VISION
Von A. Hauschner
Noch einmal liebte er. Noch einmal hüllte ihn die Leidenschaft in ihren Purpurschleier, noch einmal träumte er das holde Märchen vom Sichverlieren und in einer anderen wiederfinden. Doch sein Schlummer war nicht tief. Im Traume wußte er von seinen Träumen, und daß ein lauter Anruf ihn erwecken würde. Und der Schleier, der ihn hüllte, war nicht unversehrt. Ein Riß nur, und das Licht des Alltags drang durch seine Maschen. Das wußte er, und er zäumte Dunkelheit und Stille um sein letztes Glück.
Sie liebte ihn. Ihr ging zum erstenmal des Weibes Lebenssonne auf. Kein Zweifel war in ihr. Mit demütiger Wonne gab sie ihr Ich an ihn verloren. Um Anbeginn und Ausgang ihrer Liebe standen Ewigkeiten. Ein Reichtum war in ihr, ein Jubeln und ein Singen. Und ein Drang, sich zu entdecken, zu bekennen. Jede Erinnerung holte sie aus den Verborgenheiten des Empfindens, um sie mit dem Geliebten nochmals zu durchkosten. Und sie verlangte ihren Anteil an jeder Regung seines Wesens.
Er lächelte und schwieg. Er schloß die Augen, legte ihr die Finger auf die Lippen, zog sie in seine Arme, riß sie mit sich in das Meer der Seligkeiten. Und über ihren Häuptern schlug die Flut zusammen.
Doch wenn ihr die Besinnung wiederkehrte, hörte sie, wie ihre Seele klagte: du schwelgst und läßt mich darben. Du glühst, und ich erfriere. Fühlst du denn nicht? Er ist nicht dein Freund. Was er dir gibt, ist nichts als sein Begehren.
Dann weinte sie und forderte vom Schicksal: erhöre mich. Nimm ihm sein Begehren, gib mir dafür seine Freundschaft.
Die Blüten ihrer Freude fingen an zu welken. Ein Mißton gellte durch ihr innerliches Jauchzen. In die festen Wurzeln ihres Glaubens drang ein Fäulnistropfen, und dem zerstörten Erdreich entwuchs der Schmerz wie eine kranke Blume.
Er ahnte nichts von ihren Qualen. Dankbar genoß er ihr Verstummen und schlürfte ihre wehe Zärtlichkeit wie eine neue Würze. Er ahnte nicht, daß ihre Lippen, auf denen eben noch die seinen brannten, in sich den Schrei erstickten: Schicksal, erhöre mich. Nimm ihm sein Begehren. Gib mir dafür seine Freundschaft.
Einmal aber kam es, daß ihre Zweifel durch ihr Schweigen brachen. Wie ein lang zurückgedämmter Strom stürzten ihre Klagen über ihn hinweg: »Du liebst mich nicht, an deiner Seele hab’ ich keinen Anteil, du gibst mir nichts als deine Sinne.«
Er blieb die Antwort schuldig. Er nahm sie sanft in seine Arme, wiegte sie hin und her und sagte nur mit einem müden Lächeln: »Du Kind.«
Am nächsten Tage fehlte er um die gewohnte Stunde.
Sie stand und wartete auf ihn, in Unruhe zuerst, dann in Erstarrung. Sie stand ganz nahe bei der Tür, weit vorgebeugt, um das Nahen seiner Schritte eher zu erlauschen. Es wurde finster, und sie wartete noch immer. Sie zündete kein Licht an. Ihr war, als bringe ihn das Dunkel ihrer Sehnsucht näher.
Plötzlich streifte sie sein Atem. – Sie fuhr empor und sah ihn in der Tiefe eines Sessels lehnen.
Sie fragte nicht: wie ist er eingetreten? Sie fragte nicht: wer hat die Lampe angesteckt, die rot verschleiert aus der Ecke leuchtet? Ein Nebel lag auf ihrem Denken, sie fröstelte. Das kam daher – er hatte sie beim Kommen nicht geküßt.
Er lehnte in der Tiefe eines Sessels, ihr gegenüber. Er erzählte von Erlebnissen und Plänen, forschte, wie sie sich tagsüber beschäftigt habe.
