DIE ANDEREN

Von Auguste Hauschner

Personen:

Broß

Kyll

Broß

Truck

Ein Mädchen

Ein Kellner.

Zwei Uhr morgens. Der mit kaltem Rauch gefüllte Raum eines Kaffees. Alle Tische verlassen. Der Kellner ist hinter dem Büfett halb vom Stuhl gesunken und schläft. Die elektrischen Flammen sind ausgedreht. Nur an dem Tisch, an dem Kyll und Broß sitzen, brennt Licht. Auf dem Tisch stehen leere Kaffeetassen, eine Flasche Kognak und zwei Gläser, eine Aschenschale mit Zigarren- und Zigarettenstummeln gefüllt. Kyll, 26 Jahre, schmächtige Gestalt, nachlässige dunkle Kleidung. Sehr blaß. Tiefliegende schwärmerische Augen, wirre schwarze Haare, nervös zuckende Lippen. Broß, 27 Jahre, blond, etwas aufgeschwemmt, wasserblaue Augen, Habyschnurrbart. Kleidung und Bewegungen eines Commis voyageur.

Broß (legt die ausgebrannte Zigarre auf den Aschenbecher): Also gute Nacht, Herr … (Er sucht den Namen.)

Kyll (der vor sich hingebrütet hat, fährt auf): Sie wollen schon fort?

Broß: Schon? Es geht auf zwei. Wir sind ohnehin die einzigen.

Kyll: Gottlob – ich atme auf. Endlich sind sie weg – die Feinde.

Broß (erstaunt): Feinde? Sie haben ja gesagt, Sie kennen hier keinen einzigen.

Kyll (nervös): Ja, haben Sie denn niemals das Gefühl, daß sie alle unsere Feinde sind, die anderen, die außer uns noch auf der Welt sind?

Broß (auflachend): Nein, wirklich. So was ist mir noch nie eingefallen.

Kyll (auf den Tisch gestützt, mit der Hand in den Haaren wühlend, düster): Auf mir lastet der Gedanke wie ein Alp. Er vergällt mir jede Freude. Selbst im Schlaf werde ich ihn nicht los.

Broß (innerlich belustigt, aber aus Höflichkeit ganz ernst): Aber wieso denn? Was können Ihnen denn ganz wildfremde Leute tun?

Kyll (heftig): Daß sie da sind, daß man von ihnen weiß. Daß sie auf uns drücken mit ihrer Freude und mit ihren Sorgen. (Wie zu sich selbst.) Tage gibt es, da muß ich immer daran denken, was die anderen leiden. Auf der Straße sehe ich nichts als Schmerz und Kummer. Jede traurige Gestalt, jede ausgestreckte Hand trifft mich wie ein Vorwurf.

Broß: Sind Sie denn nicht Mitglied des Vereins gegen Verarmung und Bettelei?

Kyll (ohne auf ihn zu hören, leidenschaftlich erregt): Die Vorstellung von allem Grausamen, was in demselben Augenblick geschieht, verfolgt mich. Ich höre die Kinder, die man prügelt, um Erbarmen flehen, ich höre die Tiere winseln, die man peinigt. Ich fühle die Bangigkeit von verlassenen Kranken und wie Hunger, Angst und Kälte Verzweifelte zum Selbstmord treibt. (Immer erregter.) Ich ahne alles Unglück, alles Elend, das in all den Tausenden von Häusern verkommt und zittert. Ich bin wie ohne Haut, alles verwundet mich. Das Mitleid bohrt sich mir wie mit Stacheln in das wehe Fleisch. Das Herz schnürt sich mir zusammen, ich kann nicht sprechen, ohne laut zu weinen. (Er hält inne, um nicht in Schluchzen auszubrechen.)

Broß: Sie sind sehr nervös, Herr … Sie sollten Brom nehmen.

Kyll (den Kopf in den Händen, leise vor sich hin): Dann kommen wieder Stunden – im Frühling – die Sonne scheint – verhalten, wie wenn die Natur ganz still vor sich hinlacht. Ich gehe durch den Wald – es riecht so untereinander – nach alten Blättern und jungem Gras; ein bißchen schon nach frischen Tannensprossen. Und ich komme auf eine Lichtung, der See liegt vor mir, ganz still, wie eingeschlafen. Nur manchmal schüttelt er sich, wie im Traum. Ich werfe mich hin, sehe in den Himmel, breite die Arme auseinander – mir wird so weit, so groß. Szenen, Bilder stehen vor mir auf – ich hab’ es gefunden – endlich – das Erhabene, das noch niemals Dagewesene. Ich schreie vor Jubel los, ich brülle vor mich hin, Worte, Sätze, ganze Verse. Auf einmal fällt mir ein: Das hat schon in Goethe gestanden, das in Heine, das habe ich von Ibsen, das von Maeterlink – von all den anderen, die vor mir gelebt und gedichtet haben – die verfluchten anderen. (Er wirft sich mit dem Gesicht auf die Hände.)

