EIN GEBURSTAG

Von Anna Schieber

ie Lichtleskirch nannten sie es im Städtlein, das, was jetzt eben unter Orgelton zu Ende ging, und was eine Stunde lang alles, was Kinder hieß in Hohenstadt, glücklich und strahlend um zwei hohe Bäume und um viel brennende Lichtlein versammelt hatte.

So lange sie drin waren in der hohen, alten Kirche, hatten die Englein geschafft, daß es Christtag werden konnte. Den Schnee hatten sie schon zuvor hergerichtet droben am Himmel, da war eine schwere, grauweiße Wolke gehangen, und als sie drinnen anfingen zu singen: »Fröhlich soll mein Herze springen,« ließen sie draußen anfangen zu schneien. Es wurde ganz, wie es sein mußte; ein weicher weißer Teppich auf dem alten, holperigen Pflaster, eine dicke, flockige Haube auf jedem der hohen, spitzigen Giebeldächer, und geschwind in der Schnelligkeit noch eine Verzierung auf allen vorspringenden Fenstersimsen, Läden, Altanen und Staffeln. Der verwitterte Brunnenmann, der Neptun mit seinem abgebrochenen Dreizack in der Hand, lachte unter einer Pudelmütze hervor, und als das die Englein sahen, da fingen sie auch an zu lachen, denn sie waren ohnedies schon nahe daran gewesen.

Als die Kirchtüren aufgingen und es herausquoll von jungem Leben, von lauter Menschenkindern und von ihren Müttern, die zu dieser Stunde gerade so jung waren wie die Kinder auch, da huschten die Englein schnell in das dunkle Eck, unten im Glockenturm, wo die Seile zum Läuten hingen, und horchten nur von dort hinten vor auf die leuchtenden, freudigen Stimmlein der Kinder. »Mutter, guck, der viele Schnee!« »Halt, Mutter, mir ist mein Lebkuchen hinuntergefallen, jetzt ist er ganz verzuckert.« »Mutter, das Luisle hat sein Verslein nicht mehr recht gewußt.« Mutter hier und Mutter da. So muß es auch sein am heiligen Abend; da müssen lauter Mütter und Kinder beisammen sein. Und solche, die Kinder geblieben oder wieder geworden sind, und solche, die es heut abend gern sein möchten, und solche, die die Menschen liebend anschauen, wie Mütter ihre Kinder.

Der junge Pfarrverweser kam aus der Sakristei heraus und ging durch die niedrige Tür ins Freie. Er hatte sonst auch ein Kindergesicht, wenigstens sagten das die Frauen im Städtlein, die ihm aus Fenstern und Türen mütterlich nachsahen. Aber jetzt gerade hatte er keins. Er trug den Hut in der Hand und ließ sich die Schneeflocken, die jetzt seltener fielen, auf das dunkle Haar sitzen. Die Stirn hatte er ein wenig zusammengezogen, es gab drei steile, gerade Falten, die zeugten davon, daß es noch nicht recht Christtag bei ihm geworden war, obgleich er aus der Lichtleskirch kam. Das brauchte aber niemand zu sehen, darum ging er nicht über den Marktplatz und nicht durch die Gassen, sondern stieg den steilen Hang hinauf, der gleich hinter der Kirche beginnt und in den Wald führt. Dort oben am Waldrand stand eine mächtige Eiche mit weitausgereckten Armen. Eine Steinbank stand darunter und beide, die Eiche und die Bank, trugen viele eingeschnittene Namen derer, die hier oben schon Schatten, Stille und einen weiten Ausblick ins Land hinein gefunden hatten. Dorthin ging der Pfarrverweser jetzt auch. Er war schon oft auf der Bank gesessen. Im Herbst war er nach Hohenstadt gekommen, da hatte er den Wald sich färben sehen und hatte gesehen, wie die Leute ihre Gärten und Krautäcker da unten am Hang einherbsteten. Dann war er im Blätterwirbel, im Novembersturm gegangen und rings um ihn her war das rote, braune und gelbe Laub auf die Erde gesunken; er hatte sich ein kindliches Vergnügen daraus gemacht, über den farbenprächtigen, raschelnden Teppich hinzuschreiten. Nun war der Weg und die Bank verschneit und alles Lebendige war zugedeckt, wenn auch nur mit einem leichten, weißen Tuch.

