PANIK

Auguste Hauschner

Eine Prager Geschichte

Sie gingen ihrer dreißig aus der Ortschaft Motice heraus, dem Bahnhof zu. Voran die Männer mit dem Vinzenz Zastoupil als Führer. Hinter ihnen, in regellosen Reihen, die Weiber, von denen einige das Brustkind in den Armen trugen. Dann kamen die jungen Mädel, in ihre Liebsten eingehängt. Und ganz zuletzt kam noch die alte Babi Skoupek, die sich auf Stöcken mühsam fortbewegte. Sie gingen durch die winterlichen Felder, unter den beschneiten Bäumen, deren Zweige sich im Nachtwind ächzend hin und her bewegten und ihnen feuchte Flocken in den Nacken warfen. Aus dem bewölkten Himmel fiel kein Licht herab; das Auge sah die Straße nicht. Oft versank der Fuß im Schlamm, stieß an Steine, scheute über Wurzeln. Dann gab es einen Aufschrei, einen Fluch, ein Lachen. Doch ohne anzuhalten wanderten sie weiter.

In kurzen Pausen stieg aus jungen Kehlen mehrstimmiger Gesang. Die schwermütig weichen Töne eines Volksliedes mischten sich in das Gespräch der Alten, die eifrig überlegten, ob sie den Zug auch noch zur Zeit erreichen würden. Und ob das Gerücht vielleicht doch falsch sei. Es war ja auch kaum glaublich: die česka spořitelna, die große, reiche Sparkasse der Deutschböhmen, sollte zugrunde gehen! Freilich: der Vinzenz hatte heute gelesen, wer noch etwas kriegen wolle, der müsse laufen. Und was gedruckt ist, schwarz auf weiß, muß wahr sein. Damals den Krach der Wenzelskasse, den hat auch niemand glauben wollen. Und waren doch da noch andere Sicherheiten – bei der Kirche! – als bei diesen Hunden, den verfluchten Deutschen …

Bei solchen Reden schoß die Angst von neuem in das Blut der Bauern. Ihre Schritte wurden schneller, und ihre Finger betasteten den Schatz, den sie versteckt am Körper trugen. Das dünne Buch, den Ausweis ihrer schwer ersparten Gulden. Dem Anton Zimprich sollten sie ein Schwein verschaffen. Der Marie Lukesch die langersehnte Kuh. Dem Johann und der Rosa Dostal ging es um das kleine Feld, das sie bisher als Pächter pflügten. Der Kathi Jahoda und dem Josef Kratky um Tisch und Stuhl und Bett und eine Wiege für das ungeborene Kind. Die Babi Skoupek wollte sich ein ehrliches Begräbnis sichern und sechs Messen für das Heil der Seele. Die Nanny Zlatka sparte, um ein rotes Kleid zu kaufen und zwei seidene Schürzen. Der Karl Jakesch, um durch einen Halsschmuck von Granaten die Gunst des eiteln Mädels zu gewinnen. Für jeden hatte das Ersparte eine andere Bedeutung und für alle doch dieselbe. Es war das Licht im Dunkel ihres Lebens, das Sandkorn Überfluß in der Wüste ihrer Not.

Als der Zug in den Bahnhof einlief, fanden die aus Motice das Abteil dritter Klasse angefüllt mit Landvolk aus den Nachbardörfern. An allen Stationen strömten noch Leute hinzu. Alle wurden von derselben Not an dasselbe Ziel getrieben. Und jeder wußte neue Unglücksbotschaft. Ein Mann zog einen Brief heraus, den ein Geschwisterkind an ihn geschrieben hatte: »Du mußt Dich tummeln, Menschheit rennt nur so auf Kassen, sind schon beinah’ leer.« Ein anderer erzählte, ein Freund von ihm sei schon zweimal vergeblich um sein Geld gegangen; immer habe man ihn vertröstet. Viele berichteten von der wilden Wirtschaft, die wirklich auf der Sparkasse gewesen war. Keine Aufsicht. Falsche Rechnungslegung. Alle Kontrollbeamten bestochen. Sogar der Statthalter und viele hohe Herren haben Trinkgelder bekommen. Na und überhaupt! Deutsche Schulen hat man unterstützt; mit dem Geld von armen Leuten!

