Von Ernst Eckstein.
Da schlägt die Wanduhr auf meinem Corridor sechs … Schon seit mehr als ei-ner Stunde sitze ich hier bei dem wuchtigen Quartband, ohne über die erste Seite hinauszukommen. Die Wahrheit geredet, es ist eine polizeiwidrige Thor-heit, sich so gegen Laune und Behagen zum Studium zu zwingen. Diese ewigen Theorien! Diese unablässigen Philosopheme! Man verliert schließlich vor lauter ästhetischer Fachbildung den unbefangenen Blick und den naturwüchsigen Geschmack. Eine Stunde vor der Danaë Tizian’s ist, alles in allem, fruchtbarer, als hundert Erwägungen über die Gesetze der Farbengebung; und wer die Schönheit nicht in den lebendigen Originalen bewundern kann, dem frommt kein Speculiren und Grübeln: sein Urtheil bleibt ewig laienhaft.
Ist ein wahrhaft ästhetisch angelegtes Naturell überhaupt mit dem Joch der Ehe vereinbar? Ich bin jetzt seit elf Monaten verheirathet. Meine Josephine ist die Liebenswürdigkeit selber … und doch trage ich das unbestimmte Bewußtsein mit mir herum, daß ich vom Standpunkt des rein Menschlichen etwas eingebüßt habe. Ich bin so häuslich, so philiströs solide geworden, daß die Musen mich gewiß schon halb und halb zu den verlorenen Söhnen rechnen. Wenn ich bedenke … ehedem … die burschikose Ungebundenheit, die Frische der Weltanschauung, die genialische Lust an Abenteuern … und jetzt …! Bei Gott, ich glaube, es vergehen manchmal drei, vier Wochen, ohne daß ich einer einzigen gediegenen Kneiperei anwohne. Und nun läßt sie mich seit einigen Tagen überdem noch allein, anstatt, wie sonst, drüben in der Ecke auf der klei-nen Ottomane zu sitzen und meine Studien mit einer Handarbeit zu begleiten. Mein Geburtstag ist in der Nähe, und da es eine Überraschung gilt, so verbleibt sie in ihrem Boudoir und hält eine strenge Clausur ein. Die gute Seele! Sie me-int es so ehrlich, und es ist eigentlich undankbar, daß ich mich in dieser mi-santhropischen Stimmung befinde, aber die Thatsache ist nicht zu ändern, und alle Gefühle der Zuneigung können mich nicht abhalten, diese ehrsame Mono-tonie des bürgerlichen Daseins hin und wieder ein wenig farblos zu finden.
Warum bin ich eigentlich so gutmüthig, mir diese aufgezwungene Einsamkeit gefallen zu lassen? Das Wetter ist herrlich, drei Grad Kälte und mondhell … Bis zum Thee habe ich noch zwei Stunden Zeit. Wer weiß, ob mir da draußen nicht irgend etwas begegnet, was mich aus dem Cirkel meiner Alltagsempfin-dungen herausreißt. Apollo ist mein Zeuge, daß ich nur aus rein künstlerischen Gesichtspunkten, nur um diese schlichte Existenz etwas effectvoller zu colori-ren, nur um der ästhetischen Anregung willen … Doch ich thue gerade als be-dürfte ich vor mir selber einer Entschuldigung! Lächerlich! Ich kenne meine Pflichten, aber auch meine Rechte.
Langsam richte ich mich empor, lege die Opera omnia meines Theoretikers bei Seite und fahre in meinen Überzieher. Den Hut setze ich ein wenig nach links auf’s Ohr; das verleiht der ganzen Erscheinung etwas Keckes und Selbst-bewußtes und wirkt indirect auf die Gemüthsverfassung.
So, und nun den Stock – nicht jenes biedere, wuchtige Olivenholz mit der familienväterlichen Krücke, das ich gewöhnlich zu tragen pflege, sondern die-ses elegante Bambusrohr, mit dem ich einst in den goldenen Tagen der süßen Jugendeselei den alten Seligmann abgefuchtelt, als er mir in gar zu dringlicher Weise ein unangenehmes Papier präsentirte.
An der Gasflamme der Hausflur zünde ich mir im Vorbeigehen eine Cigarre an, qualme ein paar bedeutungsvolle Rauchwolken wider die Decke und schrei-te dann elastischen Wandels durch die mächtige Bogenpforte ins Freie.