Als er oben war, hatte das Schneien aufgehört. Über der jenseitigen Höhe stand schon, von einem breiten Riß in der Wolkenscheibe freigegeben, ein blasser Stern, und nun kam auch die Mondsichel heraus. Unten im Städtlein erglänzte da und dort eine Fensterscheibe, eine Straßenlaterne. Es wollte Abend werden, heiliger Abend.

Aber hier oben war es nicht heiliger Abend, noch nicht. In ihm selber nicht. Er hatte noch keine Predigt für morgen; oder ja, er hatte eine, ein trockenes, seelenloses Gemächte, er konnte sie nicht halten. Als es ihm in all den letzten Tagen nicht glücken wollte, da hatte er zuerst die für den zweiten Feiertag gemacht, dann die nächste. Die lagen geschrieben in seinem Pult. Aber eine Christfestpredigt, die fehlte ihm noch. Es war so schwer, sie zu machen, und so schwer, sie zu halten. Ja, mit den Kindern vorhin, da hatte er leicht und fröhlich reden können. Sie waren mit freudeglänzenden Augen rings um den Altar her gesessen und hatten ihre Lieder gesungen, daß es schallte, und als er nachher mit ihnen die Weihnachtsgeschichte durchsprach, da war immer ein helles Stimmlein eifriger als das andere.

»Hat’s denn die Hirten auf dem Feld draußen nicht gefroren?« »Nein.« »Warum denn nicht?« »Weil sie so eine große Freude gehabt haben.« »Warum haben sie denn so eine große Freude gehabt?« »Weil der Christtag gewesen ist.« »Ja, woher haben sie denn das gewußt?« »Der große Engel hat’s zu ihnen gesagt.« »Was hat er denn gesagt?« »Er hat gesagt, das Christkindle liegt schon im Stall drin.« »So? und wer ist denn das Christkindle?« »Der liebe Heiland.« »Kann mir denn eins sagen, wie der Engel gesagt hat?« Das konnte nicht eins, das konnten dreißig und mehr.

Ach, wie herzerfreulich war doch das. Die Mütter, das sah man ihnen an, sagten es im stillen mit, und er selber sagte es im stillen mit; es war lauter Freude.

»Waren denn noch mehr Engel da?« »Ja, eine ganze Schar.« »Hat man sie denn gesehen?« »Gesehen und gehört.« »So, wie denn?« »Sie haben so arg schön gesungen.« »Könnet ihr denn auch so schön singen?« Freilich konnten sie das. »Ja, dann singet’s einmal.« Da wurden die alten Kirchenmauern auch vergoldet wie damals die nächtlichen Felder durch die klingenden Stimmlein, die lobeten Gott und sprachen: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!«

Und sie geleiteten die Hirten hinein in das schlafende Städtlein, und er wehrte den Kindern nicht, daß sie ihnen ein Lämmlein, ein weißes, wolliges, mitgaben für das Kindlein, und sie standen vor dem Stall, über dem der goldene Stern mit dem langen Strahlenschweif glänzte, und gingen hinein, da lag das Kindlein, und seine Mutter war da und der alte Vater Joseph und das Öchslein und das Eselein. Das alles hatten die Kinder schon hundertmal gesehen; es war auf den Bildchen so, die sie heut geschenkt bekamen, und stand in Holz und in Wachs nachgebildet daheim unter dem Christbaum. »Woran haben sie denn das Kindlein gekannt und seine Mutter?« »Sie haben einen goldigen Schein um den Kopf herum gehabt.« »So, so, und dann auch an dem Kripplein, gelt und an den Windeln?«

Er hatte ihnen nichts gewehrt von all dem Glast und Schein; er hatte selber das Denken vergessen vor lauter herziger, weihenächtlicher Freude an der Freude der Kinder.

Aber es war gewesen wie in einem schönen, schönen Märlein, und nun strich der kalte Hauch aus der Welt der Erwachsenen über ihn hin. Was sollte er den Großen sagen? denen konnte er das nicht erzählen. Er hatte nichts für sie, und wenn er sich recht besann, dann hatte er auch nichts für sich.