Nein: für den Aufstand in Mazedonien (niemand wußte, wer das war) sind Millionen draufgegangen.

Dumpfe Wut erfüllte die Gemüter. Das Gespräch verstummte. Der Qualm der Pfeifen und der Dunst der Menschenleiber verdüsterte noch das trübe Lampenlicht. Durch die dicke Luft drangen Seufzer und Stoßgebete. Kinder weinten, Männer schnarchten, Mütter sangen leise ihre Säuglinge in Schlaf; nur die Jugend, leichtsinnig, verliebt, kicherte und küßte in den Ecken. Draußen aber schrie die Dampfmaschine, wie um Hilfe, gellend durch die Nacht; die Räder rollten kreischend ihre Fracht von Menschenangst und Menschenelend. Und der Zug ging langsam, hielt an allen Stationen. Unbekümmert um die Ungeduld, die in ihm fieberte und bebte. Bis er endlich, endlich in die Hauptstadt einfährt. Stoßend, fluchend kämpft sich die Menge nach dem Ausgang durch. Jeder will als erster das Haus erreichen, zu dem alle hindrängen.

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Die aus Motice halten sich zusammen. Von der Geldgier angespornt hasten sie durch die breite Vorstadtstraße. Sie ist ausgestorben. In den einförmig gebauten, arm und grämlich blickenden Gebäuden sind alle Fenster dunkel, wie erblindet. Nur selten ist ein Erdgeschoß erleuchtet und mit blutroten Gardinen fest verhangen. Aus der Tiefe seiner Zimmer dringt Gesang von heiseren Frauenstimmen und der Brummton schlechtgestimmter Wirtshausbässe.

Plötzlich wird irgendwo in einer Schenke eine Tür geöffnet, ein wirrer Menschenknäuel windet sich heraus. Man hört Ringen, Rennen, Weiber kreischen und Betrunkene brüllen: »Haltet ihn!« »Schlagt ihn tot!« »Zu Hilfe!« »Patrouille! Patrouille!« Dann folgt wieder Todesstille. Und in der Luft, die fahlfarbig wie Asche ist, in dem Frösteln dieser Dämmerstunde, hängt bleischwer eine hoffnungslose Traurigkeit.

Die Bauern traben vorwärts. Ihre schweren Tritte erwecken weithin einen dumpfen Widerhall. Es ist, als stampfte eine Herde Tiere durch die Gassen.

Jetzt füllt ihre Last die Kettenbrücke, die sich schaukelnd hin und her bewegt. Blasse Nebel steigen aus dem Flußbett und verhüllen die Umgebung. Aber ein verworrenes Rauschen kündet den Wandernden von weitem: sie sind nicht die ersten am Ziel. Spät kommen sie, zu spät vielleicht.

Da laufen sie, als könnten sie verlorene Stunden wieder fangen. Sie stürzen vorwärts, bis sie, am Brückenende angelangt, sich jählings rückwärts werfen. Wie die Woge zurückschlägt, die an den Stein des Schutzwalls brandet. Eine Mauer von Berittenen sperrt den Weg. Als Kette umschließen sie den Platz vor dem Sparkassengebäude, pferchen die Versammelten ein und wehren den Zuströmenden den ungehemmten Einlaß. Wie durch eine schmale Gasse müssen sie sich zwischen Pferdeleibern und Pferdehufen in die Gruppen der zuletzt Gekommenen drängen. Da stehen sie, von Nebeln eingeschlossen, eingekeilt in eine dunkle Menschenmasse, und müssen warten.

Nach und nach erhellt sich die Luft ein wenig. Die fahle Dämmerung gebiert den grauen, regenschweren Tag. Windschauer künden sein Kommen. Sie zerren an den feuchten Kleidern der Harrenden, die frierend auf den nassen Steinen hocken, reißen die Nebel auseinander und entschleiern die Landschaft.