Ein herrlicher Abend! Friedlich kräuselt sich der Rauch über den Dachfirsten, wie versilberte Wölkchen, die unter dem Kusse des Mondscheins im Azur zerf-ließen. Die Façaden der Südseite liegen fast in tagheller Beleuchtung: nur in den kleinen Vorgärten flimmert eine sanfte bläuliche Dämmerung. Es ist still hier draußen in dem einsamen Parkviertel, still wie in dem Dasein eines christ-lichen Ehemanns. Nur selten wandelt ein Ereignis in Gestalt eines sorgfältig frisirten Livréebedienten oder eines Dienstmädchens über den hart gestampften Bürgersteig. Alles athmet eine behäbige Ruhe, eine zahlungsfähige Sicherheit. Selbst das Rollen der Equipagen beschränkt sich hier auf bestimmte Stunden des Tages, und jetzt, um sechs Uhr, ist in dem ganzen Quartier keine Achse in Bewegung. Das Theater beginnt erst um sieben, und die Spazierfahrten endigen mit hereinsinkender Dämmerung.
Allmählich führt mich der Weg in belebtere Stadtviertel. Rechts und links ta-uchen Magazine und Läden auf. Die Zahl der Fußgänger vermehrt sich: auf dem Damm kreuzen sich die Droschken und Lastwagen. Noch zehn Minuten, und ich befinde mich mitten im Herzen des großstädtischen Verkehrs. Hinter den glänzend erleuchteten Spiegelscheiben winken mir alle Schätze Europa’s in geschmackvoller Anordnung. Ein wahres Chaos von Fuhrwerken nimmt die ganze Länge und Breite der Straße ein. Die Schaaren der Fußgänger schieben sich in buntem Gewimmel an den blitzenden Etalagen vorüber. Die ganze At-mosphäre summt und dröhnt von jenem unentwirrbaren Ineinanderklang hun-dert verschiedener Geräusche, deren Ensemble auf die Nerven des Großstädters ebenso wohlthätig wirkt, wie die Landluft auf das Naturell eines Dorfpastors.
Von allen Seiten bestürmen mich neue, bewegende Eindrücke. Nahezu sechs Wochen sind verflossen, seit ich zum letzten Mal eine abendliche Flanade über diese Trottoirs unternahm, und es war damals obendrein eine äußere Veranlas-sung, die mich hierher führte, ein specieller Zweck – was dem eigentlichen Esprit des Bummelns bekanntermaßen zuwiderläuft. Nein, ich begreife mich nicht! Sechs Wochen halte ich’s aus da drüben in meiner beschaulichen Ein-samkeit, und hier wogt und brandet ein Ocean von Bildern und Stimmungen, wie ihn die Seele farbenprächtiger nicht wünschen kann.
Ich setze meinen Hut noch um eine Nüance schiefer auf’s Ohr, fasse den Stock in der Mitte und runzle die Stirn wie ein übermüthiger Dandy, der im nächsten Augenblick eine Welt zu erobern gedenkt.
Jetzt begegnet mir eine Mutter mit zwei Töchtern. Wohlgebaute Blondinen im Stile Paolo Veronese’s. Wahrhaftig, die eine hat ein ganz allerliebstes Ge-sichtchen: etwas geistlos, das ist wahr: aber du lieber Gott, am Ende ist der Ge-ist nur ein Vorurtheil, und von der Leinwand wirkt das üppige Incarnat eines blühenden Nackens jedenfalls energischer, als der seelische Duft einer fein-geschnittenen Lippe. Beim Himmel, wenn ich ebensoviel Technik als Verständ-nis besäße, ich möchte diese saftige Blondine malen, wie Tizian seine Catarina Cornari gemalt hat, als schlichtes Porträt ohne irgend welche artistische Zuthat … Und jetzt diese büßende Magdalena … So wahr ich lebe, das Original in op-tima forma zu dem famosen Gemälde Murillo’s! Es ist eine wahre Schande, daß ich mir seit Monaten eine so peinvolle Reserve auferlege, und lediglich aus Rücksicht … Alle Vorzüge können sich doch nun einmal unmöglich in einer und derselben Person vereinigen. Josephine ist hübsch, freundlich, aufmerksam, zärtlich, liebenswerth, – kurz, vom Standpunkt eines christlich germanischen Alltaglebens betrachtet, das Ideal einer jungen Frau. Aber in rein künstlerisc-her Beziehung, mit dem Auge eines Rafael oder eines Correggio gesehen … Pah, man wird nothgedrungen einseitig, wenn man sich jeder anderweitigen Bewunderung enthalten will …
Nachdenklich setze ich meine Wanderung fort. Ein gelinder Groll gegen un-sere sociale Ordnung spinnt seinen Nebelschleier um meine pessimistisch an-gekränkelte Seele. Warum nehmen es die Frauen auch nur so heillos übel, wenn man gelegentlich eine ihrer Mitschwestern hübsch findet! Ich erinnere mich noch des seltsamen Blickes, den mir Josephine zuwarf, als ich im verwichenen Herbst jene dunkeläugige Unbekannte im Foyer des Victoriatheaters mit dem Lorgnon fixirte. Für etwas Romantisches haben diese Töchter aus guter Familie absolut keinen Sinn. Als ob meine Neigung unter einer derartigen praktischen Studie im mindesten leiden könnte. Ein künstlerisch angelegtes Herz verlangt mehr als die bloße häusliche Glückseligkeit, und schließlich – der Teufel weiß, wie es zugeht, aber das Factum bleibt unanfechtbar – schließlich haben diese Unbekannten immer ein gewisses Etwas, das den uns so wohlbekannten Gattin-nen abgeht, ein nescio quid von poetischem Zauber, einen Hauch von geheim-nisvoller Novellestik, dessen nähere Definition ebenso unmöglich ist, wie die Analyse des Schönen überhaupt.
