DIE ERZIEHUNG. ZUR BOSHEIT

Von A. Hauschner

Denkt euch einen braunen Wollknäuel, dem man vier Pfötchen und ein Schwänzchen angebunden hat. Oder noch besser, stellt euch eine Kugel vor, mit einem braunen Fellchen überzogen. Daran ein Köpfchen mit zwei blanken Augenpunkten, einem schwarzen Näschen und einer sammetweichen Schnauze. Oder ein lächerliches, winzig kleines Löwenjunges …

Aber vielleicht glich Bello, als ihn der Gärtner in der Rocktasche vom Markte mit nach Hause brachte, am meisten einem jener Spielzeugshunde, die schreien, wenn man sie etwas auf den Magen drückt. Nur daß man Bello dazu nicht zu drücken brauchte. Denn er klagte unaufhörlich um die Mutter, der man ihn zu früh entrissen hatte. Selbst, als er sich bereits darein ergeben hatte, tags die leere, kalte Luft und nachts eine lieblose Filzdecke über sich zu fühlen (an Stelle des weichen, gastfreundlichen Leibs, in dessen tierisch temperierter Wärme er mit den Geschwistern gekuschelt war), suchte sein Mäulchen sehnsüchtig im Halbschlaf die stets bereite Nahrungsquelle. Und er weinte schmerzlich, wenn noch niemand wach war, um ihm das gewohnte Dämmerfrühstück zu kredenzen.

Nach und nach verblaßte in ihm die Erinnerung an die Großmut der Natur. Er paßte sich der rauhen Notwendigkeit an, und aus dem wehleidigen Säugling wurde ein frohes, spielerisches Kind. Mit der Vertrauensseligkeit der ersten Jugend blickte er ins Leben. Wenn er des Morgens über die Schwelle des Gartenhäuschens rollte, trat er wie ein Herrscher in sein Reich. Die ganze Umwelt war sein Eigentum. Die kiesbestreuten, glattgeharkten Wege, die Blumenbeete, das Birkenwäldchen und der Rosenflor. Und die Himmelsglocke, die über dem Garten blaute, und die Sonnenflecken, die den grünen Rasen rötlich sprenkelten.

Er war keinen Augenblick im Zweifel, daß auch die Villa ihm gehöre, die Freitreppe, die zu der Eingangshalle führte, die Korbmöbel und Lorbeerkübel. Und daß der Spitzensaum der Tafeldecke nur darum tief herabhänge, um seinen Pfötchen ein angenehmes Spiel zu bieten. Wenn ihn ein unmutiges Wort verscheuchte, hielt er’s für einen Scherz und antwortete in der Sprache, die er eben erst in sich entdeckt und die anzuwenden ihm offenbar eine richtige Erfinderfreude gab; antwortete mit einem Bellen, das an das Krähen eines sehr jungen Hahnes gemahnte.

Ohne Hochmut besuchte er die Küche, schnupperte in allen Winkeln, schleckte alle Schüsseln aus und verschaffte sich Genüsse, die ihm sein zweites Vaterhaus nicht bot.

Für Zärtlichkeiten war er sehr empfänglich. Wehrte sich nicht, wenn die Küchenmagd ihn auf die Ohren küßte. Und träumte sich auf dem Schoß der umfangreichen Köchin, von ihrem hinströmenden Busen überragt, in den Dunstkreis seiner Kinderstube. Allem Beweglichen und Raschen sprang er entgegen; ob es auf vier oder zwei Beinen ging, auch nur ein Schatten war, ein Blatt, das eigene Schwänzchen, nach dem er sich im Kreise drehte.

Doch seine liebsten Kameraden waren die kleinen Jungen, die allmorgendlich die Zeitungsblätter brachten. Sie kamen stets zu zweit, als fühlten sie, daß ihre dürftige Erscheinung erst verdoppelt ein Individuum ergebe. Sie gingen barfuß, ihre ausgewachsenen Kleider waren mehr zerrissen als geflickt, und in den abgemagerten Gesichtern standen die dunkeln Augen unnatürlich groß.

Bello bereitete ihnen stets einen festlichen Empfang. Schon von weitem lief er ihnen zu, umhüpfte sie und entschüchterte sie so geschickt mit seinen Kapriolen, daß sie zum Schluß mit ihm auf einem Haufen gemeinsam an der Erde lagen.

Damit war der Gärtner, Bellos Besitzer, gar nicht einverstanden. Er mißbilligte schon Bellos Verkehr im Herrenhaus. »Bello soll nicht zutunlich zu Tier und Menschen sein. Bös soll er werden, mißtrauisch und scharf, sonst taugt er sein Lebtag nicht zum Kettenhund,« und duldete nur aus wirtschaftlichen Gründen sein herzliches Verhältnis zu der Köchin. Die Freundschaft mit den Zeitungsbuben aber war ihm geradezu zuwider. Zum Schutz gegen Leute, die barfuß gingen und abgenutzte Kleider trugen, sollte der Hund ja gerade aufgezogen werden.

