Von Ernst Eckstein

Das beglückende Lenzgefühl, das der Mai durch alle Adern gießt, wird mir durch eine unauslöschliche Erinnerung zu einem wahren Rausch der Wonne gestei-gert. Ich denke nämlich, wenn die Fluren und Wälder sich neu begrünen, an die Jahre zurück, da ich dies erquickende Schauspiel durch den steifen, weißgest-richenen Rahmen eines großen Schulfensters beobachten mußte und dazu verur-teilt war, die entzückendsten Stunden des Frühlings vor dem Katheder höchst würdiger und höchst gelehrter Männer zu verbringen. Aus den benachbarten Gärten klang das Konzert der Vögel herüber in die dumpfigen Schulräume, aber die ernsten Männer mit den großen Rundbrillen hatten kein Ohr für diesen melodischen Zauber: sie redeten von Sprachgebräuchen, Anakoluthen, Kon-junktionen, Schreibfehlern und Anachronismen, – ebenso wirr und zusammen-hanglos, wie ich diese verschiedenen Gesichtspunkte ihrer pädagogischen Tätigkeit hier aneinander reihe. Anstatt die Lebensweisheit von den grünen Blättern der Natur abzulesen, mußten wir uns mit dem herumschlagen, was auf den gedruckten stand; sei es nun, daß ein Chorgesang des Sophokles oder eine schwungvolle Rede Ciceros, sei es, daß eine Gleichung aus der analytischen Geometrie, oder daß eine Frage aus der Kirchengeschichte unsere Auf-merksamkeit in Anspruch nahm.

Ich seufzte dann oft heimlich über die Tyrannei der modernen Zivilisation und warf über den Rand meiner Bücher und Hefte hinaus sehnsuchtsvolle Blic-ke nach den lauschigen Baumwipfeln, die so wonniglich im linden Westwinde rauschten.

Drüben auf dem tannbewachsenen Hügel, etwa eine halbe Stunde vom Städtchen entfernt, lag die Liebigshöhe, so genannt nach dem großen Chemi-ker, dem die dankbare Bürgerschaft kein beredteres Denkmal ihrer Hochach-tung zu stiften wußte, als daß sie einen Bierkeller – das Schätzbarste, was eine germanische Bürgerschaft besitzt – nach seinem Namen taufte. Dort hatten wir verfassungswidrigen Primaner mehr als einmal »eine Orgie gefeiert«, – wie der Direktor sich ausdrückte, wenn er unsere Zechgelage entdeckte und uns mit mehrtägiger Karzerstrafe belegte. Auch war die Liebigshöhe ein beliebter Sammelplatz für solche Insassen der Stadt, die sich einer zahlreichen Familie erfreuten; denn es war nirgends so billig, wie hier im Schatten der Tannen, ganz abgesehen davon, daß außer Bier, Kaffee und Kuchen nichts verabreicht wurde. Zu den Töchtern dieser Familien gehörte auch Jenny, die blonde, sch-lanke, blauäugige Jenny, an die ich bereits in Unterprima eine Reihe hervorra-gender Liebeslieder gestaltete, während ich sie in Oberprima zur Heldin eines fünfaktigen Trauerspiels erkor …

Wenn ich so von meinem Platz aus das zierliche Gehöft mit dem braunroten Dach und den blinkenden Fenstern aus der blauen Ferne herüberlächeln sah, so zogen all diese Bilder in bunter, beglückender Reihe durch mein Gemüt, und ich begann immer lauter zu seufzen und immer schwerer den Zwang zu empfinden, der mich an diese harten Subsellien fesselte …

Mit einemmal wurde ich durch die dröhnende Anrede des Direktors oder ei-nes seiner ebenso pflichttreuen Kollegen daran erinnert, daß ich noch Sklave war und nicht das Recht hatte, meine Phantasien während der hochwichtigen Erklärung eines griechischen Tragikers über Berg und Tal wandern zu lassen.

»Sä sänd wäder änmal nächt bei der Sache!« klang es von den Lippen des er-zürnten Philologen Doktor Samuel Heinzerling, desselben, der später mit mei-nem unvergeßlichen Freunde Wilhelm Rumpf das denkwürdige Rencontre in den Räumen des Karzers hatte. Die Worte trafen mich stets wie ein Blitz aus heiterem Himmel, denn ich war in der Tat durchaus nicht bei der Sache und mußte es stillschweigend über mich ergehen lassen, wenn Heppenheimer mich auf den Wink des Autokraten als »onaufmerksam« ins »Tagebooch« einschrieb.