Ein breiter Strom fließt ruhig zwischen den Quadersteinen der Kaieinfassung. An seinem linken Ufer baut sich ein Teil der Stadt auf; das altertümliche Aristokratenviertel, dessen Kirchen und Paläste mit ihren Türmen und Fassaden aus dem Gewühl der Bürgerhäuser ragen. An steilen Höhenzügen steigt es aufwärts und trägt als stolze Krone die alte Königsburg, deren Masse sich wuchtig von dem Dom mit dem feinen Spitzenwerk der Strebebogen abhebt. Ein wundervolles Bild, der Schwere ganz entkleidet in dem Morgendunst, der es in fließenden Luftstoff hüllt.

Nur hundert Schritte weit, nur bis zum Rande das Kaiufers brauchen all die Menschen hinzutreten, um es in sich aufzunehmen. Und den Anblick der vielen kühngeschwungenen Brücken, der Inseln, die im Fluß gebettet liegen, und der Wehren, über die das Wasser tosend schäumt. Doch hätte selbst der Zaun der Wachen sich aufgetan: diese Menschen hätten den Kopf nicht nach links gekehrt. Ihre Augen sind für Natur und Schönheit ganz verschlossen. Sie sehen nichts als das Gebäude, das ihre Hoffnungen einschließt, und die Menge, die sie davon trennt. Sie bohren ihre Blicke in die Mauern, als könnten sie durch ihre Ritzen dringen und entdecken, welches Schicksal sich für sie dahinter vorbereite.

Die Qual ist unerträglich. Da ist das Haus; man braucht nur hineinzugehen. Und muß warten, als wär’s meilenweit entfernt. Drei Stunden muß man noch warten, ehe das Tor sich öffnet. Und wie viele Stunden, ehe die Reihe an einen kommt! So viele Feinde vor sich, so viele Nebenbuhler in dem Kampf um das ersparte Geld. Jeder haßt grimmig seinen Vordermann und seinen Nachbar. Vielleicht ist der gerade der letzte, dem vergönnt ist, seine Habe zu erraffen und seinem Nachbar das bißchen Eigentum zu stehlen.

Der Menschenhaufe wächst noch immer; umritten und geknufft, getreten und gestoßen. Und aus der dunkeln Masse steigen aufreizende Klagen und Gerüchte.

»Hör’ ich, sind die Kassen leer.«

»Wahr ist es. Die Millionen, mit denen die deutschen Zeitungen sich berühmen, stehen nur auf dem Papier.«

»Alles haben sie verspekuliert.«

»Mit den Türkenlosen; die sind so gefallen.«

»Kein Gedanke! Für die deutschen Wahlen sind dreißig Millionen draufgegangen.«

»Was euch nicht einfällt! Den deutschen Fabrikanten hat man aufgeholfen. Deutschen Studenten hat man Geld geschenkt und große Häuser.«

»Mit dem Schweiß von armen Tschechen haben diese Schweinehunde sich gemästet!«

»Stinkende Gemeinheit! Wo das ihnen gar nicht gehört. Wo das ihnen von Kaiser Franz geschenkt ist, daß es armem Volk zugute kommt!«

Ein Brummen, Rollen, Brausen, das sich nach und nach verstärkt, hallt durch die Straßen. Die Stadt ist erwacht und schickt ihre Boten. Allerlei Verkäufer drängen sich heran. Mit Brezeln, warmen Würsten, Bratkartoffeln, Kastanien und gebackenen Fischen. Und durch die Kette der Berittenen kriechen seltsame Gestalten. Männer in verschlissenen Röcken, unrasiert und ungewaschen, manche noch im Schlafrock mit Pantoffeln. Wie Geier, die Beute wittern, umkreisen sie die Wartenden, schieben sich an die Gefolterten, Erschöpften heran, schüren ihre Aufregung und Angst; flüstern ihnen zu, daß die Sachen schlecht stehen; daß sogar die deutschen Einleger schon alle ihr Vermögen behoben haben; daß sämtliche Wertpapiere der Sparkasse versetzt sind; daß sich heute nacht einer von den Direktoren erschossen hat; daß zwei andere in Wien vergeblich von Tür zu Tür laufen und um Hilfe betteln. Sie lassen sich die Büchel zeigen, schütteln bedauernd die Köpfe, weisen nach, daß kein Kreuzer mehr darauf zu kriegen sei, und sind nur aus Mitleid und aus Menschenliebe erbötig, die wertlosen Dokumente für ein Geringes einzulösen.