Wenn das Denken nicht wäre! Aber das ist eben, und eigentlich möchte man es ja auch nicht anders haben. Nur daß der goldige Glanz davor erbleicht, der einen als Kind so gefreut hat, der ganze Zauber, der um den Christtag herum ist. Aber so geht’s: zuerst erfährt man’s, daß alles das Schöne, vom Christbaum an, nicht direkt vom Christkindlein kommt, sondern von den Eltern; dann, nach und nach, geht’s ans Christkindlein selber, dann löscht ein Lichtlein ums andere aus. Was soll man dann so Besonderes predigen?

Da fiel ihm ein Brief ein, den ihm voriges Jahr um diese Zeit seine Schwester geschrieben hatte. Sie war eine fröhliche Kindermutter, und sie hatte ihn immer besonders gut verstanden.

»Er ist der Schönste und Liebste,« schrieb sie, »und es gehört sich, daß man sich an seinem Geburtstag freut. Darum machen die Mütter den Kindern ein Fest, und Alle, die einander lieb haben, machen einander ein Fest, weil er geboren worden ist und weil es gut für uns ist, daß er gekommen ist.«

»Ja, ja, Maria,« dachte er für sich hin, als es ihm einfiel, »du hast gut freuen, wenn dich deine sechs Kinderaugen ansehen, – nein, acht sind es jetzt, seit dir das Kleinste in der Krippe, will sagen in der Wiege liegt. Ich möcht’ auch dabei sitzen und mich nicht besinnen müssen, was wahr ist und was dazu erfunden. Die Mutter wäre dann auch da. (Denn die Mutter wohnte bei der Schwester; sie war ein wenig kränklich, und dann brauchte man sie auch als Großmutter ganz notwendig.) Ich aber, ich soll etwas Freudiges geben und habe doch nichts. Ich bin nicht froh, Maria.« Aber leis wiederholte sich doch das Wort in ihm: Es ist gut für uns, daß er gekommen ist. – »Ja, ja, aber man sollte still sein dürfen, bis einem die Freude darüber das Herz füllt und überläuft, daß man es dann sagen müßte. Dann könnte man den goldigen Schein und das Engelsingen gut vermissen, es täte dann nichts. Man sollte froh sein, wenn man eine Christtagspredigt macht, tief innen drin froh.«

Drunten im Städtlein glänzten nun immer mehr helle Fensterscheiben auf. Die Kirche, die lag jetzt schwarz und schwer im Dunkeln, daneben war das Pfarrhaus, man sah es nur von hinten hier oben. Es hätte ja auch keine hellen Fenster gehabt, wenn man es gesehen hätte. Es war niemand drin. Frau Beseler, das Pfarrhausfaktotum, die ihm die nötigen Dienste tat, die war nun bei ihren Enkelein am anderen Ende des Städtleins. Er wußte schon, wie es war, wenn er hinunter kam. Die Studierstube war warm, die Lampe stand zum Anzünden bereit, auf dem Tisch stand der Spirituskocher zum Teemachen und irgend etwas Kaltes zum Essen lag dabei: das war immer so und es genügte ihm auch sonst; aber es war nicht christtäglich. »Daran will ich jetzt nicht denken; wenn mir nur etwas Frohes einfiele, etwas Wahres für die Großen. Etwas, das nicht nur so geredet ist, etwas, das ich ihnen schenken kann, weil ich’s auch geschenkt gekriegt habe.«

Droben am Himmel brannten jetzt die Sterne, da ein Häuflein und dort eins, zwischen Wolken heraus. Der ganze Wald stand schweigend da, als ob er auch den Atem anhielte und wartete, ob der junge Pfarrverweser etwas geschenkt kriege. Der sinnierte weiter. »Einen Brief werde ich antreffen, wenn ich hinunterkomme, von der Mutter einen, und vielleicht auch von Maria. Und, wer weiß, ein Paket. Es sind selber gestrickte Strümpfe drin, und Springerlein und Lebkuchen, und vielleicht eine Pelzkappe; die habe ich mir gewünscht. Und sie schreiben mir, daß sie mich vermissen am Christtag, und daß man nun eben von Weitem in Liebe aneinander denken müsse, und so weiter. Nun will ich hinunter gehen und den Brief lesen, den Lukas einst geschrieben hat und der aus so ferner Zeit zu uns herüberredet, und – und will vor mich hinsagen: Es ist gut für uns, daß er gekommen ist; man muß sich freuen, weil sein Geburtstag ist.«

