VON EWIGER WIEDERKUNFT
Von Auguste Hauschner
Er liegt am Rande des sanft zum See gesenkten Ufers, von hochgewachsenen Farren überdacht. Zu seiner Rechten, auf dem Hügel, um den die Großstadtleute sich geschwätzig und geputzt ergehen, weiß er die Tafel mit den wie vom Schicksal in den Stein gegrabenen Zeichen:
»Die Welt ist tief
Und tiefer als der Tag gedacht
. . . . . . . . .
Weh spricht: Vergeh’!
Doch alle Lust will Ewigkeit –
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!«
Er glaubt, ein Echo dieser Worte in dem Murmeln der anschlagenden Wellen zu vernehmen. Wenn er die Augen schließt. Wenn er sie öffnet, ist der schwere Klang verweht, und er sieht in ein Meer von Glanz und Duft. Die Wasser jauchzen, und der See blüht. Wie ein Garten, wie ein Beet von blauen Enzianen, über die ein Heer von weißen Schmetterlingen fliegt. Die hinscheidende Sonne wirft aus dem Westen Purpurrosen auf die blaue Pracht, sie durchglutet die Segel, die sich wie große Möwenflügel spreizen, und das Gebäude, das vom jenseitigen Ufer grüßt, verklärt sich durch ihren goldenen Abendschein zum Märchenschloß.
Den Ruhenden unter dem Farrendickicht schmerzt diese Pracht und Fröhlichkeit. Die Augen zu. Dunkelheit um sich geschaffen. Und dem dumpfen Laut gelauscht, mit dem die Brandung zu den Kieseln spricht:
»O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
Ich schlief, ich schlief …«
Als er erwacht, findet er die Welt um sich vertauscht. Wie ein guter Hausverwalter, wenn der letzte Gast gegangen ist, die Lampen abdreht und Tücher auf die Seidenmöbel und die festlichen Geräte wirft, so hat der späte Nachmittag hinter den letzten Sonnenstrahlen alle Farben ausgeblasen und über Tanz und Spiel der Wellen einen mißtönigen Flor gebreitet. Fahl und flach liegt der weite Spiegel; vor dem Märchenschloß, das ihn begrenzt, ist ein grauer Vorhang zugezogen.
Der Ruhende springt auf. Ihn fröstelt. Und er schreitet kräftig aus, um den steif gewordenen Gliedern die Geschmeidigkeit zurückzugeben. Die Halbinsel gehört ihm nun allein. Die Spaziergänger sind vor der einbrechenden Dämmerung geflüchtet, und bereden den Alltag jetzt in aufgehellten Räumen.
Ihn, der gekommen ist, um in den Spuren eines Einsamen zu wandeln, graut vor der Gemeinschaft mit den Vielzuvielen. Er läßt die Wohnstätten der Menschen hinter sich und sucht sich den schmalen Weg, der, der Wagenstraße gegenüber, sich an die Windungen des Wassers schmiegt.
Immer dichter sind inzwischen die Dünste hochgestiegen, haben sich geballt und rechts und links zur Mauer aufgerichtet. Alle Wirklichkeit ist abgetrennt. Nichts gegenwärtig als das Angedenken dessen, der seine kränksten Nöte und seine lachendsten Genesungen hier auf und ab getragen haben mochte. In der großen Stille scheint der Boden wie entsühnt von der Berührung mit den Massen, die seitdem durch ihren Tritt die Fußspur eines Ungewöhnlichen entweihten. Und auf leisen Sohlen schleichen die Schatten der Vergangenheit herbei.
Vielleicht an dieser Stelle war vor dem Dichter das helle Mittagsstundenwunder aufgetaucht. Hier hatte er vielleicht gesessen, »ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. Da plötzlich, Freundin, wurde eins zu zwei und Zarathustra ging an mir vorbei«. Und hier vielleicht, ein andermal, in einer Finsternis wie dieser, wie im Urchaotischen gefangen, mochte er mit dem Doppelgänger Brust an Brust gerungen haben. Ihm die feindliche, die mörderische Waffe zu entreißen.
