WIRKUNG IN DIE FERNE

Von A. Hauschner

Gegen Abend fing es an zu schneien. Ganz langsam und bedächtig. Die großen Flocken schienen zuweilen stehenzubleiben in der regungslosen Luft, ehe sie sich niedersenkten und die Erde sanft berührten. Binnen kurzem war das Landschaftsbild verändert. Der Schnee warf auf die kahlen Wiesen und entblößten Wälder einen fleckenlosen weißen Mantel, unter dessen schimmernden Falten das Auf und Ab der Hügel sich verflachte, so daß die welligen Bewegungen des Bodens zu einer Ebene geglättet schienen, die sich geheimnisvoll in die Unendlichkeit verlor.

Iwan Michailow war auf die Landstraße getreten und starrte in die weiße helle Fläche. Im Sommer in Gefangenschaft geraten und dem ostpreußischen Besitzer als Landarbeiter zugewiesen, erlebte er den ersten Schneefall auf dem ermländischen Gut. Er dachte: Nun werden sie zu Hause auch schon Winter haben.

Zu Hause! Rechts die Anhöhe hinauf, immer der Richtung zu, in der sich allmorgendlich die Sonne zeigte. Wer doch Flügel hätte!

Vier seiner Gefährten hatten im Juli den Versuch gemacht, zu Fuß die Grenze zu erreichen. Heilige Mutter Gottes, in was für einem Zustand hatte man sie wieder hergebracht. Zu Gerippen abgemagert, verprügelt und verhungert. Wie die Wölfe waren sie über die bereitgestellte Mahlzeit hergefallen, sie, der Nahrung wochenlang entwöhnt. Jammervoll, wie sie erkrankten.

Von dieser Erinnerung verfolgt, kehrte Iwan in das kleine Haus zurück, in dem er mit seinen Kameraden wohnte. In einem viereckigen Raum, dessen Decke tief herunterreichte, saßen neun Männer auf Holzbänken um einen schmalen Tisch beim Abendessen. Sie schoben eben ihre Blechnäpfe beiseite, in manchen war die Grützsuppe nicht bis zur letzten Neige ausgelöffelt. Nicht daß die Leute übersatt gewesen wären; doch ihr Magen hatte ein standhaftes Gedächtnis, er verschmähte immer noch die fremde Kost und malte ihnen, mit der Übertreibung eines Dichters, die Tafelfreuden der Vergangenheit. Sie standen auf; einige von ihnen schütteten ihre Schwermut in die Klänge einer Ziehharmonika, der lange Jakow blies die Glut im Ofen an und fütterte sie mit einer Hand voll Reisig. Wie anders prasselten daheim die Scheiter in dem Bauch des Kachelofens, wie schmorte man, auf die Ofenbank gestreckt, in seiner ausströmenden Hitze. Die Augen gingen ihnen über, seufzend streckten sie sich auf die Diele, unausgekleidet, in ihre Decke eingewickelt.

Iwan hatte die Schüsseln aufgestapelt, um sie in das Herrenhaus zu tragen. Er war bevorzugt, dort zu der Hintertür ein- und auszugehen und Hilfedienste zu verrichten. Der Himmel stäubte noch, er hatte den entlaubten Obstbäumen im Garten mächtige Perücken aufgesetzt und überpuderte auch Iwans Schädel, als er im Vorübergehen durch den dünnen Vorhang in das Herrschaftszimmer lugte. Der junge Gutsherr saß darin mit seiner hübschen jungen Frau unter der Hängelampe, die mit einem gelben Seidenschirm verschleiert war, sie hielten sich umschlungen und lasen aus demselben Buche.

Iwan verzehrte diesen Anblick wie ein süßes Gift, das, genossen, die Eingeweide auseinanderschneidet. O Katinka! ein Tränenkloß erstickte ihm die Kehle, seit einem Jahr von dir getrennt. Dich so in meinen Armen halten, ich wüßte etwas Gescheiteres als Lesen mit dir anzufangen. Er hatte Mühe, nicht herauszuheulen.

In der Küche war noch Lärm und Bewegung. Die Köchin rührte irgend etwas auf der heißen Platte, das Lehrmädchen knetete den Teig zum Sonntagskuchen, ein Weib, das in der Ecke hockte, vermehrte den Vorrat der enthäuteten Kartoffeln, die sie in einen mit kaltem Wasser angefüllten Kübel warf, das Stubenmädchen putzte Silber, die Küchenmagd scheuerte an Holzgefäßen; und über diesem Klappern, Kratzen, Schlurren erhob sich die schrille Vielstimmigkeit des polnisch sprechenden Gesindes mit einem Tonfall, der dem harmlosen Gespräch den Anschein eines ausbrechenden Streites gab.