Aber er stieg nicht schnell und nicht mit der leichten Schwingung, die die Freude gibt, hinunter. Nun war er an der Kirche. »O du Haus, du Sorgenhaus!« Er sagte es aber nicht ohne Liebe; er hatte einen Zug zu dem Haus, nur freilich, Sorgen machte es ihm ja dennoch. Nun um die Ecke und –

Das war aber doch sonderbar, da waren die drei Fenster seiner Studierstube hell, viel heller, als sie sonst schienen, wenn die Stehlampe brannte. Sollte Frau Beseler da sein? sie hatte sich aber doch ausdrücklich verabschiedet für den Abend. Da stieg er die dunkle Treppe hinauf und durchschritt den mächtigen Oehren, in dem ein kleines Lämpchen brannte, und machte die Stubentür auf, – da saß in dem großen Lehnstuhl, den er von seinem Großvater ererbt hatte, ein kleines, altes Fraulein, das er so gut kannte, so gut. »Mutter, du.« Da lag auch schon der Hut auf dem Tisch, und der starke junge Mann hatte die alte Frau auf dem Arm und drückte sie an sich, wie eine Liebste, und trug sie in der großen Stube umher, bis sie, da alles Zappeln und Schelten nichts half, ihn tüchtig ins Ohrläppchen kniff, daß er sie niederlassen mußte. Unterwegs hatte sie die großen weichen Schuhe verloren, die ihr viel zu weit und zu lang waren. »Hast du meine Hausschuhe gefunden, Mutter?« »Ja, unter dem Bett den einen und unter dem Waschtisch den anderen. Du hast sie hinten hinuntergetreten, sie sehen bös aus. Ich habe in der Lichtleskirch kalte Füße bekommen.« »In der Lichtleskirch, Du?« »Ja, ich,  – ich bin gleich vom Zug aus hineingegangen, ihr habt grad gesungen: O du fröhliche.«

»Daß Du gekommen bist, daß Du gekommen bist!« Er saß jetzt auf dem Boden vor ihrem Stuhl und hatte sein allerhellstes Knabengesicht. »Ja, gelt, da staunst du. Aber ich habe müssen, es hat mir keine Ruh’ gelassen. Immer hab’ ich gedacht: wir sind da so schön beisammen und freuen uns, und der Paul ist ganz allein.« »O Du, Du Mutter.« »Und die Maria hat auch noch geschoben. So leid mir’s tut, hat sie gesagt, wenn du nicht da bist am Christtag, so mußt du doch gehen. Ich spür’s, er ist nicht vergnügt, hat sie gesagt. Bist du’s?« Sie schob ihn ein wenig von sich und sah ihm in die Augen. »Wenn du da bist, Mutter.« »Nein, sag.« »Jetzt sag’ ich gar nichts sonst, als daß ich den Christtag spüre, seit ich dich da sitzen sah in dem Stuhl. Es ist mir wie ein Wunder.«