Wie oft habe ich, noch ehe es halb schlug, die Uhr in die Hand genommen und auf dem Rand meiner Virgilausgabe Buch geführt über jede verstrichene Minute! Das gelangweilte Herz glaubte durch diese Kontrolle den Gang dieser trägen Zeit zu beflügeln; aber es war unglaublich, wie bleischwer trotz aller Machinationen die Augenblicke dahinzogen. Ein Triumphgeschrei klang durch die Seele, wenn man mit großen lateinischen Lettern »drei Viertel« notieren durfte. War man von dem Aufzeichnen dieser einzelnen Zeitstadien ermüdet, so erging man sich wohl auch in Epigrammen, deren schweres, molossisches Versmaß die Stimmung des niedergedrückten Gemüts versinnlichte. Der Kern ihrer Wehklagen ließ sich in den Ausruf zusammenfassen: »Will’s denn heute wieder einmal gar nicht ›ganz‹ werden!« Ganz! Das war das erlösende Wort! Ganz! Was lag nicht alles in diesen vier Buchstaben, zumal wenn sie sich auf den Schluß der letzten Stunde, also auf vier Uhr nachmittags, bezogen. Und wenn nun gar Quaddler, unser ehrlicher Pedell, sich um ein paar Minuten ver-rechnet hatte und zu früh klingelte, – wie jauchzten wir da empor beim Gedröhne seines heiseren Metalls! War es doch das Signal der Freiheit, das er uns gab, und »die Freiheit schmeckt süß«, selbst in Prima.

Der geneigte Leser hat vielleicht ein paar Söhne auf dem Gymnasium und fängt an, diese Skizzensammlung für die Verbreiterin unsittlicher Ideen zu hal-ten; aber ich kann ihm nicht helfen. Wenn er sich selber des Jubels nicht mehr erinnert, der ihm bei der Kunde von dem Schluß der Gymnasialexerzitien durch alle Fibern zuckte, so ist dies ein individuelles Unglück: ich meinesteils trage das Bild jener Zeit mit unverblaßten Farben im Busen und fühle fast stündlich ein gewisses Behagen, daß ich nicht mehr verpflichtet bin, nachmittags um zwei meine Bücher zusammenzuschnüren und nach der alten Spelunke zu tra-ben, die mir die herrlichsten, sonnigsten Maitage gestohlen hat.

Worin besteht denn die Glückseligkeit des jungen Studenten anders, als in dem Bewußtsein, daß er aufgehört hat, dem Bann des Gymnasiallebens anzuge-hören?

Ich finde hierüber bei Hermann Grimm, dem geistvollen Novellisten, eine sehr bezeichnende Stelle.

»Ich war achtzehn Jahre alt«, schreibt dieser feine Beobachter menschlicher Verhältnisse, »und eben erst Student geworden. Das ist ein Übergang im Le-ben, wie wenige. Man ist mit einem Schlage aus einem ungewissen Wesen oh-ne Bedeutung zu einem Manne mit Titel, Rang und gegründeten Ansprüchen umgeschaffen. Man hat Geld zu seiner Verfügung, kann arbeiten, was und wie man will, und darf den Genuß des Lebens von den Bäumen pflücken, wo die Früchte am lockendsten aus dem Laube leuchten. So griff ich das Leben an: ohne kopfhängerische, einsiedlerhafte Neigung war ich ein vergnügter Student und wußte nur vom Hörensagen, daß es eine Zukunft gebe; die Vergangenheit war mir ein unbekanntes Land geworden, zu dessen Ufern die Erinnerung nie-mals zurückkehrte. Was konnte ich Größeres verlangen? Ein Palast, um darin zu studieren, berühmte Gelehrte, die uns »meine Herren« anredeten, die mit wunderbarer Höflichkeit Kenntnisse und Eifer bei uns voraussetzten, eine große Stadt, in der es sich frei und unbehelligt lebte, freie Abende, Nächte (wenn wir wollten), Theater – für einen Studenten gibt es keinen unerfüllten Wunsch.«