Der Wanderer stöhnt auf.
Wie er jetzt körperlich den Wegen des Verkünders folgt, so war er ihm auch geistig nachgegangen. Und war an der Schwelle einer letzten Ausgangspforte einem Gespenst begegnet. Qual und Marter, ihm ins Gesicht zu sehen! Glich es nur dem Meister? Trug es nicht die eigenen Züge? Hatte es nicht längst im eigenen Leben tückisch lauernd dagelegen, um in bangen Stunden den Gefolterten zu überfallen?
Ewige Wiederkunft? Kein Entrinnen aus dem Kreis des Ekels und des Überdrusses!
Mag sein Fuß die schmale Grenze überspringen, die das feste Land vom Wasser scheidet: es behält ihn nicht, es bringt ihn wieder.
Immer wieder auf das Rad geflochten … »Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.«
Nein! Seine Schultern tragen die Last dieses Gedankens nicht. Ihm fehlt die Kraft, den Kopf der Natter abzubeißen, um ihn lachend auszuspeien. »Ist das das Leben? Wohlan denn: noch einmal!« Er ist nicht brünstig nach dem hochzeitlichen Ring der Wiederkunft.
Ihm wird zumut, als wachten alle Peinen auf, die hier jahrelang versteinert im Gebüsch gelegen haben, und stürzten sich auf ihn, um ihn zu schrecken und zu würgen. Der Wahnsinn krallt sich in ihn ein, Verlassenheit, das verzerrte Abbild der königlichen Einsamkeit, greift nach ihm mit kalten Knochenarmen. Er läuft und läuft … Er fühlt, was zu sehen ihm der Nebel wehrt, daß der Waldweg sich verbreitert, daß seine Sohlen Wiesenboden treten.
Von irgendwoher wehen abgerissene Laute zu ihm hin. Menschenstimmen. Er saugt sie gierig ein. Tastet sich zu ihnen hin. Etwas Lichtes durchzittert den feuchten Brodem. Der Fuß stößt an ein Hindernis, wagt sich behutsam ein paar Stufen aufwärts. Die ausgestreckte Hand rührt an eine Holzwand, faßt eine Messingklinke, drückt sie herab: ein Tor geht auf …
Ein Glashaus, in dem zwischen hohen Palmen leichte, aus Stroh geflochtene Möbel stehen. Dahinter der weite Saal. Grellweiß mit zopfiger Vergoldung. Von der Decke, an metallenen Ketten, geschliffene Kristalle, in denen Glühkörper wie Blumen blühen. Unter ihrem strahlend grellen Schein ein Mischmasch von surrenden und summenden Geräuschen. Gespräch, Gelächter, das Rascheln weicher Seiden, das Schleifen kostbarer Brokate. Frauennacken, die tief entblößt aus Tüll und Spitzen steigen, mächtige Frisuren, von Reihern bekrönt und mit diamantenen Kämmen festgehalten. Aus dem bunten Durcheinander sticht das dumpfe Schwarz der Herrentracht hervor und die einförmige Blankheit der steifgestärkten Hemdenbrüste.
Inmitten dieses Wirrwarrs von Schattierungen und Tönen ein grün-roter Farbenfleck, wie aus einer Riesentube hingeschleudert. Die roten, grün besetzten Wämser und Barette der Italiener, die eben ihr Konzert beginnen. Mit einem Ritornell zum Lobe Neapels. Sie stehen aufrecht, wie von ihrem Enthusiasmus aufgeschnellt, und schmettern mit begeisterten Gebärden gemeinsam den Refrain heraus:
Dolce Napoli
O suol beato
Ove sorridere
Volle il creato.
Den Mann, der aus dem dunkeln Grauen in den hellen Leichtsinn tritt, erfaßt ein Schwindel. Er flüchtet in eine der Nischen, um deren Rundung ein silbergrauer Diwan läuft. Er läßt sich in das Polster sinken und winkt einem der Diener, die, im blauen Frack mit messinggelben Knöpfen, durch die Menge laufen. Der beäugelt mißtrauisch den Gast, der wagt, im Sportdreß, den Nachttau in den verwühlten Haaren, in diese festliche Versammlung einzutreten. Doch die Gebärde, von der der Befehl, eine Flasche Sekt zu bringen, begleitet wird, ist so gebieterisch, daß sich die Lakaienseele duckt.