Sie dachte: ist das seine Stimme? dieser gleichmäßige Klang, der niemals jäh erstickt und im Geflüster abbricht?
Er zog ein Buch aus seiner Tasche, empfahl es ihr und bot sich an, ihr daraus vorzulesen.
Sie wollte rufen: du – du – kommst du nicht zu mir?
Der Laut erstickte in der Kehle.
Er plauderte inzwischen weiter.
Er plauderte inzwischen weiter. Er wurde witzig, zuweilen wurde er sogar bedeutend.
Sie dachte: ist er es denn wirklich?
Sie fand ihr Bild nicht mehr in seinen Augen, aus seinen Zügen war jede Heimlichkeit gelöscht. Sie sagte gleichgültige Dinge. Es wurde eine angeregte Unterhaltung.
Sie wollte aufstehen, sich in seine Arme stürzen. Etwas Unüberwindliches hielt sie zurück. Die kurzen Schritte, die sie von ihm trennten, waren nicht zu überschreiten.
Sie dachte: wenn er es wirklich ist, dann hab’ ich meine Liebe nur geträumt, den Mann mir gegenüber kenn’ ich nicht.
Jemand sagte: »Was euch vereint hat, ist zerrissen. Sein Leben ist erstorben. Du aber lebst. Und keine Brücke führt vom Lebenden zum Toten.«
Ein mörderischer Griff preßte ihr Herz zusammen. Aus schwerster Not stöhnte sie auf …
Sie lag im Dunkeln an der Erde. Ihre Wangen waren naß von Tränen. Und schnell, ehe die betäubte Seele sich von ihrer Angst befreien konnte, stammelte der Mund, mit blassen Lippen: »Schicksal, erhöre mich – nimm mir, wenn es sein muß, seine Freundschaft, aber laß, o laß mir sein Begehren.«
Isabella, jetzt auf einem niederen Schemel unterhalb des Fenstertritts gekauert, hätte die Wiederkehr in unsere Gemeinsamkeit nicht scheuen brauchen. Mit Ausnahme einer faunischen Bemerkung des grauhaarigen Zigarettenrauchers entheiligte kein Männerwort den Nachhall der ausgeströmten Klage. Nur in Franziska, mir entging es nicht, rang ein Kampf. Ein Widerspruch, ein Stolz? Mit einem Hochmut, der ihr wohl helfen mußte, ihre Abneigung gegen diese öffentliche Kundgebung zu überwinden, erkannte sie die Tyrannei der Sinnlichkeit nicht an. Mehr als den Geliebten suche die Frau jetzt in dem Manne den Vater ihrer Kinder, den gleichberechtigten Gefährten.
Wieder war es eine Frau, die sich ihr entgegenstellte. Am wenigsten hätte ich es dieser zugetraut. Sie war mir jenseits jedes passionellen Sturms erschienen. Ich entdeckte bald den Einfluß, unter dem mein Urteil stand. Entgegen den heutigen Gebräuchen war ihre Kleidung der Anzahl ihrer Jahre angepaßt. Das gab ihr vorzeitig den Anschein der Matrone. Es gelang mir, ihr früheres Ich bildhaft vor mir wiederherzustellen. Die feine Linie des jetzt zur Fülle neigenden Ovals, den schönen Schnitt der großen schwarzen Augen, jetzt von sanfter Traurigkeit verschattet, die Lockungen der Lippen, ehe die Zeit ihnen die Frische nahm.
Fühlte sie von mir etwas zu sich herübertasten? Sie wendete sich nur an mich, als sie ruhig sagte, sie habe keine Vorstellung von einer Weltordnung, die es den Frauen möglich machen werde, vom Mittelpunkt ihrer Natur sich zu entfernen. Was für Geschöpfe würden sie dann sein? Vom Fluch des Triebes befreit, von der Versklavung durch das Blut, das seine Forderungen am gebieterischsten stellt, wenn es die Grenzen seiner Macht erreicht. Ruhigere sicher. Ob aber glücklichere? Ohne die Glorie ihrer tödlichsten, unentbehrlichsten, aus der Wurzel ihres Weibseins aufsteigenden Schmerzen. Ganz schlicht, die Farbe ihrer Wangen kaum erhöht, erzählte sie; es mochte ihr Erlebnis, es mochte das Tausender ihrer Mitschwestern gewesen sein.