Aus diesen Zeilen spricht ganz dasselbe Gefühl, dem ich in den oben stehen-den Worten Ausdruck verliehen habe. Im Winter läßt man sich die Sache zur Not noch gefallen. Man begeistert sich für Antigone, obgleich der Umstand, daß man die Tragödie des unsterblichen Meisters in minimalen Bruchteilen zu sich nimmt, sehr geeignet ist, dieser Begeisterung Abbruch zu tun. Man übt sich im lateinischen Stil, denn man kann einmal Reichstagsabgeordneter werden und in die Lage kommen, das »timeo Danaos« oder das »nil humanibus arduum est« zitieren zu wollen. Man fertigt deutsche Aufsätze nach klassischen Vorbildern, denn eine gewisse Leichtigkeit im Ausdruck ist allezeit nütze, sei es nun, daß man sich auf die Schriftstellerei wirft, was bei den Gymnasiasten von heutzuta-ge die Regel ist, oder daß man als Hotelbesitzer lange Rechnungen verfertigt, die unter Umständen mehr einbringen als die Schöpfungen der Novellistik. Al-les das geht im Winter, denn Schnee und Regen sind keines Menschen Freund, und im Feld und auf der Heide ist wenig zu suchen, wenn der Nord durch die kahlen Zweige der Buchen fegt. Aber im Frühling, sobald die ersten Lerc-hen ins Blaue steigen, ändert sich diese Sachlage. Dann wird der Zwang, auf die Vorträge eines Doktor Samuel Heinzerling zu lauschen, zur qualvollsten Sklaverei, und die Sehnsucht nach den Umarmungen der Mutter Natur macht jeden wissenschaftlichen Ernst zuschanden.

Das Bewußtsein, daß ich einst in diesen Ketten geschmachtet habe und jetzt frei bin, frei wie der Vogel in der Luft, dieses süße Gefühl des Nicht-Gymnasiastentums bildet jetzt eine der vornehmsten Würzen meines Frühlings-genusses.

Aber die Medaille hat ihre Rückseite. Nicht selten rächt sich die Vergangen-heit für den stillen, triumphierenden Hohn, mit dem ich ihrer gedenke, – und nachts in den entsetzlichsten Traumgesichtern kehrt sie mir zurück und schreckt mich mit der Maske der Gegenwart. Ich sehe mich trotz meines Doktordiploms, das bereits vor acht Jahren lügnerischerweise behauptet hat, ich sei ein vir per-doctus, und trotz des würdevollen Bartwuchses, den ich mir im Laufe der letz-ten zwei Lustra anzueignen wußte, von meinen ehemaligen Schulkameraden umringt in dem Saale der Prima, und vor mir steht die fragwürdige Gestalt des Doktor Samuel Heinzerling oder eines seiner gestrengen Kollegen. Das Verhängnis drückt mir einen lateinischen Klassiker in die Hand und verlangt von mir, ich solle exempli gratia das erste Kapitel der Rede Ciceros pro Roscio Amerino ins Griechische übersetzen. Ich überfliege den lateinischen Text mit fiebernden Blicken und gewahre sofort, daß mir für einige der notwendigsten Ausdrücke die griechischen Vokabeln fehlen. Mein Nachbar, ein fleißiger und gewissenhafter Schüler, der in den Tagen meiner wirklichen Primanerschaft stets aufs pünktlichste präpariert war, scheint diesmal ausnahmsweise faul gewesen zu sein, wie ich. Ich gebe ihm alle erdenklichen Signale mit dem Ell-bogen, mit den Füßen, mit den Knien; ich raune ihm zu: »Mensch, Du bist des Todes, wenn Du mir nicht Dein Wörterbuch vorschiebst!« Aber er rührt sich nicht.

»Non,« klingt die Stimme meines Peinigers, »wollen Sä non bald anfangen? Sä scheinen mär wäder änmal nächt gehöräg vorbereitet.«

Ich lege die Hand aufs Herz.

»Aber, Herr Direktor,« stammle ich treuherzig, »ich kann Sie aufs bes-timmteste versichern …«

Ich hoffe durch diese bestimmte Versicherung nur Zeit zu gewinnen, aber Samuel Heinzerling unterbricht mich.