Auch der übrigen Gesellschaft ist der Fremde aufgefallen, der so rücksichtslos der hergebrachten Sitte trotzt. Man einigt sich: so kann nur ein Deutscher sich vergessen. Und er ist auch wirklich blond, blauäugig und, trotz seinen langen geraden Gliedern, ein bißchen unbeholfen. Nur seltsam, daß der junge Kopf schon an den Schläfen graue Fäden zeigt. Und was für ein Kontrast zwischen den breiten, festen Flächen des oberen Gesichts und dem zurückfliehenden Unterkiefer. Die Musternden sind geneigt, ihn für einen Skandinaven zu halten. Man gibt zu: gegen Stoff und Schnitt des beanstandeten Knickerbocker sei kein Einwand zu erheben. Und das Gebaren dieses Außenseiters habe einen Zug von Vornehmheit. Manches Mädchen denkt: holt er mich heute wohl zum Tanz?
Er, blind für Beobachtung oder Kritik, ist ganz erfüllt von dem beglückenden Bewußtsein: ich bin geborgen. Über die Schwelle dieser billigen Karawanserei wagt sich der Spuk der Nachtgesichte nicht. Zweimal schon hat er den hohen Kelch geleert. Eine wohltuende Wärme legt sich besänftigend auf seine Brust.
Da kommt ihm von irgendwoher eine Hemmung seines Wohlbehagens. Was ist es, das an seinen Nerven zerrt? Er sucht die störende Empfindung wegzustreichen. Vergebens. Sie umschwirrt ihn wie ein lästiges Insekt. Er hebt den Kopf und begegnet einem Augenpaar, das sich fest und unbekümmert in das seine bohrt. Den Augen eines Weibes.
Schön? Bizarr. Wie eine fremdländische Tropenblume. Wie ein kostbares Geschmeide, in einer uralten Kultur entdeckt.
Rostbraunfarbige starre Haare umschließen in schweren Wellen eng die schmalen Schläfen. Der vorgewölbte Mund schneidet brennendrot durch die gelblich blasse Haut der Wangen. Die Augen, mit grünlichen Pupillen, stehen etwas schräg gegen die kleine, gerade Nase. Ein weißes Pannekleid, rosig angehaucht wie das Innere einer Muschel und in jeder Biegung von irisierenden Reflexen überrieselt, steigt hoch hinauf bis zu den kleinen Ohren. Und sie ist juwelenlos. Nur auf der Stirn liegt, von einem dünnen Kettchen festgehalten, ein schimmernder Opal. Sehr jung ist sie dabei; und so mädchenzart, daß man den feisten, kahlköpfigen Herrn, der neben ihr hinter seiner Zeitung fast verschwindet, für ihren Vater halten könnte, wenn nicht die Besitzermiene, mit der er, den Arm um sie gelegt, von Zeit zu Zeit ihr etwas zuflüstert, verriete, daß er ihr Gatte ist. Sie achtet weder seines Redens noch seines Verstummens. In dem Armstuhl, der für ihre schmale Gestalt viel zu weit ist, lehnt sie sich ein wenig vor, ein Lächeln teilt ihre Lippen, die Augen haften fest an ihrem Gegenüber.
Er wendet sich beinahe ungezogen ab. Aber das Fluidum, das von ihr zu ihm hinüberströmt, dringt ihm in alle Poren. Sie zwingt ihn zu sich, wie durch Zauber. Er sieht das Blut in ihren Adern kochen, er sieht, wie die Wünsche in ihr auf und nieder steigen. Das Idiom der Zungen würde sie wahrscheinlich trennen. Ohne Worte verstehen sie einander gleich.
»Du,« sagt sie zu ihm; »du!«
Es trifft ihn wie ein Kuß.