Broß (überlegen wie mit einem Kind): Wie wollen Sie das ändern? Es muß doch noch Menschen auf der Welt gegeben haben außer Ihnen.

Kyll (auffahrend): Weiß ich das nicht? Natürlich muß es. Das ist notwendig wie – Schmerzen – Krankheit – wie das Leben selbst. Aber man könnte doch auch nicht durch die Wüste reisen, wenn nicht Oasen wären. Das müßte sein – Oasen müßten sein. Jeder Mensch müßte noch einen haben, der kein anderer ist.

Broß (ihn verständnislos ansehend): Sie meinen?

Kyll (ganz unpersönlich): Sie haben sich gewiß gewundert, daß ich mich an Ihren Tisch gesetzt habe und Sie angesprochen. Wir passen doch gar nicht zueinander. Ich (auflachend), der verrückte Dichter, und Sie, der Krämer.

Broß (verletzt): Erlauben Sie –

Kyll (in demselben Ton): Es sieht Ihnen aus dem Gesicht, daß Sie nichts im Sinn haben als Geschäftemachen – Geldverdienen.

Broß (auffahrend): Herr, wollen Sie mich beleidigen!

Kyll (ganz unbekümmert): Wie ich hereingekommen bin, sind Sie mir deshalb aufgefallen. Ich habe mir gesagt: das ist vielleicht ein Mann, der nicht anders ist, als wie er scheint.

Broß (wieder mit mitleidiger Überlegenheit): Legen Sie darauf solchen Wert?

Kyll (ohne auf die Unterbrechung zu achten): Wie ich noch jung war, habe ich gemeint: einen Menschen, der eins mit mir ist, müßt’ ich leicht für mein ganzes Leben finden. Dann bin ich bescheidener geworden. Nur für Jahre habe ich mir’s verlangt – nur für Monate – für Wochen – Stunden. Jetzt habe ich auch das aufgegeben. Ich suche nach einem Menschen, der nicht doppelgesichtig ist, vieläugig, hundertzüngig. Und ich such’ – ich suche. –

Broß (trivial): Sie haben sicher schlechte Erfahrungen mit Weibern gemacht, daß Sie so mißtrauisch geworden sind.

Kyll (heftig): Reden Sie mir nicht vom Weib, von diesem Trugbild unserer Phantasie.

Broß (ordinär): Da haben Sie recht. Was Frauenzimmer heißt, lügt und betrügt.

Kyll: Doch nicht mehr als der Mann. Es ist nur sein tragisches Verhängnis, daß es der Gipfelpunkt der Mannesillusionen ist. Immer wieder – immer wieder glaubt er in fiebernder Erregung an die Erfüllung seiner höchsten Sehnsucht, an das Zu-eins-verschmelzen mit einem zweiten Wesen. Und weiß doch – müßte es doch wissen – daß es in wenigen Sekunden für ihn ein anderes sein wird – ein fremdes, das ihn belästigt.

Broß (mit gemeinem Auflachen): Also – was das betrifft …

Kyll (ohne die Unterbrechung zu beachten, schwärmerisch, mit Tränen in den Augen): Zwei Menschen, die füreinander keine anderen waren. Das war das Paradies. Die Schlange war die andere. Das erste Wort, das Eva mit ihr gesprochen hat, war der Sündenfall. Seitdem sind wir zu Lug und Heuchelei verdammt.

Broß: Einfälle haben Sie, Herr … (Er sucht nach dem Namen.)

Kyll (immer erregter): Bei jedem neuen Menschen fängt der Paradieseszustand wieder an. Mutter und Kind sind zuerst ganz dasselbe. Und lange noch sind sie kristallklar füreinander, bis sich das fürchterliche Anderssein dazwischen drängt.

Broß (gelangweilt): Das ist nun mal der Lauf der Welt.

Kyll (schlägt erregt mit der Faust auf die Tischplatte): Es ist ihr Fluch. Und es ist gegen die Natur. Woher käme sonst dieses Entsetzen, dieser Schmerz, wie es keinen furchtbareren gibt – wenn man an einen Freund in vertrauter Zweiheit voll geglaubt hat und man sieht ihn plötzlich unter anderen, verwandelt, unecht, ein ganz anderer. (Verzweifelt.) Gott! Einen Menschen finden, den ich achten kann! Eine Seele, deren ganze Nacktheit ich entblößen dürfte, ohne eine Täuschung zu entschleiern.

Broß (steht auf und will nach seinem Paletot langen): Sie nehmen das zu tragisch, Herr … (Er sucht den Namen.) Die Menschen sind eben keine Engel.

Kyll (steht auf, tritt vor ihn hin, aufgeregt): Meinetwegen Teufel, Tiere. Aber sie – sie selbst. Ihr Charakter ist ihr Schicksal. Sie entgehen ihm nicht; warum verbergen sie ihn also?