Da gingen seine Augen in der großen Stube umher. Sie war freilich heller als sonst, das hatte er von unten herauf richtig gesehen. Zwei große, dicke Wachslichter brannten auf dem Schreibtisch und zwei auf dem Eßtisch und in der Ecke an der Wand steckte ein Weißtannenzweig mit vier weißen Lichtlein. Sie brannten still und hell und das Wachs und die Tannennadeln rochen nach Weihnachten. »Nachher mußt du ein wenig hinausgehen, wie ein kleines Kind, ich muß dir deine Bescherung richten,« sagte die Mutter, »ich habe einen schweren Reisesack mitgebracht. Sieh, da steht er.« Es war alles so unsäglich heimelich. Der Reisesack war von dunkelgrünem Plüsch und hatte schon so viel erlebt, daß man ganze Bücher über ihn hätte schreiben können. Der Sohn nahm ihn in den Arm. »O, ich spürs, da unten im Eck ist ein Schnitzlaib, und da rollt etwas umher, das sind Nüsse und Äpfel. Laß mich einmal hineinriechen, Mutter.« »Du Kindskopf, du hast immer noch nicht warten gelernt, du willst immer gleich alles sehen und haben.« »Ja, das muß ich. Du, Mutter!« »Was?« »Du mußt mir nachher helfen meine Predigt machen.« »Welche Predigt?« »Auf morgen früh.« »Ja, Kind, das ist doch dein Ernst nicht, daß du die noch nicht hast?« fragte die alte Frau erschrocken. »Doch, Mutter.« »Aber Bub, du unbegreiflicher Bub, und da läufst du noch im Wald herum bei Nacht und Nebel und mußt dafür in die heilige Nacht hinein studieren.« »Ich hab’ sie da oben holen wollen und hab’ sie nicht gefunden, ich glaube aber, du hast mir eine mitgebracht.« Die Mutter schüttelte den Kopf. »Das versteh’ ich nicht, Paul. Ich glaub’, die Maria hat rechtgehabt, daß etwas bei dir nicht im Blei ist. Ich kann dir nichts helfen beim Studieren, ich bin eine alte, einfache Frau. Ich hab’ gemeint, da setze man sich hin und schaffe drauf los, bis man’s beisammen habe.« »Sei nur zufrieden, Mutter, das tu’ ich sonst auch. Du sollst nur dahinein sitzen in den Lehnstuhl, daß ich dich sehen kann, wenn ich mich umdrehe.« »Ja, dann müssen wir zuerst zu Nacht essen. Deine Frau Beseler hat mir die Schlüssel gegeben, da hab’ ich derweil, bis du gekommen bist, alles gerichtet. Hörst du nichts im Ofen protzeln?« »Doch, jetzt, seit du’s sagst.« »Riech’ einmal, was es ist.« »Es riecht alles zusammen nach Christtag, sonst fällt mir nichts ein.« Da war es ein junges Häslein; es war schon gebraten mitgekommen; es mußte nur wieder warm werden.

»Eine Flasche Wein hab’ ich auch mitgebracht, aber wenn du noch studieren mußt, wird’s nichts damit sein?« »Doch, Mutter, ein einziges Glas, wir müssen doch anstoßen. Du, Mutter!« »Was?« »Sag’ mir’s, warum bist du zu mir gekommen?« »Du fragst aber auch Sachen.« Sie sah ihn an mit ihren guten Augen, die es ganz von selber sagten. »Das weißt du doch. Weil ich dich lieb habe, du dummes Kind.« Sie sagte heut immer Kind zu ihrem langen Sohn. Der schluckte zu seinem Essen hin jedes gute Wort in sich hinein und trank mit jedem Tropfen des roten Weines einen Blick aus den mütterlichen Augen, die aus tausend Fältchen heraus so voll warmen Lichtes blickten, als seien sie Fenster an einem guten Haus, und in dem Haus sei Weihnachten.

Dann setzte sich der junge Pfarrer an seinen Schreibtisch. Die Lampe durfte jetzt nicht brennen, er wollte im Schein der Wachskerzen studieren; sie waren dick, sie konnten noch stundenlang brennen. Hinter ihm saß im Lehnstuhl die alte Frau. Sie hatte wieder die großen Schuhe an und hatte ein warmes Tuch um Hals und Schultern. Den Kopf lehnte sie an das weiche Polster und die Füße stellte sie auf den Reisesack. »So ists gut, jetzt schaff nur und denk nicht an mich; ich hab meine Unterhaltung in mir drin.« »Was ists für eine?« fragte der Sohn. »Ach, Kind, wenn man’s schon so oft hat Weihnachten werden sehen; da muß man lang, lang zurückdenken; Eins ums Andere fällt einem ein. Es ist nicht immer alles schön gewesen, aber so beim Drandenken, da wirds immer schöner.« Dann machte sie die Augen zu, um in sich drin die alten Zeiten zu Gaste zu laden, und nach einer Weile hörte der Sohn sie tiefer atmen. Und auf ihn senkte sich, da er nun die liebe Frau schlafend sah, eine köstliche Ruhe, wie er sie lange vergebens begehrt hatte, und lichte, stille Gedanken kehrten bei ihm ein, es war kein einziger gequälter mehr dabei.

»Sie ist zu mir gekommen, weil sie mich lieb hat.«

Dann ging er im Zimmer auf und ab. »Sie hat mich nicht so allein lassen wollen. Sie hat’s schön gehabt daheim bei den andern. Aber das hat alles nichts geholfen, wenn sie gewußt hat, daß ich nicht froh bin.« Er hätte ihr die Hände küssen mögen, die so müd in ihrem Schoß lagen; aber eine solche Zärtlichkeit war nicht bräuchlich zwischen ihnen, und er wollte sie auch nicht wecken. Und doch gab sie ihm seinen Predigttext: »Es ist gut für uns, daß er gekommen ist. Denn er hat uns Menschen lieb gehabt und wir können es brauchen, daß man uns lieb hat.« Da setzte er sich wieder nieder und schrieb und schrieb, und sah sich hie und da wieder um nach dem lieben Frauenbild.