Und ohne seine Antwort abzuwarten, fährt sie fort: »Mir ist, als kenne ich dich lange. Du gefällst mir. Sehr gefällst du mir.«
Von ihrer Liebkosung entzündet, wehrt er sich gegen ihre buhlerische Zärtlichkeit. »Was sprichst du so zu mir, dem Fremden, und sitzest doch an der Seite deines Ehemannes?«
Sie hebt verächtlich ihre Achseln. »Ehemann? Richtig; das ist wohl einer seiner Namen. Er hat noch andere. Phil und John und Will. Ich mußte ihm alle geben, als ich mich ihm verkaufte. Mich frei von Elend und von Schande kaufte, frei für Luxus, Glanz und Liebe.« Wie ein Schlänglein läuft ihre rote Zungenspitze über die weißen, spitzen Zähne. »O wie ich hungere nach Liebe!«
Die Musikanten stimmen nach kurzer Unterbrechung wieder ihre Instrumente. Über abgerissene Akkorde, die nur auf Tonika und Dominante stehen, hebt sich die sentimentalisch süße Melodie. Der Tenor, ein tiefbrauner Bursche von quecksilberner Beweglichkeit, beklagt die Launenhaftigkeit seiner Geliebten.
»Dimmi, dimmi nenella mia bella
pechè staje affaciate? pechè?«
Er bettelt um ein gutes Wort:
»Quanno me dice che me vuó bene
tutte le pene me faie scordà.«
Die Arme zu einer Huldigung gerundet, die allen Damen dieses Kreises gilt, lockt er sein Mädchen zum verliebten Stelldichein. Und seine ungeschulte aber weiche Stimme tremuliert heftig in der Übertreibung seines feurigen Gefühls.
»Si tu nenella mia viene comme
Uh! quanta cose t’aggio a di cantanno
Jo! quanta cose t’aggio a fai sapè.«
Ein Hauch von Lust fächelt die Gesellschaft, die, von der Höhenluft erregt, sich nach reichem Mahl zu müßiggängerischem Tändeln hier zusammenfindet. Schultern drängen sich näher aneinander, heiße Finger streifen sich, Fußspitzen begrüßen sich in heimlicher Begegnung.
Den Einsamen in seinem Winkel überkommt die weiche Stimmung, von der er sich doch sagt, daß sie eine Täuschung seiner müden Sinne ist; die Sehnsucht nach einem zweiten, dem er sein Ich verschmilzt, um es reiner und erhöhter wieder zu empfangen.
Von drüben fliegt der Spott wie scharfe Pfeile auf ihn zu. »Du Tor spekulierst und grübelst: und das heiße Leben rauscht an dir vorbei. Greif’ zu! Genieße!«
»Und meine Seele?«
Rasch läuft das Schlänglein ihrer roten Zunge über den vorgewölbten Mund. »Sorgst du um deine Seele? Armer Narr! So hast du das Weib der großen Seligkeit noch nie besessen. Wie? Das Wunder, daß zwei Menschen miteinander in dem Nichts vergehen, aus dem sie einmal herausgekommen sind, wäre nichts als ein Gefühl der Haut? Und wo bliebe denn die Seele in dem rätselhaften Augenblick, in dem die Körper außer sich, über sich hinaus geraten? Ins Uferlose, Unbegrenzte, außer Zeit und Raum, ohne Anfang, ohne Ende, nur Wonne und geniale Ahnung, wie sie Gott durchschauert haben mögen, da er die Welt erschuf.«
Er, innerlich gefangen, wehrt sich in den Maschen ihres Netzes. »Schlange! Kluge! Listige! Was versuchst du mich zu lügender Erkenntnis?«
Um die rotgrüne Musikanteninsel kräuselt eine lärmende Bewegung. Kastagnetten begleiten den Klang von Geige, Cello, Tamburin und Mandoline. Und indem die Italiener ihre Instrumente streichen, schütteln, zupfen, singen sie zu gleicher Zeit und drehen sich in kecken Sprüngen. Eine wilde Tarantella, wie sie das Volk an seinen Festen tanzt.