»Sein Sä mer ställ«, sagt er in wegwerfendem Tone; »äch weiß zor Genöge, was äch von Ähren bestimmten Versächerongen zo halten habe. Öbersätzen Sä jetzt das Kapätel ins Grächäsche, oder gäben Sä zo, daß Sä nächt nach Geböhr präparärt sänd!«

Mit einem verzweifelten Entschluß beginne ich:

»Credo ego vos judices mirari … Ὑμᾶς μὲν, ὦ ἄνδρες δικασταὶ, θαυμάζειν ἐγῷμαι …«

»Goot«, sagt Samuel Heinzerling; »non weiter!«

Da haben wir’s! Das nächste Wort, summi, ist zwar ein ganz gewöhnliches, und ich weiß genau, daß ich die entsprechende griechische Vokabel mindestens hundertmal angewandt habe; jetzt aber, im entscheidenden Augenblicke vor den Schranken Doktor Samuel Heinzerlings, bin ich mit aller Kraft nicht imstande, die fluchwürdigen paar Silben aus meinem Gedächtnis heraufzubeschwören.

»Summi …,« sage ich, »ja, summi, das heißt … es kommt darauf an, wie man das hier auffaßt; nämlich insofern … summus kann verschiedenerlei bedeuten. Wenn wir z. B. sagen, summus mons, so ist das etwas anderes, als wenn wir sagen, summa cum laude …«

»Bleiben Sä bei der Sache; öbersätzen Sä sommä mit dem änzägen bezeich-nenden grächäschen Wort ond lassen Sä alle Omschweife!«

»Also,« stammle ich, während mir der helle Angstschweiß auf die Stirne tritt, »summi … Credo ego vos judices mirari, quid sit, quod cum tot summi …«

»Das Lateinäsche können wär ons sälbst lesen. Sä scheinen mer nächt recht zo wässen, was sommä auf Grächäsch heißt.«

»O gewiß, Herr Direktor; es fragt sich nur, ob wir das Wort hier figürlich auffassen, oder ob wir seine eigentliche Bedeutung …« (mit gedämpfter Stim-me zum Nachbarn:) »Du, summi, Himmelkreuzdonnerwetter, lege mir doch Dein Heft hin!«

Mein Nachbar rührt sich nicht.

»Was haben Sä da eben zom Schwälble gesagt? Er soll’s Ähnen wohl einflös-tern? Korz ond böndig, wässen Sä, wä Sä sommä zu öbersätzen haben oder nächt?«

»Summi … natürlich … ich nehme das hier bildlich von den geistigen Ei-genschaften.«

Der Direktor schüttelt unwillig mit dem Kopf und sucht mit der rechten Hand in der Westentasche nach dem Bleistift, um mir die Note »ongenögend« anzumalen.

Der Angstschweiß rinnt mir jetzt bereits literweise von der Stirn. Aber noch gebe ich meine Sache nicht verloren. Ich entsinne mich, daß griechisch καλὸς κἀγαθός eine hervorragende sittliche Eigenschaft bedeutet, und versuche ganz glatt weg, dieses summi auf die angedeutete Weise zu übertragen.

»Sä sänd wäder änmal faul gewesen«, ruft jetzt Heinzerling in schnarrendem Tone.

»Καλὸς κἀγαθός,« hauchte ich noch mit der letzten Kraft meines Mundes, »κἀγαθός, das heißt, ich wollte mir die ganz ergebene Bemerkung erlauben, ich war gestern unwohl, und wir hatten Besuch, und mein Onkel war da, und dann hatte ich noch gestern die Korrektur meiner neuen Novellen zu lesen, die dieses Jahr erscheinen, und die ich Ihnen nicht dringend genug empfehlen kann.«

»Was? Novellen wollen Sä schreiben ond wässen nächt änmal, wie sommä auf Grächäsch heißt? Wässen Sä was, Sä täten auch besser, Sä öbten säch ärst noch ein wenäg in den Elementen der Scholbäldong, ehe Sä säch daran machten, einem denkenden Volke geistige Nahrong onterbreiten zo wollen. Wenn mer än Mänsch sagt, er schreibt Novellen, so wärft das ein sehr schlechtes Lächt auf seinen Läbenswandel, ond korz ond got, Sä gehn mer sechs Stonden auf den Karzer. Schreiben Sä änmal ein, Heppenheimer: ›Doktor Ernst Eckstein wägen ongenögender Vorbereitong ond vorsätzlichen Novel-lenschreibens mit sechs Stonden Karzer bestraft‹. Knöpke, holen Sä einmal den Pedellen.«

Jetzt wird mir die Sache zu bunt.