Häßliche Weiber, die ungekämmten Haare unter wollenen Hauben, um die fetten Hängebrüste buntkarierte Umschlagtücher, machen sich an junge Frauen, an die hübschen Mädel. Sie suchen sie für Stellungen zu werben, deren Vorteile sie lockend schildern. Wenig Arbeit, hoher Lohn, alle Tage Fleisch, Bier und Mehlspeise; und abends Freiheit, um zur Tanzmusik zu gehen und sich zu unterhalten.

Freche, rotgeschminkte Dirnen gehen auf dem Pflaster auf und ab, lauern dem Mannsvolk auf; wenn es, die Taschen voll Geld, die Großstadtfreuden kennenlernen will …

Ein aufgeregtes Meer von Leidenschaften und Gelüsten umwogt das Gebäude, das grau und düster, mit festverschlossenen Fensterläden, dasteht; ein Fels, den der Gischt der Brandung nicht erreicht.

Die aus Motice waren voneinander losgerissen. Nur die Paare, die sich ganz fest verklammert hatten, waren nicht getrennt. Der Karl Jakesch hielt die Nanny Zlatka dicht an sich gepreßt. Er ließ sie nicht erfrieren, und ihm ward die Zeit nicht lang. Den Bankkrach und die Kälte hätte er gesegnet, ohne die eifersüchtige Wut auf die Begehrlichkeit der Burschen, die sich an seine Liebste drängten und sich mit Worten und Gebärden an ihr zu schaffen machten. Nicht weit von diesen beiden saß die Kathi Jahoda auf der Erde. Mitleidige hatten dem armen Weib aus ein paar Bündeln einen Sitz geschaffen. Darauf hockte sie, lehnte sich an ihren Josef und erleichterte ihr schweres Herz von Zeit zu Zeit mit einem Tränenstrom. Die alte Babi Skoupek aber hatte sich, trotz Fußtritten und Rippenstößen, wie eine Katze vorgeschlichen, bis zu dem Prellstein dicht beim Eingangstor der Kasse. Den Rücken an den Stein gelehnt, den müden Körper schwer auf ihren Krücken, murmelte sie ein Ave um das andere. Sie wollte ja die Gulden nicht verjuxen und verfressen. Darum mußte die Jungfrau Maria auch ein Einsehen haben und ihr zu ihrem Geld verhelfen, damit sie nicht verdammt sei, im Fegefeuer gebraten und gespießt zu werden.

Jetzt geht ein Dröhnen durch die Luft. Von allen Türmen schlägt es neunmal. Das langverschlossene Tor dreht sich in seinen Angeln.

Wie ein reißender Gebirgsstrom stürzt sich die Menge in die Öffnung. Sie beachtet die Fäuste nicht, nicht die Pferdehufe und das Kreischen der getretenen Frauen und gequetschten Kinder. Es gibt Wunden wie in einer Schlacht, als die Polizisten, mit der Rücksichtslosigkeit der Notwehr, die schweren Flügel wieder schließen, unbekümmert um die Menschenleiber, die sich dazwischen pressen, klammern und stemmen. Ein ganzer Schwarm ist trotzdem schon in das Haus gedrungen; und auf der Treppe, die in den Lichthof führt, wiederholt sich der Kampf. Die Schwächsten werden in den Hof geworfen, wo sie an den Brunnen stürzen, verschmachtet trinken, sich dann entkleiden und waschen, überhaupt tun, als wären sie in ihrem eigenen Haus. Ihre glücklicheren Gefährten balgen sich inzwischen um die Plätze an den Kassenschaltern. Und die Marter der bangen Nacht- und Morgenstunden steigert sich im Augenblick der äußersten Entscheidung zur fürchterlichen Spannung.

