht: »So, hm, hm! Fürs nächste Mal mögt Ihr Euch die Klasse-naufgabe einmal selber auswählen. Schlagt mir, hm, hm! ein paar Themata vor, ich werde dann endgültig resolvieren!« Da ruft dann der eine: »Ach, Herr Pro-fessor, lassen Sie uns bei dem ganzen Pensum von heute das Perfektum ins Präsens verwandeln.« … »Nein, nein,« ruft der zweite, »lassen Sie uns die Erzählung vom Diogenes auswendig lernen!« Kurz, vier, fünf der hervorra-gendsten Schüler beantragen ihre meist sehr unverfänglichen Aufgaben, und der Herr Professor entscheidet dann. Leider bin ich, wie bereits angedeutet, infolge häuslicher Umstände selbst diesen leichteren Aufgaben nicht gewachsen, und wenn am folgenden Tage die Aufforderung des Lehrers mich trifft, so heißt es immer wieder unfehlbar: »Zu unterst!«

Nun muß ich bemerken, daß Professor Schmelzle ein Dichter ist. Von Zeit zu Zeit veröffentlicht er im städtischen Anzeiger ein Kind seiner Muse, – sei es nun ein Hymnus auf die Rückkehr des Herzogs, ein Frühlingslied oder ein Festgesang beim Antritt des neuen Jahres.

Es war nun am 10. Januar, als Professor Schmelzle uns wiederum die Wahl der Aufgabe für den folgenden Mittwoch freigab. In der Neujahrsnummer des städtischen Anzeigers hatte just eine Ode unseres allverehrten Lehrers gestan-den, ein »Rückblick« von zwanzig Strophen, der die Ereignisse des verflosse-nen Jahres in tiefsinniger, ja, ich möchte fast sagen, unverständlicher Weise be-handelte. Poeten sind eitel, und Professor Dr. Schmelzle ist, was diesen Punkt betrifft, ein Poet ersten Ranges. Als er daher am Schluß der Lehrstunde vom 10. Januar zu Vorschlägen aufforderte, erhob ich mich selbstbewußt und sagte mit Stentorstimme: »Herr Professor, lassen Sie uns das schöne Gedicht ›Rück-blick‹, das Sie in der Neujahrsnummer unseres städtischen Anzeigers zu veröf-fentlichen die Güte hatten, ins Griechische übersetzen!«

Sie stutzen, geehrter Herr Redakteur! In der Tat war das eine Aufgabe, an der selbst die Gewandtheit eines Primaners unausbleiblich gescheitert wäre. Aber gerade das wollte ich. Ich wollte diesen fünf, sechs Auserlesenen, die stets die Note »Vortrefflich« einheimsten, auch einmal zeigen, was es heißt, ein Prob-lem lösen zu sollen, das unsere Kraft übersteigt. Aber noch mehr. Ich selbst wollte mich durch dieses glorreiche Strategem an die Spitze der Quarta schwingen und meinen Mitschülern dartun, daß ein offener Kopf praktisch mehr bedeutet als ein Wust von Optativen, die sich schließlich endigen mögen, wie sie wollen, – mir soll’s egal sein.

Der Professor war im ersten Moment über meine Kühnheit verblüfft, aber gleich darauf spielte um seine Lippen jenes eigentümliche Dichterlächeln, das mir den Sieg gewährleistete. Der Gedanke, daß dreiunddreißig mehr oder min-der geistvolle Knaben sich stunden- und tagelang mit dem »Rückblick« beschäftigen, daß sie ihn analysieren und gewissermaßen in seine Einzelschön-heiten aufdröseln sollten, – dieser Gedanke hatte für Professor Schmelzle etwas Verführerisches. Die Autoren-Eitelkeit überwog alle Bedenken, und die idealis-tische Auffassung bezüglich unseres Wissens machte ihn ja so wie so geneigt, uns allerlei Sisyphusarbeiten zuzumuten.

»Gut,« sagte er schmunzelnd, »übersetzt mir den ›Rückblick‹ ins Griechische. Die Sache wird Euch zwar Mühe machen, aber ein deutsch-griechisches Lexi-kon tut das übrige. Notabene, selbstverständlich braucht Ihr Euch nicht an das Metrum zu halten.«

Mit diesen Worten verließ er das Schulzimmer, während ich von meinen Kommilitonen mit drohenden Vorwürfen überhäuft wurde, die ich stoisch lächelnd zurückwies.

Der entscheidende Mittwoch kam unter den mannigfachsten Qualen der gepe-inigten Quarta heran.