Was ist das zum Beispiel für eine reizende, graziöse Gestalt, die da quer über die Straße kommt und jetzt in den Galanterieladen eintritt! Ein Füßchen zum Entzücken, und eine Anmuth in jeder Bewegung, wie man sie eben nur bei Unbekannten findet.
Ich trete an das Schaufenster. Ein Seufzer entringt sich meiner Brust, lang und gepreßt, wie ein Passus aus Schopenhauer’s Kapitel über das Leiden der Welt. Zwischen den Fächern und Schmuckkästchen hindurch dringt mein Blick in das Innere des Gewölbes. Die schöne Unbekannte kehrt mir den Rücken. Jetzt beugt sie sich über den Ladentisch, um eine Waare in Augenschein zu nehmen … Wie pittoresk war diese Wendung des Armes! Und wie gesch-mackvoll sie gekleidet ist! Hier erkennt man so recht den Unterschied zwischen dem Schlicht-Bürgerlichen und dem Classisch-Poetischen. Mich dünkt, ich habe eine ähnliche Jacke auch bei Josephinen gesehen: aber wie ganz anders war der Effect! Hier eine gewisse Genialität im Faltenwurf, dort eine nüchterne Accu-ratesse, eine ruhige Einfachheit, die für gewisse Charaktere ihren Reiz haben mag, aber auf die Dauer eine ästhetische Lücke läßt. Kleider machen Leute, sagt das Sprüchwort; mit der gleichen Berechtigung kann man die These umkehren. Dasselbe Gewand von verschiedenen Personen getragen ist nicht mehr dasselbe. Die Individualität haucht dem Kleidungsstück ihr ganzes Wesen ein. Ich glaube, Aspasia wäre im Stande einen Zwillichkittel so zu drapiren, daß er einen königlichen Purpur beschämte.
Und diese reizende Robe! Einfach und anspruchslos, und doch bedeutsam und charakteristisch. Diese stahlfarbene Nüance hat etwas Aristokratisches. Warum Josephine einen derartigen Stoff nicht gewählt hat? Aber es ist nun einmal nicht zu ändern. Gewisse Dinge existiren nicht für die normale deutsche Hausfrau: man entdeckt sie nur fernab von dem Weichbilde des heimischen Herdes.
Wie lange sie wählt und prüft! Auch hierin offenbart sich ein distinguirter Charakterzug. Da … da … um ein Haar hätte ich ihr Gesicht zu sehen bekom-men. Das Stückchen Wange, das mir in duftiger Verklärung entgegengeleuchtet hat, erweckt eine unwiderstehliche Sehnsucht in mir, das ganze ambrosische Angesicht aus der nächsten Nähe zu schauen. Ich interessire mich jetzt so glü-hend für diese schöne Käuferin, daß es mich bereits nach ihrer Biographie ge-lüstet. Wo mag sie wohnen? Wie mag sie heißen? Das beste ist, ich lasse sie hier vorbeipassiren und gehe ihr dann nach, sittsam und in bescheidener Entfer-nung, wie es einem verheiratheten Ästhetiker geziemt … oder nein … ich sehe nicht ein, weshalb ich so übermäßig bescheiden sein sollte. Mein Naturell steht mit einem solchen Vorsatz in diametralem Widerspruch. … Nun, wir werden ja sehen.