»Jammo a bedere nterra a l’arena,
mento che spanfia la luna, li
pescatore de Merglina.«
Der Rhythmus der jagenden Triolen reißt das Blut der Hörer mit. Die Leiber und die Beine zucken, verlangend kehrt die Jugend sich zu der Tür des Tanzsaals, der eben aufgeschlossen wird. Und die Tarantella rast noch immer, und die Musikanten jubeln, schreien.
Durch den Wirbel der Atome geht der Strom magnetisch von dem Weib mit den rostbraunfarbigen Haaren zu dem Mann, der einsam in seinem Winkel sitzt. Er ist wie eingehüllt in die Glut ihres Begehrens. Er erschauert unter dem liebkosenden Getaste ihrer Finger, ihre weißen Zähne graben sich in seinen Hals, er fühlt die Knospen ihrer jungen Brüste an den seinen, ihre Flechten, aus ihrem Zwang gelöst und von ausspringenden Löckchen wie von kleinen Flämmchen überflattert, begraben seinen Atem unter ihrem schweren Duft. Sie gibt ihm die Wollust tausender im heißen Spiel der Liebe erträumter Nächte in einem kurzen Augenblick. Die ganze Weibheit hält er mit ihrem schlanken Leib in seinem Arm.
Betäubt, entfestet, ohnmächtig gegen die Naturgewalt zu kämpfen, gibt er sich ihr widerstandslos hin.
Erobererhochmut tritt in ihre Züge, da sie seine Unterjochung fühlt. Sie erhebt sich und entbietet ihm noch einmal ihren Willen, daß er ihn in die Gefolgschaft ihres Kleidersaumes zwingt.
Er zögert, beschwert von trauriger Ermattung. Der Kontakt ist unterbrochen. Der Funke sprüht nicht zwischen den konträren Polen auf.
In einer Sekunde des Besinnens richtet sich das unbegrabene Skelett des gespenstischen Gedankens vor ihm auf. Die ganze Weibheit hat er in ihrem schlanken Leib genossen. Tausende heißer Nächte haben sich ihm in einen kurzen Augenblick gepreßt. Weil sein Gedächtnis tausend zugefallene Pforten der Erinnerung aufgebrochen hat, um ihm vertausendfacht sein Ich zu zeigen, wie in einem Raum mit tausend Spiegelwänden.
Ja, er erkennt es wieder, sein ewiges Erlebnis. Stets das gleiche. Die Flucht aus der Wüste der Askese in die Üppigkeit der Lebensgier. Und Licht, Musik und Tanz. Und das Weib. Immer das gleiche. Der Brennpunkt aller Illusionen. Und wenn ihr Wesen, bis zur letzten Falte ausgespäht, keine Rätsel mehr zu bieten hat, ein Gewicht, das in die Niedrigkeit hinunterzieht, das mißachtete Gefäß eines schal gewordenen Trunkes.
… Wie berückend die Erscheinung in dem weißen, rosig überhauchten Sammetgewand, in jeder Biegung von irisierenden Reflexen überrieselt. Eine einzige mitten in der Allgemeinheit. Ein künstlerisch vollendetes Gebilde der Sansara.
Wie mit Ketten reißt es ihn wieder zu ihr hin. Zwischen Verlangen und Verzicht ertrinken ihm die Sinne, nur an eine feste Vorstellung geklammert: Dies ist die Stunde der äußersten Entscheidung. Jetzt oder niemals durchbrichst du dein Geschick. Jetzt oder nie tritt das Göttliche in dir die erdenschwere, schuldbeladene Materie nieder.
Und es lichtet sich um ihn wie Morgenröte. Ihm ist, als klimme er auf einen Gipfel, tief unter sich die bunte Sinnenwelt.
Sieg! Triumph! Er hat den Ring der ewig gleichen Wiederkunft gesprengt. Er kann wunschlos eingehen in Nirwana.