Es wurde Bello sehr schwer, seine Bestimmung zu begreifen. Zu den ersten Kläpsen hatte er, wie ein rechter frecher Bengel, mit mutwilligen Lauten erwidert. Bald aber verspürte er, wie bitter Schläge schmecken.

Diese Erfahrung nahm ihm das Vertrauen zu der Menschengüte. Und mit dem Kinderglauben auch die Kinderzuversicht. Er lernte lügen und betrügen. Er tat heimlich, was er bisher für sein gutes Recht betrachtet hatte. Mit geducktem Kopf, das Schwänzchen (sonst der Vergnügungsanzeiger des kleinen Körpers) zwischen die Beine eingeklemmt, schlich er in die Halle, vor jeder Handbewegung fluchtbereit. Den Berührungen der Dienstboten wich er ängstlich aus und stahl, was ihm bisher freiwillig angeboten worden war.

Am zögerndsten entsagte er der Neigung zu den zerlumpten Kameraden. Immer wieder wurde er im Spiel mit ihnen angetroffen.

Da band der Gärtner ihn zur Strafe eines Nachts zum erstenmal in der großen Hundehütte fest. Verlassen, frierend, von Furcht und Sehnsucht fast von Sinnen, bat er unaufhörlich: »Verzeiht mir doch! Ich will ja brav sein! Kommt denn niemand? Laßt mich nicht allein!« Und unterbrach sein Winseln nur, um hämmernden Herzens, mit aufflammender und immer neu enttäuschter Hoffnung aufzuhorchen, ob die Erlösung sich nicht nahe … Und in der nächsten Nacht derselbe Jammer …

In den Stunden der Verzweiflung reifte langsam die Ahnung von dem Weltzusammenhang in ihm. Von der Macht des Starken. Daß der Schwache rechtlos sei und daß ihm nur eine Waffe zu Gebote stehe – die Bosheit. Er veränderte sein Wesen. Das Fellgekräusel wurde glatt, die Blicke kehrten sich nach innen, die Schnauze streckte sich und gab ihm das Aussehen eines Fuchses.

Neun Monate war er alt, als er nach dem jüngeren der Zeitungsträger schnappte.

Das Bübchen hatte sich, in dem Verlangen nach dem langentbehrten Spielgefährten, bis zum Gartenhäuschen vorgewagt. Es hielt das Knurren Bellos, dem man streng aufgetragen hatte, niemanden in die Wohnung einzulassen, für eine der beliebten Narrenpossen seines Freundes, und überschritt die Schwelle. Da biß der Hund nach ihm … über das magere Beinchen rieselte das Blut in Tropfen …

Der Gärtner lobte seinen treuen Wächter und belohnte ihn mit einer halben Wurst.

Bellos Erziehung war vollendet.

 

Unweit von mir trocknete eine junge Dame im Verborgenen eine Träne ab. »Das war eine traurige Geschichte. Armer Bello.«

Die Männer lachten. Einige im Ärger, andere belustigt.

»Meine Freundin Isabella liebt die Tiere über alle Maßen,« entschuldigte Isabellas Nachbarin.

»Und du meinst, Franziska, daß ich mich dessen schämen sollte?« Isabellas Stimme, zuerst wie von Müdigkeit verschleiert, wurde klarer.

Ich dachte, sie hat den D-Moll-Klang des »Immer leiser wird mein Schlummer«-Lieds von Brahms.

»Ja, ich liebe sie, die Tiere,« fuhr sie fort, »sie sind so hilflos wie die kleinen Kinder, sie sind so ganz auf unsere Güte angewiesen und haben zu uns so ein rührendes Vertrauen. Wir aber täuschen sie beständig und mißhandeln sie zum Lohn für ihre Liebe.« Sie hob sich etwas aus dem weiten Mantel, in den sie, fröstelnd, eingesunken war. »Nur wir Frauen sind ihnen überlegen in der Fähigkeit, stumme Martern zu ertragen.« Sie hatte ihren Platz verlassen und stand sehr schlank in einem hochgegürteten Gewand von weicher schwarzer Seide, ein dünnes Perlenschnürchen um die weiße Kehle. »Ach, was wißt ihr Männer, wie wir Frauen um die Liebe leiden können. Wir haben einen sechsten Sinn dafür.«

Ich dachte: Was tut sie? Wie weit wird sie sich vergessen?

»Wir liegen auf der Erde und zerschlagen unsere Brüste, wir hassen euch und möchten euch verwünschen. Aber wenn ihr kommt, findet ihr uns schmeichlerisch und zärtlich. Wir wissen, ihr wollt von uns die Wahrheit nicht. Und nur durch die Sinne halten wir euch fest.« Ich hätte zu ihr treten und sie verhindern mögen, sich weiter vor fremder Neugier zu entkleiden, aber sie schien schon rettungslos dem Zauber dieser Nacht verfallen, der die Schlösser an den Herzen sprengte und die Seelen zwang, schamlos zu sein. Nur tiefer in das Zimmer zog Isabella sich zurück. Wie auf einer Geigensaite sang der Mollton ihrer Stimme aus der Ferne.