Ah, da kommt mein trefflicher Freund Leo. Schon von fern lacht er mich mit dem ganzen Vollmond seines biederen Kneipgesichts an, als wollte er sagen: »Trifft man dich auch endlich wieder einmal unter den Lebenden?«
Auch ich bin erfreut, dich zu sehen, wackerer Genosse meiner akademischen Ausschweifungen, unvergleichliches Danaidenfaß, in dessen bodenlosem Sch-lunde so manches Quart Lagerbier und so manche Punschbowle ein ruhmloses Ende gefunden.
Er schüttelt mir mit der grübchenreichen Herkulesfaust die Rechte und brummt im tiefsten Basse eine Phrase freundschaftlichen Entzückens.
»Wie jammerschade,« fügt er nach einer Weile hinzu, »daß ich gerade jetzt nicht Herr meiner Zeit bin.«
Er sieht auf die Uhr.
»Ich muß meine Tante ins Concert führen,« seufzt er stirnrunzelnd, »und gewahre mit Schrecken, daß ich bereits eine Viertelstunde Verspätung habe.«
»Ah, die Hofräthin! Nun, sie molestirt dich selten genug, und als Erbtante verdient sie einige Rücksicht. Ich will dich bei Leibe nicht abhalten.«
Noch einmal schüttelt er mir die Hand und poltert dann fürbaß über das Pflaster.
Verflucht! In der Zwischenzeit ist mir meine schöne Unbekannte entwischt. Hole der Henker alle Kneipkameraden und Hofräthinnen. Doch halt, dort biegt die Holdselige um die Ecke. Das war noch gerade Zeit, sonst hätte ich den En-gel für immer verloren. Auf und ihr nach!
In weniger als einer Viertelminute habe ich mich ihr auf fünfzehn Schritte genähert. Es hält schwer, sie bei dem dichten Menschengewühl im Auge zu behalten. Dabei schreitet sie tüchtig zu … Ja, ja, solche novellistische Naturen sind stets gute Fußgängerinnen. Im Sommer begegnet man ihnen auf dem Gipfel des Pilatus oder auf den Gletschern des Chamounithals. Ich kenne die Sorte …
Jetzt schwenkt sie seitwärts ab. Aha, sie nimmt den Weg nach der Gertrau-denstraße quer über den Markt. Nun, um so besser; auf diese Weise entferne ich mich nicht von dem Parkviertel. Es ist sieben, ich habe also vollauf Muße, mein peripatetisches Abenteuer bis auf die Hefe auszukosten. Ich muß jetzt er-fahren, welche Göttin in dieser reizenden Hülle wandelt, oder meine Mißstim-mung erklärt sich in Permanenz!
Wie seltsam doch mitunter der Zufall spielt! Da biegt sie richtig in die neue Anlage ein! Ich kann ihr also unter allen Umständen ohne Zeitverlust bis an ih-re Wohnung folgen, und wenn sie am äußersten Ende der Stadt residirte. Wirk-lich, Fortuna ist mir hold. Es hätte sich doch ebensogut treffen können, daß die kleine Zauberin mich nach dem Ludwigshain oder den Bernstädter Linden ge-lockt hätte!
Jetzt scheint sie bemerkt zu haben, daß ich ihr auf den Fersen bin. Sie hat lei-se den Kopf gewendet, sie beschleunigt ihre Schritte. Das ist entweder ein Zeichen von hohem sittlichem Ernst, oder von reizender Koketterie. Aber Gott sei Dank! Noch bin ich nicht so sehr zum Philister geworden, daß ich nicht im Stande wäre, eine solche Parforcepromenade auszuhalten. Noch habe ich mich von dem Embonpoint deutscher Familienväter freizuhalten gewußt. Bei den Göttern, diese Eilfertigkeit steht ihr entzückend. Wie fest und doch wie sch-miegsam sie auftritt. Das ist eine Poesie des Wandels, an der sich ein Apollo berauschen könnte.
Jetzt beginnt die Sache in der That humoristisch zu werden. Das räthselhafte Geschöpf schlägt immer entschiedener dieselbe Route ein, die ich wählen müßte, wenn ich direct nach meiner heimischen Wilhelminenstraße eilen wollte. Wäre ich ein gläubiger Romantiker aus der alten Schule, so dächte ich jetzt an eine moralisch gesinnte Fee, an eine ideale Personificirung meines ehe-lichen Gewissens. Die schöne Huldin wäre etwa Titania, die, von heiligem Schmerz erfüllt, ihren Liebling auf Irrwegen zu sehen, die Gestalt einer best-rickenden Sirene angenommen hätte und mich nun, ohne daß ich es ahnte, zu den Laren des häuslichen Herdes zurückführte.