Von dem inneren Kampf zerbrochen, geht er langsam zu der Ausgangstür und faßt die Klinke. Ein Blick noch, wie ihn der Abscheidende den Erdendingen zuwirft, bevor er sie verläßt …
Das Bild hat sich verändert. Die Italiener sind in den Tanzsaal übersiedelt und locken mit dem wiegenden Dreivierteltakt eines schmeichlerischen Wiener Walzers. Und schon naht einer, der sich vor der Frau mit den rostbraunfarbigen Haaren tief verbeugt und dem sie die Gunst gewährt, sie minutenlang an sich zu drücken.
Der Mann, der bereit ist, sich von der Erbsünde zu lösen, macht eine hastige Gebärde zu den beiden hin. Noch einmal in den Fängen seiner Menschlichkeit. Und die Unruhe, die ihn durchrüttelt, entwurzelt in ihm einen schrecklichen Verdacht.
Wie, wenn ihn die Erkenntnis äffte? Wenn die Wahrheit, der den Schleier abzureißen er sich vermaß, sich ihm nur um so undurchdringlicher verhüllte? Und gerade dieses sein ewig wiederholtes Fatum bliebe: zu verdammen, was er heiß ersehnt? Kraftlos vor dem Entschluß zurückzuweichen und einem Kühneren das Glück zu überlassen, das in der Phantasie schon sein gewesen ist?
Der Angstschweiß bricht ihm aus. Alles wankt und schwankt um ihn herum.
Eine leise Stimme will ihn trösten: »Es ist deine Jugend, die sich gegen dieses letzte Opfer bäumt.«
Er glaubt sich nicht. Er hat das Vertrauen zu sich verloren. Und sagt sich mit wehmütiger Bitterkeit: »So werde ich die Probe machen müssen.« Drückt die Klinke nieder. Und geht durch Nebel und Verlassenheit an den See zurück.
… Hinter ihm lachen die Violinen.
Auch dieser Gast verschwand. Ganz leise. In das Schweigen, das er hinterließ, fiel ein sehr alltägliches Geräusch.
Der Grauhaarige hatte an seinem Feuerzeug geknipst für eine seiner vielen Zigaretten. Er steckte die Zündschnur noch einmal in Brand und half der Nachbarin ein Kerzenende aus ihrem Reisesacke kramen. In Schlupfwinkeln von Männertaschen wurden Wachsstreichhölzer aufgestöbert.
In dieser unzureichenden Beleuchtung sahen wir, wie sich die Frau in Nonnentracht erhob, die beim Instandsetzen der kahlen Kammer wacker mitgeholfen hatte, um sich dann, als sei jede Minute Müßiggang ein Raub, den Nadeln ihres Strickstrumpfs zuzuwenden. Jetzt legte sie die Arbeit nieder und faltete die Hände.
»Ach, meine lieben Schwestern und Brüder, mein Herz ist bis zum Rand gefüllt mit Traurigkeit um euch. Wie ihr alle aneinander leidet. Wie ihr einander weh tut und eins sich nach dem anderen doch sehnt und nach ihm sucht und an ihm vorbeitappt in die Einsamkeit. Das kommt daher: Jeder von euch ist zu viel mit sich selbst beschäftigt, ihr seid beständig hin und her gerissen von Wollen und Verlangen. Ihr habt nicht mehr den Glauben. Nein,« schnitt sie Bedenken in uns ab, noch ehe sie sich regten, »ich will euch nicht bekehren. Nennt ihn Jehova, Jesus Christus, Gott oder Natur. Nur daß euch eine Zuversicht gegeben ist, an die ihr euch vergeßt, eine Frömmigkeit, an der ihr euch beruhigt.«
Ihr klares, gütiges Organ, etwas eintönig, als seien im Gebet seine feinen Schwingungen ertötet, aber unendlich wohltuend, gleich einer Auflösung der vorhergegangenen Dissonanzen, schilderte das kleine Haus, in dem sie demütig dem Herrn diente.
Habe ich ihre Absicht recht verstanden? Und sie in meiner Wiedergabe richtig ausgedeutet? Daß sie uns an einem Beispiel lehren wollte: das Nichtwissen schließt die höchste Weisheit in sich ein.