»Nun,« sagte der Herr Professor, indem er sich behaglich über das rundliche Kinn strich, »wer will mir denn einmal zuerst den griechischen ›Rückblick‹ vorlesen oder aufsagen?«

Nicht ein einziger meiner Mitschüler meldete sich, denn alle fühlten die ent-setzliche Unzulänglichkeit ihrer Arbeit; ich aber fuhr stolz in die Höhe und sag-te mit fester, gemessener Stimme:

»Ich, Herr Professor.«

»Du, Holzheimer?« fragte der Professor erstaunt; »nun, da bin ich denn doch in der Tat begierig.«

Ich hob mein Heft und begann. Kaum aber hatte ich zwei Zeilen meiner unglückseligen Übersetzung vorgetragen, als schon ein wütendes »Zu unterst! Zu unterst!« mir das Wort von den Lippen nahm. Da ich bereits zu unterst saß, so brauchte ich mich nicht weiter vom Platz zu bemühen. Ich setzte mich und wartete siegesgewiß der Dinge, die da kommen sollten.

»Lies Du einmal, Kurschmann!« rief der Professor ärgerlich.

Stotternd und stammelnd begann der sonst vortreffliche Schüler die Lektüre seines Elaborates.

»Was?« unterbrach ihn der Lehrer beim dritten Worte. »Wie übersetzt Du di-esen Passus: ›Im herben Mischkrug schnöder Vergangenheit?‹ Bist Du von Sin-nen? Augenblicklich zu unterst!«

Das Haupt gesenkt schritt Kurschmann von der Bank der Erlesenen nach dem Strafplatze. Ich aber rückte einen hinauf.

»Engelbach!« sagte der Herr Professor, »beschäm’ einmal dieses barbarische Griechisch!«

Engelbach las, aber er kam nicht weiter als Kurschmann. Die Aufgabe war eben für einen Quartaner unlöslich.

»Zu unterst!« schrie der Professor, der die Unfähigkeit seiner Schüler wie ei-ne persönliche Injurie empfand. Bei den Göttern! War denn diese Neujahrsode so verworren, so unklar, daß zwei der besten Jakobs-Übersetzer, daß ein Kurschmann, ein Engelbach daran scheiterten! …

»Kleewitz!« rief Schmelzle mit geröteter Stirn, als Engelbach neben Kurschmann Platz genommen und mich so abermals um einen herauf befördert hatte. »Du bist doch ganz gewiß imstande gewesen … Es müßte ja mit dem Teufel zugehen … Ich verlange ja keineswegs den vollendeten Attizismus, aber mein Gott … Was? Du hast überhaupt nichts geschrieben? Die Arbeit war Dir zu schwer? Du bist ja ein ganz erbärmlicher Junge! Zu unterst! Augenblicklich zu unterst!«

Und abermals rückte ich einen hinauf.

Dieser vierfache Mißerfolg hatte den Professor hitzig gemacht.

»Ich will denn doch einmal sehen, ob nicht ein einziger in der ganzen Klasse so viel Griechisch besitzt, um dieses schlichte, einfache, ich kann wirklich sa-gen: edel-einfache Poem wiederzugeben! Einer wird doch von den rastlosen Bemühungen, die ich dieser Klasse fortwährend opfere, etwas profitiert haben. Grazmüller, Veltliner, Stechhuber! Beim Pluto, seid Ihr denn alle vernagelt? Grazmüller, lies einmal vor!«

Und Grazmüller las. Aber auch Grazmüller kam zu Fall, wurde im Tagebuch durch persönliche Eintragung des Professors mit Nachsitzen belegt, und dann ertönte das traditionelle »Zu unterst!«

So rutschte ich Bank um Bank aufwärts, und als es drei Viertel schlug, – Sie mögen’s nun glauben oder nicht, – als es drei Viertel schlug, war ich, Otto Le-berecht Holzheimer, ich, das Opfer mißglückter Aoristformen, Primus!

Der Professor bebte am ganzen Leibe.

»Das ist zu viel!« raunte er mit erstickter Stimme. »Ich muß ein Exempel sta-tuieren. Die ganze Klasse kann ich nicht einsperren, aber schon im Altertum pflegte man rebellische Legionen zu dezimieren … Die sechs Untersten werden mir über Mittag nachsitzen. Primus, Du wirst den Pedellen von dieser Ver-fügung in Kenntnis setzen.«

Und ich, Otto Leberecht Holzheimer, meldete unserem Pedell, die sechs Ul-timi, darunter zwei der vorzüglichsten Griechen, seien wegen ungenügender Leistung mit der empfindlichen Strafe des Herrn Professors in aeternam rei memoriam gebrandmarkt worden!

Sehen Sie, geehrter Herr Redakteur, so geht’s in der Welt! Der Geist siegte über das Fleisch, die deutsche Intelligenz über den griechischen Formelkram, der Germanismus über das Welsche, Bismarck über Benedetti, Schalk über das Philistertum, und Falk über die Jesuiten. Als deutscher Quartaner biete ich Ih-nen, dem Gleichgesinnten, Gruß und Handschlag! Lassen Sie uns gemeinsam fortstreben im Dienste der echten, der geistesbefreienden Humanität!

Mit kollegialischem Gruß

Ihr

herzlich ergebener

Otto Leberecht Holzheimer.

  1. Adr.: Herrn Dr. Friedrich Leberecht Holzheimer,

Herzogl. Kreisphysikusund Sanitätsrat

zu Meppingen.