Franziska Wechsel, die Mamsell, hatte sich in den Flur zurückgezogen. Sie packte Äpfel, die versendet werden sollten, in zwei hohe Kisten ein, jedes Stück wickelte sie sorgsam in Papier, um es vor Schaden zu bewahren. Sie wehrte Iwan nicht, daß er sich einen Schemel hole, um ihr beizustehen.

Franziska hatte erst vor acht Wochen ihre Stellung angetreten. Ihr, der Königsbergerin, des Polnischen unkundig, der einzigen, der Verständigung mit ihm unmöglich war, gesellte Iwan sich am liebsten zu. Er meinte, daß sie seiner Katja gleiche; nicht so rundlich wie sein Schatz, aber auch so blond, dieselben treuherzigen braunen Augen, und der Mund … Iwan konnte ihn nicht ansehen, ohne den Geschmack von Katjas Lippen auf den seinigen zu fühlen.

Auch sie wurde durch den Russen lebhaft an den Bräutigam gemahnt, der vor Ypern in die Hand der Engländer geraten war. Anton war wohl dunkler, untersetzter, auch viel selbstbewußter als der schlanke Bursche mit dem wehmütigen traurigen Gesicht, aber in Gang und in Gebärden dünkte ihr die Übereinstimmung so groß zu sein, daß sie zuweilen beim Eintreten von Iwan glaubte, die Schritte ihres Liebsten zu begrüßen. Sie vermochten nicht, sich mitzuteilen, daß sie ineinander die Verkörperung ihres beherrschenden Gedankens fanden, die Zahl der Worte, die sie tauschen konnten, war überhaupt eine beschränkte; aber sie hatten einander ihre Lieder abgelauscht. Ob sie von Scheiden, Vergißnichtmein und kühler Mühle sang, ob er vom Ringlein und der Saronrose, stets fiel der andere mit der zweiten Stimme ein. Warum auch nicht? Waren denn die Melodien nicht alle auf der gleichen Unterlage aufgebaut? Auf der ewigen Verurteilung der Menschen, welchem Volksstamm sie auch angehörten, zur Unerbittlichkeit der Liebe, zu den Stürmen der Geschlechtlichkeit?

Auch jetzt summten die beiden, während ihre Finger schafften. Es war schummrig in ihrem Arbeitswinkel, der nur aus der Küche Helligkeit empfing; das Papier, das sie zerrissen, raschelte, der Duft der Äpfel drang ihnen berauschend in die Nase, er mischte sich mit dem tierischen Geruch ihrer jungen Körper, die sich tagsüber in Staub und Luft getummelt hatten. »Anton,« sehnte sich Franziska. In Iwan schrie es »Katinka«. Ihr Verlangen, das sie gemeinsam zu verschiedenen Zielen schickten, sonderte sie von den anderen ab wie eine Mauer.

Die Leute in der Küche machten Feierabend. Iwan wurde ausgesperrt. Er machte wieder einen Umweg durch den Garten; das Haus war dunkel, nur aus dem Schlafzimmer der Herrschaft blinzelte ein Licht. Iwan stöhnte auf; im Drang, irgend etwas zu umarmen, umklammerte er einen Baum und preßte sich an dessen eisigkalte Rinde. Dumpf knallte ein Klumpen Schnee hinunter. Iwan erschrak, er ergriff die Flucht. Die Ausdünstung neun Schnarchender schlug ihm in der Russenschlafstelle entgegen, auch war sein Platz am Fenster so geschmälert, daß er um seine Rückeroberung hätte kämpfen müssen. Er zog es vor, wie er schon bisweilen unentdeckt getan, im Pferdestall zu übernachten. Unter der braunen Stute kroch er in das Stroh, sie beschnupperte ihn zutraulich; er war gut Freund mit allen Tieren.

Wie im Vaterhaus lag er gebettet, über sich das Pferdeschnauben, links ein gedämpftes Grunzen aus den Schweinekoben, rechts hier und da das Muhen einer unruhigen Kuh. Dieses heimische Behagen machte ihm die kalte Fremde um so qualvoller bewußt. Von bitterlichem Schluchzen hart gestoßen, verzweifelte er, den nächsten Tag in dieser trostlosen Vereinsamung zu überleben; wie von einem Berg war sein Herz von Traurigkeit verschüttet, seine Sehnsucht flüchtete zu seiner Liebsten, nannte sie mit allen Kosenamen, bis sie ihm der Schlummer an die Seite legte.

Auch Franziska hatte keine Ruhe finden können. Der Vielbeschäftigten gebrach es meist an Muße, um Empfindsamkeiten nachzuhängen. Es waren seltene Augenblicke, in denen sie das Gleichgewicht verlor und eine Unruhe zu ihrem Liebsten ihr das Blut verbrannte, eine Auflehnung gegen die Grausamkeit, ihre Jugend ohne seine Zärtlichkeiten zu verwarten. Eine solche Stimmung hatte ihr heute die Müdigkeit verscheucht. Sie holte Antons Karten, die aus dem Westen in großen Zwischenräumen an sie gelangten, doch an den kargen, eingezäumten Worten kühlte sich ihr Fieber nicht.