»Was, Herr Direktor? Sie wollen sich hier über meinen schriftstellerischen Beruf ereifern? Sie wollen mir Verhaltungsmaßregeln erteilen in Angelegenhei-ten, von denen Sie nicht das geringste verstehen? Das übersteigt denn doch alles, was mir bis jetzt in meiner Praxis vorgekommen ist! Augenblicklich ver-lassen Sie das Zimmer! Augenblicklich, sage ich, oder Sie sollen mich von ei-ner Seite kennen lernen, die Ihnen schwerlich gefallen wird.«

»Mänsch, was onterstehn Sä säch? Heppenheimer, schreiben Sä änmal ins Tagebooch: ›Wägen empörenden Benehmens …‹«

Ich trete aus den Bänken heraus, kreuze die Arme vor der Brust und schreite auf den Direktor los.

»Samuel,« sage ich, »es ist genug des grausamen Spiels. Ich habe längst mein Maturitätsexamen gemacht und eine Doktorprüfung bestanden, die mich zur Forderung einer anständigen Behandlung berechtigt. Lassen Sie sich Ihren Cice-ro pro Roscio Amerino einpökeln und das summi und alle übrigen lateinischen Superlative übersetzen, von wem Sie Lust haben; ich danke dafür! Leben Sie wohl und grüßen Sie mir Ihre Frau Gemahlin!«

Und hiermit ergreife ich meinen Zylinder, der sich zwischen den Mützen me-iner Schulkameraden ganz eigentümlich ausnimmt, packe meine Bücher unter den Arm und schreite hochaufgerichtet der Tür zu.

»Heppenheimer!« ertönt die Stimme Samuels. »Rofen Sä schnell den Pedel-len! Sechs Tage Karzer! Zwölf Tage Karzer! Augenbläckläch wärd er hänauf-geföhrt.«

Ich aber renne im Sturmschritt die Treppe hinab, stoße den Pedell, der mir entgegenkommt, über den Haufen und bin zwei Minuten später im Freien. Sowie mich Gottes allgütige Sonne bescheint, wache ich auf. Die Nachbarsleu-te versichern regelmäßig, ich hätte in den Nächten, die mir derartige Träume senden, furchtbar gestöhnt, und die Witwe Wendelsheim, die ein sehr gutes Herz hat, rekommandiert mir jetzt bereits zum fünfundzwanzigsten Male ihr unfehlbares Mittel gegen Alpdrücken.

Noch peinlicher gestalten sich diese Verhältnisse, wenn mich der Geschichts-lehrer ins Gebet nimmt. In den Sprachen habe ich mich immer noch so leidlich zurecht gefunden, aber die Historie war meine schwache Seite. So erinnere ich mich, daß ich in Sekunda aufgefordert wurde, eine kurze Darstellung der Hussitenkriege zu liefern. Leider war mir der Gegenstand, über den meine ora-torische Leistung sich erstrecken sollte, so unbekannt, wie Herrn Gambetta die Geheimnisse der Strategie; aber in einer dunklen Vorahnung der Tatsache, daß der Diktator von Tours dereinst auch ohne diese Kenntnisse das militärische Szepter ergreifen würde, beschloß ich, kühn ins Feuer zu gehen und ein »Es-say« zu liefern, das mich »herausbeißen« sollte. Der Umstand, auf den sich me-ine Hoffnung begründete, war die umfassende Kenntnis des berühmten Studen-tenliedes:

»Die Hussiten zogen vor Naumburg,Über Jena und Camburg …«

Ein Volksdichter, so kalkulierte ich, wird von der historischen Wahrheit nur wenig abgewichen sein, und so bedarf es denn nur einer glücklichen Paraphrase dieses rührenden Gesanges, um die mir gestellte Aufgabe zu lösen.

Ich begann.