Broß (der nur daran denkt, das Gespräch abzubrechen, ablenkend): Die wenigsten Menschen denken so wie Sie.

Kyll (immer wilder): Warum? Warum? Alles verfault in ihnen, alles ist vergiftet. Selbst mit sich selber sind sie nicht mehr eins. Sie reden, woran sie nicht denken, tun, wobei nicht ihr Interesse ist. Sich selbst belügen sie.

Broß (über Kyll hinweg nach seinem Paletot langend, ungeduldig): Gott, Sie werden das nicht ändern.

Kyll (Broß am Arm fassend, schreiend): Aber ich ertrag’s nicht länger. Ich kann nicht länger unter Masken leben. Ich wage nicht mehr, mich nach einem Abschied umzudrehen. Ich sehe des anderen heuchlerisches Lächeln sich zu Spott verzerren. Ich fühle ihn den Dolch seiner verleumderischen Rede mir meuchlings in den Rücken stoßen. (Tritt ganz hart an Broß heran, mit wild flackernden Blicken.) Das Hirn möchte ich dem Kerl auseinanderreißen, der mir gegenüber sitzt, das Herz möchte ich ihm zerfleischen, um zu wissen, was er denkt und fühlt.

(Broß macht erschreckt einen Schritt gegen das Büfett, hinter dem der Kellner schläft.)

Kyll (faßt ihn beim Arm): Wo wollen Sie hin?

Broß (mit einem Versuch, seine Angst zu verheimlichen): Ich wollte nur den Kellner – ich möchte noch einen Kognak.

Kyll (mit wildem Blick): Sie lügen – Sie fürchten sich vor mir.

Broß (gezwungen auflachend): Aber, lieber Herr … (Er sucht den Namen.) Wie können Sie nur glauben – Sie sind so unterhaltend – ich könnte noch bis Tagesanbruch mit Ihnen zusammensitzen.

(Truck tritt ein mit einem Mädchen.)

Truck (zu Broß): Nu frag’ ich einen Menschen. Broß, Menschenkind, trifft man Sie in nachtschlafender Zeit noch im Kaffee?

Broß (erlöst aufatmend, faßt Trucks Hand, leise): Sie schickt mir der Himmel. Ich bin da an einen Wahnsinnigen geraten.

Kyll (der angestrengt hinübergehorcht hat): Was haben Sie dem Mann von mir gesagt? (Zu Truck.) Eben hat er mir versichert, ich sei so unterhaltend, die ganze Nacht möchte er mit mir zusammensitzen. (Zieht einen Revolver aus der Tasche.) Warum hast du gelogen – Kerl!

Broß, Truck, das Mädchen: Zu Hilfe! Zu Hilfe!

Kyll (mit vor Erregung erstickter Stimme): Ihr Feiglinge! Ihr Lumpenpack! Ihr – anderen – (Er erschießt sich.)

 

Wir hatten alle den nämlichen Gedanken. Der grauhaarige Herr am Ofen hielt uns zurück.

»Wenn er Ernst gemacht hat, kommt ihr doch zu spät.«

Mark Crystoll sagte trübe: »Er hat seine Todesleidenschaft gestaltet. Das kühlt sie ab.«

»Der Unberatene. Meint, er kann ein Ende machen. Und kann doch nichts als zu einem Tor hinausgehen, um durch ein anderes wieder zu erscheinen.«

Wir waren sparsam mit den elektrischen Laternen umgegangen. Trotzdem hatten sie sich allmählich verzehrt, bis auf eine, die auch eben im Begriff war auszulöschen. Die unbekannte Stimme war mit der Dunkelheit verschmolzen. Es war nicht zu unterscheiden, wem sie angehörte.

»Auch ihr,« sprach es aus dem Unbekannten weiter. »Kurzsichtige. Mit eurem Klagen und Verneinen. ›Ja‹ müßt ihr zu eurem Leben sagen. Und ›So will ich dich‹. Denn ihr wißt, mit allem seinem Schmutz und Elend kommt es immer wieder zu euch zurück.« Dann wieder, mühsam, stockend, wie aus innerem Grauen aufgestiegen:

»Oder kennt ihr es noch nicht, das schreckhafte, das apokalyptische Geheimnis? Ach,« es ächzte wie aus einer Pein, die sich doch an ihrer Einzigkeit berauscht, »daß ich verurteilt sein muß, seine Siegel vor euch zu zerbrechen.«

Ich weiß nicht, wie es den übrigen erging. Mich steigerte die in Schleier eingehüllte Herkunft dieses feierlichen Anrufs in eine erwartungsvolle Stimmung. Es wäre mir Verletzung meines Feingefühls gewesen, hätte der Unsichtbare das Pathos, mit dem er, wie aus einem tiefen Schacht, letzte Dinge seines Fühlens aus der Seele holte, in hellem Lampenscheine vor uns ausgebreitet. Die Verkündigung der abgeklärten Buddhalehre, von Nietzsche unter Qualen umgewertet in Übermenschlichkeit.