Die ersten, die ihr Geld in Händen halten, stoßen Töne aus wie Tiere, die, den Bissen schon im Maul, noch eines Raubes gewärtig sind. Ihr Aufschrei überreizt die Erregung derer, die schon sehen und noch nicht haben. Ihre Augen treten aus den Höhlen, ihre vom Fieber trockenen Lippen sind weit geöffnet. Sie knittern das Kassenbuch in ihren Fäusten und schieben sich besinnungslos vorwärts. Bis auch sie das Rascheln des Papieres, den Klang des Geldes hören und alle Pein im Freudenrausch vergessen.

Viele hat der jähe Übergang von Verzweiflung zu Entzücken ganz betäubt. Sie wurzeln im Boden und müssen fortgetrieben werden, damit die Menschenwoge, die von neuem zu der Schwelle des Parteiensaales aufsteigt, sie nicht verschütte.

Ein Weib, das eben einen Tausender erhoben hat, hält ihn verkehrt in ihren Fingern und bestarrt verständnislos das Stück Papier. Man muß ihr den Wert erklären. Ihr schwindelt. So reich ist sie? Und solches fürstliche Vermögen steht auf diesem kleinen Wisch? Als sie ihn bergen will, zerreißt sie ihn, so beben ihre Glieder.

Ein zweites Weib verlangt Gold, reißt die Rollen auf und taucht mit hysterischem Gelächter ihre Hände in die blanken Münzen.

Manche brüllen auf vor Glück, sobald sie ihr Vermögen zu Gesicht bekommen. Dann erklären sie sich befriedigt. Ihr Geld ist da; sie haben es gesehen, betastet. Nun soll es die Kasse wiederum behalten. Schwer ist ihnen beizubringen, daß dies nicht ohne weiteres zu machen sei.

Das Mißtrauen anderer ist um so größer. Sie verweigern die Annahme der Summe, um die sich, durch die Zinsen, ihr Sparpfennig vergrößert hat. Sie halten diesen Überschuß für Bestechung und wittern, daß man sie in eine Falle locken wolle.

Inmitten dieses Wirbelwindes von Zweifeln, Wünschen und Bedenken stehen die Beamten ruhig hinter ihren Schranken. Sie sind übermüdet und erschlafft und halten sich nur mühsam aufrecht. Aber unbeirrt und gleichmütig versehen sie den Dienst, und nichts in diesem Ansturm scheint sie zu erschrecken. Ist ihre Zuversicht erheuchelt, ist sie echt? Ist der Goldquell, aus dessen Fülle sie seit Tagen schöpfen, unversiegbar, oder ist er dem Vertrocknen nahe? Ruht das Gebäude des Vertrauens, an dem sie mitgebaut hatten, auf unerschütterlichem Grund, oder wankt es in seinen Pfeilern und droht in der nächsten Stunde einzustürzen und die Wohlfahrt Hunderttausender unter seinen Trümmern zu begraben? Keine Bewegung ihrer überwachten Züge verrät, was sie empfinden. Mit unermüdlicher Geduld halten sie den Fragen Stand, rechnen und zahlen, beruhigen, beraten und erklären und finden noch die Kraft, den Mut der Einleger durch Scherze zu beleben.

Dem trüben Tag ist Dunkelheit gefolgt. Das Glühlicht flammt auf und steigert die Hitze. Aller Sauerstoff ist aus der Luft geatmet; sie ist vom Gluthauch wilder Leidenschaft verbrannt. Schlechte Dünste und Gerüche ballen sich zusammen und durchziehen sie in dicken Streifen. Wie im Nebelwetter auf der Straße ein Strahlenkranz um die Laternen zittert, so schwebt irisierend der Staub um das Glas der Lampenglocken. Dick lagert er auf dem Holz der Schalter, klebt auf der Haut und auf der Kleidung, dringt in alle Ecken, überzieht Banknoten und Dukaten. Aus seinem Grau hebt sich nur der Farbenfleck der Kassenbücher, die sich auf den Pulten türmen und deren Einband verrät, daß sie alle aus tschechischen Bezirken stammen. Rot leuchten sie aus dem Düster. Es ist, als überströmte Blut die Tische. Das Lebensblut des Volkes, das in nationalem Haß sich selbst zerfleischt, um den Gegner zu vernichten.