»Es war zur Zeit der Hussitenkriege. Die Verhältnisse hatten sich damals so eigentümlich gestaltet, daß nach langem Hin- und Herüberlegen und vielen ver-geblichen Bemühungen, den Frieden aufrecht zu erhalten, demungeachtet der Krieg losbrach. So geht es eben in der Geschichte der Völker! Ganz ähnlich lagen die Dinge beispielsweise vor Ausbruch des Ersten punischen Krieges. Überall walten hier die gleichen Prinzipien: und so gilt denn diese Wahrheit auch von dem bedeutsamen und hochwichtigen Krieg, den ich jetzt zu behan-deln gedenke. Da dieser Krieg oder diese Kriege von den Anhängern des Pro-fessors Huß geführt wurden, so nannte man sie, um sie mit anderen nicht zu verwechseln, die Hussitenkriege. Ich übergehe hier einiges minder Wichtige und komme zu dem entscheidenden Moment, wo die Hussiten sich aufmachten und zunächst die Richtung nach Jena einschlugen. Nach einem flüchtigen Abs-techer in der Richtung von Camburg langten sie vor dem feindlichen Städtchen Naumburg an, das neben anderen hervorragenden Eigentümlichkeiten eine große Wiese besaß, die man mit Rücksicht auf die daselbst nistenden Vögel, oder vielleicht auch wegen eines daselbst häufig stattfindenden Vogelschießens, die Vogelwiese nannte. Die Frage ist noch unentschieden, welche der bei-den Versionen die richtigere sei. Es gibt Geschichtsforscher, welche sich unter Aufwendung eines großen Scharfsinnes für die erstere Auffassung entscheiden. Ebenso anerkannte Autoritäten neigen indes der entgegengesetzten Ansicht zu, und so will ich denn, da mir die Quellen in diesem Augenblicke nicht zur Hand sind, die Frage nicht weiter erörtern. Auf dieser ganzen Vogelwiese sah man nichts als Schwerter und Lanzen.«

Ich vermied das Wort »Spieße«, da der Reim mich verraten hätte. Von inne-rem Wohlgefühl über meine Schlauheit erfüllt, bemerkte ich nicht, daß der Lehrer immer vergnüglicher dreinschaute, – oder wenn ich sein Lächeln wahrnahm, so hielt ich es für einen Ausdruck der Zufriedenheit, der mich er-mutigen sollte, kühnlich fortzufahren.

Das ging denn auch so eine Weile ohne ernstliche Schwierigkeit; als ich aber bei der Schilderung der Teuerung anlangte und das historische Faktum zum besten gab, daß ein einziges Lot Kaffee an sechszehn Pfennige gekostet habe, da brach ein wahrer Sturm des Beifalls los, und mit peinvollem Erröten mußte ich einsehen, daß ich das Lächeln auf den wohlwollenden Zügen des Professors gänzlich mißdeutet hatte.

»Schweig’ und setz’ Dich«, sagte der Lehrer mit Würde; »ich will nicht so grausam sein, Dich zu massakrieren.«

Ich war froh, daß die Komödie vorüber war, denn besonders behaglich hatte ich mich bei dieser Interpretation deutscher Volkslyrik doch nicht gefühlt, und besser, in den Abgrund geschleudert zu werden, als in peinvoller Schwebe über der Tiefe zu hangen.

Auch diese geschichtlichen Lektionen reproduziert mir der Traum oft in erschreckender Weise, und ich fühle ganz deutlich, wie sich mir das Fatum in Gestalt eines bleiernen Druckes auf die Gurgel legt, wenn der Professor mich auffordert:

»Geben Sie uns nun einmal eine kurze Darstellung der Situation Europas nach Beendigung der Völkerwanderung.«

Mit allen zehn Fingern wühle ich mir im Gehirn herum, aber die Situation will nicht klar werden, und nur das dunkle Bewußtsein, daß es damals in Euro-pa sehr wüst und unordentlich ausgesehen, tröstet mich über die wüste Unordnung in dem eigenen Schädel. Dann plötzlich suche ich mir dadurch zu helfen, daß ich Nasenbluten bekomme oder mich in der Wade vom Krampf zi-ehen lasse, ein Mittel, das ich allen verlegenen Primanern aufs wärmste empfehlen kann. Nur im Traum will es nicht verfangen.

»Das kennt man«, sagte der Lehrer geringschätzig. »Ich bin auch einmal Pri-maner gewesen, aber mich hat niemals der Krampf gezogen. Erzählen Sie nur ruhig weiter, oder machen Sie sich auf drei Tage Karzer gefaßt!«