Hinter ihm regte sich etwas. »Mutter?« »Ja, Kind, bist du fertig? es muß ja spät sein, bist du arg müd?« »Nein, nein, ich bin ganz frisch und ganz froh.« »Das ist doch sonderbar, jetzt hat mir geträumt, du seiest ein ganz kleines Kindlein und ich habe dich auf dem Schoß und ziehe dich ganz fein und schön an. Und der Vater ist dazu gekommen und hat gesagt: Was machst du auch für einen Staat mit dem Buben, wenn er größer wär, du tätst ihn eitel machen. Und ich habe mich gewehrt und gesagt: Mann, was man so lieb hat, das schmückt man, so gut man kann; es kann einem gar nicht schön genug sein.« Die alte Frau mußte den Kopf schütteln über den Traum, den ihr liebreiches Mutterherz ihr eingegeben hatte, aber noch mehr über ihren großen Sohn, der nun neben ihr auf der Armlehne des Stuhls sich niederließ und ganz dringlich sagte: »Ja, ja, Mutter, gelt, und man schmückt es mit Sternen und Himmelsglanz und mit Engelgesang und schafft aus lauter Liebe wunderbare Mären, die alle von Herzen wahr sind, weil sie die Liebe geschaffen hat.« Das war so sonderbar, halb gemahnte es an die Weihnachtsgeschichte, aber das konnte ja doch nicht sein. Mären! Sie richtete sich vollends auf und sagte: »Du träumst auch, Kind, im Wachen träumst du. Es wird’s doch der Wein nicht machen?« »Nein, Mutter, die Christnacht machts.« Und er hatte sein echtes, rechtes Kindergesicht dabei. Wenn ihn so die Maria sähe! dachte die Mutter voll glücklichen Stolzes. Laut sagte sie: »Hast du deine Predigt fertig?« »Meine? Deine, Mutter.« »Ach, du redst Sachen; sag’s im Ernst.« »Du wirst’s morgen schon hören in der Kirche.« Da wurde sie ärgerlich. »Ich setze keinen Fuß hinein, wenn du ein einziges Wort von mir sagst.« »Sei nur zufrieden, Mutter, es merkt’s niemand, als Du und ich.« Und da küßte er nun auf einmal doch die alten, abgeschafften Hände. Sie entzog sie ihm, aber nur, um mit ihnen den dunklen Kopf auf ihre Knie herabzuziehen; da lag er, still und fest, wie er einst als kleines Kindlein darauf gelegen war. Und es war, wie es am heiligen Abend sein muß, wo Mütter und Kinder beisammen sein sollen.

»Du Paul.« »Ja?« »Willst du jetzt noch deine Bescherung bekommen?« »Ich hab sie schon, Mutter!« »Aber, Kind, der Reisesack ist doch noch zu und noch voll, das ist dir sonst nicht so einerlei gewesen.« »Ja, Mutter, dann pack nur aus. Man kann gar nicht genug geschenkt kriegen, gib nur her, so viel du hast.«

Und dann stand er draußen am Gangfenster und sah in die sternhelle Nacht hinaus. Drinnen hantierte die Mutter auf weichen Filzschuhen im Zimmer herum; er durfte nicht zusehen, das war noch nie der Brauch gewesen bei ihren Kindern. Es raschelte etwas, eine Nuß fiel auf den Boden, es klirrte etwas, wie Glas. Und dann ein Tönen, hoch her kam es; er glaubte einen Augenblick, eh das Denken kommen konnte, die Engel singen zu hören. Es waren aber nur die Schulkinder, die auf dem Turm sangen, da eben die Mitternachtsstunde schlug:

Wir wollen ihm die Krippe schmücken,

und bei ihm bleiben die ganze Nacht,

die Händ ihm küssen und verdrücken,

dieweil er uns so Guts gebracht.

Aber wer weiß, vielleicht haben sie doch auch mitgesungen. Es gibt so wunderbare Nächte, da Nichts unmöglich ist.