Es ist Nacht geworden. Bleiern lähmt Müdigkeit die Tatkraft der Beamten. Schweigend, mit automatischen Gebärden, von Staub und Rauch in Schleier eingehüllt, bewegen sie sich hin und her wie Schatten. Doch die Wut des Ansturms tobt unvermindert. Wie dem Sagentier für jedes abgeschlagene Haupt ein neues wuchs, so kommt der Menge vor dem Tor für jeden Trupp, der abzog, neuer Zuwachs aus den Straßen. Und der Anblick der Beglückten, die ihre Habe geborgen mit sich führen, schürt, statt sie zu dämpfen, ihre fieberhafte Angst.

Unmöglich scheint, daß der Vorrat noch immer reichen könne. Vielleicht werden in diesem Augenblick die letzten Summen ausgeteilt, vielleicht erbeutet der Vordermann, der eben ins Haus gedrungen war, das letzte Goldstück. Sie aber würden nur die leeren Kassen finden, den Bankerott, das Elend.

Als sich um Mitternacht die Tore zum letztenmal in ihren Angeln drehen und sich dann erneutem Eingang kreischend schließen, ohne Rücksicht auf die Verzweifelten, die sich zwischen die Flügel werfen, klammern und stemmen, da geht ein Wehruf durch die Reihen der Enttäuschten, die wieder eine lange bange Nacht von der Erfüllung trennt. In den Häusern, die den Platz begrenzen, fahren die Schläfer auf. Sie recken sich hoch in ihren Betten und lauschen zitternd. Und sie ahnen, daß zu ihren Füßen ein Raubtier wacht, das seiner Kräfte nur bewußt zu werden braucht, um mit den starken Pranken Käfig und Bändiger zu zerbrechen.

In der kahlen Bahnhofshalle saßen die aus Motice und erwarteten den Zug, der sie in ihre Heimat bringen sollte. Niemand fehlte als die Nanny Zlatka und der Karl Jakesch. Sie waren fahl und schmutzig wie Soldaten, die von einer langen Übung kommen, und ein säuerlicher Branntweinduft umströmte sie. Mit Geräusch und lebhaften Gebärden besprachen sie die Abenteuer dieser vierundzwanzig Stunden, in denen sie mehr Aufregung gekostet hatten als während ihres ganzen Lebens. Der Franz Zastoupil war der beredtste. Er nahm den Mund sehr voll, hielt alle seine Beschuldigungen aufrecht, prophezeite nahen Untergang der Spořitelna und wußte viel zu schimpfen über die Grobheit der Bankbeamten und die Roheit der Polizisten. Doch er verschwieg, daß er verstanden hatte, ein paar Verängstigten ihre Sparbücher für den halben Wert herauszulisten, und daß er unter seinem schmierigen Gewand eine Summe trug, die ihm die Schenke, die er nur gemietet hatte, als Eigentum erwerben sollte.

In einer Ecke kauerte die Maria Jahoda und stützte ihren Josef, der, lang ausgestreckt, sich auf den Steinen wälzte. Weinend klagte sie: als sie endlich zu ihrem Geld gekommen waren, sei der Josef beinahe närrisch vor Freude geworden. Er habe sie ins Wirtshaus mitgeschleppt, dort Bier und Fleisch bestellt und, schon halb betrunken, mit einem Frauenzimmer, das ihn umstrich, zu scharmieren angefangen. Plötzlich sei er aufgesprungen, habe das Mädel um den Leib gefaßt und sei mit ihr auf und davon gerannt. Sie hatte seine Zeche zahlen müssen und war dann ausgegangen, ihn zu suchen. Erst nach vielen Stunden hatte sie ihn an einer Straßenecke wieder aufgefunden. Er war sinnlos berauscht; aus seiner Tasche fehlten hundert Gulden. Für ihre Vorwürfe bekam sie Schläge, und mit Mühe schleppte sie den Taumelnden hierher. Die Tränen flossen in Strömen über ihre hohlen Wangen. Das Schluchzen stieß sie krampfhaft. Der Mann an ihrer Seite, der in der Trunkenheit die Schuldigen vertauschte, lallte stumpfsinnig dazwischen: »Sie muß Prügel haben! Das Weibsmensch hat mich bestohlen! Wenn sie nach Haus kommt, kriegt sie ihre Prügel.«