Die Tage Karzer regnen nur so, wenn ich träume. Ich habe freilich auch im Wachen gar manche schöne Stunde unter dem Dachfirst des Gymnasialgebäudes geschmachtet, aber der Traum treibt es doch noch verschwenderischer als die Wirklichkeit. Zudem sehe ich im Traum gar kein Mittel ab, die Verbüßung der verhängten Strafe zu hintertreiben, während ich tatsächlich dies mit einer Meis-terschaft verstand, vor der ich noch jetzt eine gewisse Hochachtung empfinde. Es traf sich nicht selten, daß ich während einer einzigen Woche von drei Leh-rern zugleich mit sechs Stunden Karzer belegt wurde. Ich meldete mich dann eines schönen Tages bei dem Pedell und sagte: »Herr Quaddler, ich habe auch noch die sechs Stunden Karzer abzusitzen, die der Herr Doktor mir verordnet hat«. Der brave Pedell glaubte sich bei dieser Bezeichnung »der Herr Doktor« beruhigen zu dürfen, und ich klomm die Treppe hinan. Ein paar Tage später kam der erste der drei Lehrer und erkundigte sich, ob der Verurteilte sich ge-meldet habe. Quaddler bejahte. Dann erschien der zweite. Quaddler bejahte abermals. Und beim dritten bejahte Herr Quaddler zum drittenmal. Der Gedan-ke, daß ein Schüler dreimal in einer einzigen Woche von drei verschiedenen Lehrern der Freiheit beraubt werden könne, war ihm so unfaßlich, daß seine arme Seele ihn gar nicht in Berechnung zog. Er hielt die Erkundigungen der Lehrer einfach für Beweise eines besonderen Interesses, das sie an meiner Per-sönlichkeit nahmen, und so erledigte ich denn nicht selten drei und vier Strafen auf einmal, – eine stenographische Methode des Absitzens, die ihre unleugbaren Vorteile hat. Nur im Traume will sich dies oft bewährte Mittel nicht anwenden lassen: Quaddler, der in Wirklichkeit einer der gutmütigsten Menschen unter der Sonne war, kontrolliert hier auf einmal mit der Bosheit eines Inquisiti-onsrichters, und selbst seine Tochter, die sanfte, rosige Anny, denunziert mich bei Samuel Heinzerling wegen unterschlagener Bußestunden.

So rächt sich das Einst an dem Jetzt, weil das Jetzt seine Befriedigung darü-ber ausdrückt, daß es von den Ketten des Einst befreit ist. Alles gleicht sich im Leben aus. Wer bei Tage mit dem Hut in der Hand an der Kirchentür sitzt und um Almosen fleht, der besteigt nachts im süßen Delirium der Träume vielleicht den Thron Frankreichs oder den Stuhl Petri, und wem das Schicksal die Krone aufs Haupt gedrückt hat, der beschäftigt sich, wenn Morpheus ihn eingewiegt hat, vielleicht mit dem Verkauf alter Zahnstocher oder mit dem Waschen geb-rauchter Whistkarten.

Es gab nur ein Mittel, um sich beim Herannahen des Lenzes den Druck der Gymnasialfesseln weniger fühlbar zu machen: die Wonne der Ungezogenheit. Ihr Weisen, Frommen und Gerechten, ich sehe schon wieder im Geiste, wie ihr die Stirn runzelt. Aber ihr wißt nicht, daß die Ungezogenheit den eigentlichen Lebenskern, ja, die einzige und echte Poesie des Gymnasiallebens ausmacht. Nimm einer deutschen Nähterin ihren Sonntagnachmittag, und du knickst ihr die Blüte des Daseins; nimm einem Gymnasiasten das Privilegium der Ungezo-genheit, und du bohrst ihm den Dolch der Verzweiflung ins Herz. Ich weiß ein Lied davon zu singen! Ein volles Jahr hindurch habe ich mich, von einem düs-teren Vorurteil irre geführt, mit eigener Hand dieses köstlichen Privilegiums entkleidet – und gelitten, wie ein Prometheus am Felsen. Ich will dem geneig-ten Leser zum Schluß auseinandersetzen, wie dies zusammenhing.

