NACHTGESPRÄCHE
Von A. Hauschner
Ich erlebte es auf einer Reise von Berlin nach Wien. Der graue Tag war vorzeitig in die Nacht hineingeglitten. Die Lampen in den Abteilen waren noch nicht angesteckt. Nur aus den Kronen der verschneiten Bäume, die rechts und links den Zug umsäumten, fiel durch die trüben Scheiben ein unsicheres Licht. Die Menschen saßen wie in Käfige gepfercht, ohne Rücksicht auf die Vorrechte, die sie ihrem Fahrschein dankten. Neben der Dame der Soldat, Körper an Körper Herr und Bauer. Zwischen den Bänken, auf den Gängen drängte sich die Menge in unerwünschter wahlloser Gemeinsamkeit. Keuchend, schnaubend, als schnappe sie nach Atem, schleppte eben die Maschine ihre schwere Fracht über eine kleine Steigung. Oben angelangt, wollte sie die Fahrtgeschwindigkeit erhöhen, als sie sich mit einem Ruck, unter dem die ganze Wagengliederung sich bäumte, aufklirrend nach rückwärts warf. Grell schrie sie auf. Gleich einem Blutstrom spie sie Rauch und Funken. Ein Zittern lief durch ihre Flanken. Sie stand still. Eine gewissermaßen gefrorene Bewegung bekundete sich in der eingekeilten Menschenmasse. Aller Wahrscheinlichkeit entgegen gelang es einigen geschickten Händen, verklemmte Türen aufzureißen. Wer konnte, kletterte hinunter, von oben wurden Fragen in die Dunkelheit geworfen. Die Unruhe hatte ihren Höhepunkt erreicht, als die Beamten kamen, Aufklärung verbreitend: Fahrtunterbrechung. Vor der nächsten Haltestelle ist ein Zug entgleist.
Aufschwirrende Gerüchte von Beschädigung des Bahnkörpers, Aufreißen der Schienen, begegneten dem gleichen Achselzucken wie die Wißbegierde nach der Dauer des unfreiwilligen Aufenthalts. Immerhin mußte die Mitteilung zu denken geben: es stehe jedem frei, auszusteigen und im nächsten Dorf ein Obdach aufzusuchen oder sich in seinem Abteil einzurichten. Der Zug werde auf ein totes Gleis verschoben, wo ihn weder Störung noch Gefahr bedrohte.
Ich schloß mich einer kleinen Anzahl Mitreisender an, die einem schlechten Nachtquartier den Vorzug stundenlanger Gefangenschaft in Mißgeruch und dichter Menschennähe gaben.
Wir standen, ein Häuflein schwarzer Punkte, auf dem hartgefrorenen Bahnsteigboden. Soweit das Auge reichte, keine Anhäufung von Lichtern kräftig genug, um das Dasein eines Dorfes zu verraten. Nur hier und da gegen das Massiv der Nacht ein Aufblinken, als ob ein Glühwürmchen vorüberflöge. Wir schlugen aufs Geratewohl einen nach rechts abbiegenden Feldweg ein. Wortkarg marschierten wir, die erstarrten Finger von der Last des Handgepäcks zerschnitten.
»Haus in Sicht!« meldete die Vorhut. Klein, unscheinbar, der Giebel saß auf dem Erdgeschoß wie eine zu weite Mütze. Das Geräusch herannahender Schritte reizte den im Inneren des Gehöfts frei umherlaufenden Hund zu einer wütenden Begrüßung. Im weiten Umkreis stimmten ihm die Brüder zu. Inmitten eines mißtönigen Bellkonzerts begannen die Verhandlungen mit dem Besitzer, der, unwirsch, eine Bildsäule der Gastfeindschaft, den Eingang mit seinem breiten Rücken sperrte. Er mochte die Zahl der Brotschnitten berechnen, die zu beschaffen wären, um so vielen Eßwerkzeugen zu genügen. Erst die Versicherung, es gehe uns vor allem um ein Feuer, den erstarrten Leichnam aufzutauen, zerbrach den langsam ausgehöhlten Widerstand. Das Fremdenzimmer wurde aufgeschlossen, der Bauch des Kachelofens mit einem Armvoll Holzscheiter gespeist, durch kleine elektrische Laternen, den Taschen einiger der Reisenden entnommen, das Dunkel notdürftig aufgehellt.
Unter dem Bann des einander Fremdseins sprachen wir wenig während unserer emsigen Geschäftigkeit. Erst als der Tisch, in das mittlerweile angewärmte Klima der Ofenbank gerückt und bestellt mit freiwilligen Gaben, einen anheimelnden Anblick bot, bemächtigte sich unserer, die wir uns um ihn gesellten, trotz der Verschiedenheit der Elemente, das Gefühl einer Verbundenheit. Wir vertieften es, indem wir uns gelobten: keiner soll den Namen des anderen befragen. Der Zufallswind hat uns hereingeweht, wir können in diesem Dämmerlicht kaum unsere Züge unterscheiden. Laßt uns auch nicht wissen, wer wir sind und wie wir heißen. Entfliehen wir für eine Nacht der Wirklichkeit.
So, gleichsam unter Schutz von Masken, kam uns Sicherheit und Wunsch, etwas von uns auszusagen. Selbsterlebtes? Selbsterdachtes? Wer vermochte zu ergründen, ob sich Bekenntnisse verbargen unter den Erzählungen, mit denen wir die Stunden der Gefangenschaft verkürzten?
Für mich war diese Nacht die bunteste, erkenntnisreichste meines Lebens. In der Gesellschaft von Fremdlingen, in einem unbekannten Hause habe ich sie verwacht. Ich konnte zwischen Tagesende und dem Anbruch eines neuen Morgens, wie durch offene Fenster, in die Seelen von Menschen verschiedener Stände, Weltanschauungen und Religionen blicken und sie auf dem Wege einer inneren Erschütterung begleiten. Den Aufzeichnungen, die sich mein Gedächtnis machte, habe ich in den nächsten Wochen aus der Erinnerung, Form und Zusammenhang gegeben. So ist dieses Buch entstanden.
Wir bestimmten, als Pfadfinder gewissermaßen, einen Vierschrötigen mit nachlässiger Haltung. Er sagte lächelnd:
»Ja wissens, ich bin halt ein Deutschböhme, ein Prager. Da hat man sich sein Lebtag mit seinen lieben Mitbürgern von der anderen Nationalität herumgerauft. Da ist beständig Unfrieden gewesen, und es ist immer allerhand passiert. Ich hab’s satt gekriegt und bin davon ins Reich. Aber ich will Ihnen was erzählen, das hab’ ich selbst noch miterlebt, ehe ich auf immer weg bin aus meiner Vaterstadt.«
Er strich den blonden Vollbart behaglich auseinander und schlug ein Blatt aus der Geschichte seines Landes vor uns auf.