Ein gedämpfter Laut des Kummers, der vom Wirtschaftshof her zu ihr drang, brachte sie der Wirklichkeit zurück. Die braune Kuh, Franziskas Liebling, hatte vorgestern gekalbt, und das Kälbchen war ihr sofort weggenommen worden, weil es, laut Kriegsgesetz, auf die mütterliche Vollmilch keine Berechtigung besaß. Darum jammerte die Mutter und rief das Menschenmitleid an. Franziska, der vierbeinigen Kreatur stets sorglich zugetan, fühlte sich ihren Nöten eben mehr denn je verbunden. Sie schlüpfte in die Schuhe, warf den Mantel über und tappte bei der Führung der Laterne durch den Schnee. Nach einem kurzen Zuspruch an die Wöchnerin besann sie sich nicht lange, die militärische Verordnung zu umgehen; sie hob das Neugeborene aus dem Verschlag, in dem es zitternd und klagend nach der Erfüllung der betrogenen Instinkte suchte, und legte es der Mutter an den vollen Euter. Als sie das Sattgetrunkene, Eingedöste aufnahm, um es wieder auf seiner Streu zu bergen, kuschelte es sich, seinen Aufenthalt verkennend, in die Weichheit ihres Schoßes ein, zog ihren Finger in sein zartes Mäulchen und begann, wohl in dem Wahne, seine Mahlzeit fortzusetzen, daran zu lutschen.

Es war nur ein Tier, doch seine Hilfsbedürftigkeit, die Wärme, die aus seinem Körper in den ihren strömte, das sanfte Saugen, als Ausdruck seines kindhaften Vertrauens in die gütigen Zusammenhänge der Natur, rührten das Urgründigste in Franziskas Weibeswesen auf. Die Tränen, die das Fell des Kälbchens überschwemmten, flossen aus den Quellen ihrer ursprünglichsten Bedürftigkeit, und die Forderungen ihrer Sinne, die zugleich ein Umweg zu ihrer Mutternotwendigkeit waren, stürzten in Gedanken zu dem einzigen, durch den sie sich erfüllen wollten.

* * * * *

»Katja, Täubchen,« sagte Iwan im Traum zu seinem Mädchen, »ich muß weg von dir, es ist schon Tag. Nebenan haben sie schon die Stalltür aufgemacht.« Dabei schmiegte er sich ihr wieder an, unfähig, ihre Nähe aufzugeben.

Hatte er sich dann doch ermuntert, war in die ungestirnte Nacht hinausgetreten und hatte in den Nachbarstall gelauscht? Aber wie kam denn Katinka, die er eben erst verlassen hatte, dazu, schon dazusitzen und zu melken? ihm den Rücken zugewendet und von der Finsternis kaum zu unterscheiden. Nur wenn ihr Kopf in den Bereich der Stallaterne tauchte, blitzte der Goldschein ihrer langherabhängenden blonden Zöpfe auf und das Weiß des Hemdes, das ein wenig von der vollen Schulter rutschte. Wie oft hatte er sie im Morgengrauen so überrascht? Sie so beschlichen, ihren Nacken so ungestüm geküßt?

* * * * *

Wunderkräfte wirken in der Liebe. Auf ihrem Zauberwagen flog Iwan, über Hunderte von Meilen weg, zu seinem Russenmädchen. Mit Antons Schritten lief sie auf Franziska zu.

Das Laternchen war umgefallen. Im Dunkel vollzog sich das Geheimnis der Verwandlung. In festerer Treue wurde Untreue noch nie geübt.

 

»Weh’ mir, weh’ mir!«

Der Mann im Kaftan hatte schon den Heimwehkrampf der Grödner-Vefi mit sonderbaren Ausrufen begleitet. Mir war es, während ich sprach, beunruhigend gewesen, daß er sich mit leisem Stöhnen hin und her bog wie in Schmerzen. Ich ging zu ihm, um ihn zu fragen, was ihm fehle. Er hob den Kopf, ich blickte in Verzweiflung. Er preßte meine Hände. Seine Kehllaute, verständlich, wenn die Rede ruhig floß, verschwammen oft, wenn er in äußerster Erregung in sein Jiddisch-Deutsch verfiel. Was der Auslegung aber nicht bedurfte war der Ton, der aus ihm schrie, wie aus den finstersten Verließen menschlicher Unbarmherzigkeit, das Leid, das aus ihm brach wie Eiter aus Jahrtausend alten Wunden, die von Haß vergiftet, ewig am Leib der Menschheit schwärend, sich niemals schließen können.