Der Johann und die Rosa Dostal dagegen waren sehr zufrieden. Sie hatten einen Menschenfreund gefunden, der sich ihrer Not erbarmte. Einen furchtbar reichen Herrn; das große Zinshaus nahe bei dem Sparkassengebäude gehörte ihm; sie wußten es aus seinem eigenen Munde. Er hatte sich bereit erklärt, ihr Erspartes in seinem Bankhaus anzulegen. Zu hohen Zinsen. Acht Prozent pro Jahr. Die erste Rate hatte er gleich ausbezahlt. In der Seligkeit des neuen Reichtums hatten sie viel eingekauft. Kaffee, Zucker, Tabak, Kleiderstoffe für die Kinder und einen Teppich, den sich die Frau schon lange wünschte. Lächelnd hörte ihnen die Babi Skoupek zu. Von Zeit zu Zeit befühlte sie den Brustlatz, unter dem sie, in ein Taschentuch geknotet, ihr Gold geborgen hatte. Sie dachte nicht daran, sich noch einmal davon zu trennen. Unter ihren Strohsack wollte sie es schieben oder in ihrem Gärtchen in die Erde graben. Da konnte es ihr nicht verlorengehen.

Die Türen zum Bahnsteig wurden geöffnet, und der Schaffner rief zum Zug ab. Und immer noch fehlten die Nanny Zlatka und der Karl Jakesch.

Man lachte. Manche meinten: das gemeinsame Warten hat dem Pärchen so gefallen, daß es auch diese Nacht zusammen verbringen wird. Vor dem Sparkassengebäude – oder anderswo.

Schon waren die aus Motice in ihr Abteil eingestiegen, kaum eine Minute fehlte noch bis zur Abgangszeit, da stürzte Karl Jakesch in den Wagen und schrie: »Ist die Nanny hier?« Die Haare hingen wild um seine Schläfe; in seine Augen war das Blut getreten. »Ist die Nanny hier?« Obgleich ihm sein Auge Antwort gab, durchsuchte er die Winkel. Dann, in der Sekunde, wo der Zug sich in Bewegung setzte, riß er die Tür auf und sprang wieder hinunter auf die Steine. Er stürzte, stand wieder auf, lief auf den Schienen hin und her. Die Fahrenden hörten noch sein wildes Brüllen: »Ich schlag’ sie tot! Wenn ich das Luder antreff’, schlag’ ich’s tot!«

Ein dürftig aussehender, engbrüstiger Jüngling war mir durch die Aufmerksamkeit aufgefallen, mit der er die Rede des Deutschböhmen verfolgte. Nun fiel er schnell in dessen letzte Silbe ein:

»Was für fremdartige Bilder. Was für sonderbare Leute. Wie waren Sie doch zu beneiden, mit einem Volk zu leben, das noch so jung ist. Unangekränkelt von Bildung und Kultur. Voll von Eigenart und Farbigkeit und Rasse. Sie lachen?« Er warf mit einer wie es schien gewohnheitsmäßigen Bewegung die glatten schwarzen Haare aus dem Gesicht zurück. »Sie wissen vielleicht nicht, was es heißt, am grauen Einerlei zugrunde gehen. Immer nur von Fertigem umgeben. Keine Freude, als die Sehnsucht. Und die Hoffnung, daß vielleicht irgend einmal sich ein Wunsch erfüllt. So ist es,« er zögerte, »einem Freund von mir ergangen. Wenn ich wagen darf, möchte ich Ihnen von ihm sprechen.«

Er sah sich um, als fürchte er, es könne ihm die Zustimmung verweigert werden. Ich dachte: er ist gewiß ein heimlicher Poet. Noch in Keuschheit zugeschlossen und doch schon glücklich, etwas von seinem inneren Empfinden preiszugeben. Ich hörte seine Stimme zittern bei den ersten Worten.