Als ich in die Quarta des städtischen Gymnasiums eintrat, war ich ein from-mes Kind von zwölf Jahren, das an nichts Böses dachte und sein Dasein gestal-tete, wie die Götter es fügten, – ohne Besorgnis vor dem Stirnrunzeln der Leh-rer, ohne Rücksicht auf Lob und Strafe. Die Folge dieser kindlichen Unbefan-genheit war, daß ich mir eine Reihe empfindlicher Mißtrauensvota zuzog und am Schluß des Jahres eine im Punkte des Betragens sehr bedenklich nuancierte Zensur mit nach Hause brachte, während drei oder vier meiner Kameraden »wegen Fleißes und guten Betragens« ein Prämium erhielten. Dieses Prämium, das den andern zugefallen und mir vom Schicksal vorenthalten wor-den war, bildete während der folgenden Osterferien in meinem elterlichen Hau-se das tägliche Tischgespräch. Man sah es wie eine Kränkung der Familienehre an, daß ich leer ausgegangen sei, und ließ mich dies so schmerzhaft empfinden, daß ich den heroischen Entschluß faßte, im nächsten Jahre meinen Aufenthalt in Tertia dazu zu benutzen, eine solche amtliche Bestätigung meines »Fleißes und guten Betragens« im Schweiße meines Angesichts zu verdienen.

Dieses Jahr in Tertia war das unglücklichste meines Lebens.

Ein Kapitel aus Curtius langweilte mich; ich verspürte das unwiderstehliche Gelüste, mit meinem Nachbar über irgend einen erheiternden Gegenstand zu plaudern; aber das Prämium trat wie ein Gespenst zwischen mich und diesen beglückenden Plan, und das Wort erstarb mir auf den Lippen.

Ich machte einen nachmittäglichen Spaziergang. Die Zunge klebte mir am Gaumen, und ich fühlte den Drang, in die nächste Kneipe einzukehren und auf das Wohl Samuel Heinzerlings ein Glas Bier zu trinken. Sofort erinnerte ich mich des Paragraphen der Gymnasialstatuten, der besagt, daß den Schülern die-ser Pflanzstätte des Wahren, Schönen und Guten der Genuß geistiger Getränke ein für allemal untersagt ist, – und ich ließ den verlockenden Kelch seufzend vorübergehen.

Die Kommilitonen führten irgend einen köstlichen Streich aus; meine ganze Seele rang nach aktiver Beteiligung, aber ich wußte, daß es mit dem Prämium aus war, wenn ich mich auch nur eines einzigen Vergehens schuldig machte, und so erstickte ich meine Sehnsucht und blieb, was zu sein ich mir vorge-nommen: ein braver Schüler.

Das Osterfest des folgenden Jahres kam heran. Ich erhielt mein Prämium in Gestalt eines Kiepertschen Atlas, und vorn in zierlich lithographierten Zügen stand die wunderbare Tatsache zu lesen, daß ich ein Jahr hindurch die volle Zufriedenheit meiner sämtlichen Lehrer erworben hatte.

Mit diesem Kleinod im Arm eilte ich nach Hause; aber schon unterwegs legte ich den feierlichen Schwur ab: niemals und unter keiner Bedingung wieder nach einem Prämium zu streben, sondern meinen Gefühlen freien Lauf zu las-sen und mich ohne Rückhalt dem Kultus der beglückenden Göttin Ungezogen-heit zu widmen. Ich habe den Schwur redlich gehalten; auch meine Eltern ha-ben sich später mit dem Ausbleiben der Prämien zu versöhnen gewußt. Sie mochten so etwas wie eine dämmernde Ahnung von dem haben, was in mir vorging, und da ich ja nun überhaupt einmal gezeigt hatte, daß es mir, wenn es absolut sein mußte, wohl möglich war, ein ganzes Jahr hindurch die Qualen der Artigkeit zu ertragen, so fiel es ihnen leichter, auf die Beweise einer fortgesetz-ten guten Aufführung zu verzichten.

Ich aber betrachte noch jetzt das Jahr in Tertia als einen Fehler in meinem Lebensplan, und hundertmal hab’ ich mir zugerufen: annum perdidi! Nein, ihr Gestrengen, die Ungezogenheit ist das eigentliche Element des Gymnasialsc-hülers, und so wenig der Fisch im Extrait double de violette existieren kann, so wenig ist es dem Alumnen einer modernen Bildungsanstalt möglich, die Luft eines Nonnenpensionats einzuatmen. Für die Töchter gebildeter Stände mag die »Gezogenheit« ihre Vorteile haben. Den jungen Leuten, die sich im Laufe der Dezennien zu Bürgern einer freien Nation entwickeln und das Material liefern sollen zu dem großen mitteleuropäischen Kulturstaat, den deutschen Knaben und Jünglingen lasse man das Privilegium der Flegeljahre und die süßen Träu-me der Jugendeselei, denn nur so können sie gedeihen.