So wahr ich selig werden will, da sind wir an der Ecke der Wilhelminenst-raße, und jetzt wendet sie sich nach links, – ganz der Weg, den die alltägliche Moral mir vorzeichnen müßte. Am Ende ist sie eine von den schönen Engländerinnen in Nummer 20, die ich bereits drei- oder viermal durch mein Taschenteleskop zu bewundern die Ehre hatte. Das wäre in der That ein höchst pikantes Zusammentreffen! Wenn sie nur nicht so verteufelt liefe, – daß ich ihr einmal en passant ins Gesicht sehen könnte. Aber sie scheint instinktiv zu fühlen, wie sehr sie mein Herz entzündet hat, und so scheut sie sich wohl vor einem Rencontre. Verdammt, daß der Weg an meiner Wohnung vorüberführt. Es wäre mir doch unangenehm, wenn Josephine … und wer garantirt mir da-für? Bei Mondschein sitzt sie oft stundenlang am Fenster und vertieft sich in die wundersamen Lichtspiele … Heute freilich ist sie beschäftigt …
Aber was sehe ich? Bin ich von Sinnen? Da hüpft mein bezauberndes Räthsel in meine Hausflur und eilt meine Treppe hinan. Um aller Heiligen willen, was habe ich angestellt? Gewiß eine gute Freundin Josephinens, die mich erkannt hat und mich nun in flagranti verklagen will. Soll ich ihr folgen? Oder ist es rationeller, so schnell als möglich umzukehren? Aber nein, das wäre eine Schwäche, die den Edlen entwürdigt. Was kann sie überdies sagen? Es ist nur zu begreiflich, daß ich den nächsten und bequemsten Weg nach meiner Wohnung einschlage, und die Straße ist Gemeingut. Nein, sie würde sich mit der geringsten Andeutung nur lächerlich machen; sie muß etwas anderes in Pet-to haben; also vorwärts!
Ich stürme ihr nach. Die Corridorthüre hat sich inzwischen bereits geschlos-sen. Ich klingle. Man öffnet mir. Und wer öffnet mir? Vor mir steht, in dem malerisch drapirten Tuchpaletot, in dem stahlblauen Promenadenkleide, das kle-ine Packet in der Hand, das sie auf der Straße getragen – meine Frau!
Sie schaut mir mit einem unbeschreiblich schelmischen Ausdruck ihrer dun-kelbraunen Augen ins Angesicht, wünscht mir »Guten Abend«, und eilt dann, mir nochmals herzlich zunickend, in ihr Zimmer.
Keines Wortes mächtig, starre ich ihr nach; dann entledige ich mich stumm und geräuschlos meines Überziehers, schleiche in mein Gemach und werfe mich in den Lehnstuhl. Die Hände über der Brust gefaltet, suche ich mir meine lehrreichen Erlebnisse zurecht zu legen. Nur ungern gestehe ich mir’s, aber die Wahrheit bricht schließlich durch: ich bin wüthend, wüthend auf mich, wüt-hend auf Josephine, wüthend auf meine künstlerischen und nicht künstlerischen Bestrebungen, wüthend auf alles Bekannte und Unbekannte. Ich habe mich vor meiner eigenen reinen Vernunft so colossal blamirt, daß ich nicht weiß, ob ich jemals wieder in der Lage sein werde, mir die volle ursprüngliche Hochachtung zu zollen. Mein ganzes Ich verfällt in einen Zustand moralischer Zerrissenheit; ich möchte mich ohrfeigen.
Da legt sich ein Arm um meinen Nacken, zwei frische blühende Lippen sen-ken sich auf die meinen, und eine weiche Hand streichelt mir wie beschwichti-gend über die Stirne.
Der seltsame Bann ist gelöst. Noch immer verlegen, gewinne ich doch allge-mach mein seelisches Gleichgewicht wieder. Josephine erwähnt das Vorgefal-lene mit keiner Silbe, aber ich sehe es ihrem schalkhaften Lächeln an, daß sie meine ganze Thorheit durchschaut hat.
Zwei Tage später überrascht sie mich mit den Früchten ihres improvisirten Abendganges. Ein reizendes Geburtstagsgeschenk, viel sinniger und lie-benswürdiger, als es ein Mann verdient, der die poetischen Anregungen außer dem Hause sucht. Ich schließe Josephine an mein Herz und schwöre mir ins-geheim, mich nie wieder von den Launen einer selbstbetrügerischen Verstim-mung gängeln zu lassen. Der erste Versuch einer unerlaubten Romantik ist zu schmachvoll mißglückt, als daß ich Lust verspürte, mich zum zweiten Male auf’s Glatteis zu wagen.