DIE REISE NACHINDIEN
Von A. Hauschner
Sebastian Schierke war von Geburt an ein Träumer. Er lag stundenlang in seinem Korb und starrte in die Hängelampe, unter der der Vater auf seinem Schusterschemel saß und nähte. Seine ersten Wahrnehmungen erwachten in ihrem Lichte. Sie blieb ihm die Sonne, als er schon reif genug war, auf allen Vieren zu kriechen. Der Kreis, den ihre Strahlen erhellten, schien ihm unermeßlich. Und die Ecken, in die sie nicht hineinleuchtete, waren für ihn unheimliche, von schrecklichen Dingen erfüllte Höhlen. Das empfand er, ehe er es verstand. Ehe er noch seinem Spielzeug, den zerrissenen Stiefeln, den Holzleisten und Handwerksgeräten Namen und Gefühle verlieh. Ehe er noch für das Gemisch von Pech-, Leder- und Petroleumgeruch einen Ausdruck erfunden hatte. Das Wort »Buhaha«, in das er eine Fülle von Bedeutung hineingeheimnißte.
Dann, als er zum erstenmal die Kellertreppe hinaufkletterte, sah er, wie groß die Welt war. Wochenlang dauerte seine Reise durch alle Gänge, Nischen, Höfe und Bodenräume des altmodischen, winkeligen Hinterhauses. Die Straße mied er, sie war ihm zu hell und schnurgerade. Auch scheute er die anderen Kinder und ihre geräuschvollen Spiele.
Am liebsten saß er im Holzkeller zwischen den Stößen, während die Mutter die gefüllten Körbe in die Wohnung des Hausherrn schleppte. Da war er in dem großen, finsteren Märchenwald, von dem ihm der Vater zuweilen erzählte. Von ganz hinten kam ein matter Lichtschein (es war Mutters Laterne, die an der Erde stand) aus einem einsamen Haus. Darin hielt die böse Hexe das Königskind gefangen. Er selbst hockte zwischen riesigen Bäumen, roch die Tannen und welkenden Blätter und lauschte auf ein entferntes Rauschen und Murmeln. Und gleich mußte die Tür aufgehen und die Prinzessin eintreten, im weißen Kleid, die goldene Krone auf dem Kopf, und zu ihm sagen: »Bitte, lieber Prinz …«
Gewöhnlich kam im schönsten Augenblick die Mutter und schalt, wenn sie ihn antraf. Müßig, mit verschlafenen Augen. Der Vater aber nahm ihn immer in Schutz. Der blasse Mann, an dem eine tückische Krankheit langsam zehrte, verstand seinen Knaben. Auch ihm waren die Gedanken die liebsten Gefährten. Aber hatte er es nur bis zum Flickschuster gebracht, der Sebastian war zu etwas Höherem geboren. Dafür hatte er, schwarz auf weiß, die sicheren Beweise.
Auf der Kommode in der Hinterstube lag, zwischen einem Porzellanhund und einem Glaspokal, eine schwarze, goldbetreßte Mappe. Darin ruhten, nach dem Datum geordnet, Sebastians gesammelte Gedichte.
Das erste, das er in seinem siebenten Jahre mit ungelenken Buchstaben hingemalt hatte:
»Nachtz mich der Schluhmer fliht,
Gott in mein Hertze siht,
Nichtz is alz Lihbe drein,
Lihb für mein Feterlein.«
Das gereiftere, beiden Eltern gewidmete:
»Und eh wangt Fels und Stein,
Eh fellt des Himmels Welbung ein,
Eh ich vergehs was ich euch dank
Was ihr mir tuth mein Leben lank.«
Das Lied, zu dem ihn drei Jahre später ein Ausflug nach Wilmersdorf begeistert hatte:
»Mein Herz gleicht der wandernden Welle
Es gleicht dem schimmernden See
Es mischt in die Freude die helle
Sich leise ein flüchtiges Weh.«
Und viele andere. – Vater Schierke kannte sie alle auswendig, er summte sie bei der Arbeit halblaut vor sich hin. Und für die Kunden, die sie zu hören verlangten, suchte er das haltbarste Leder aus.
Der Gemeindeschullehrer war weniger zufrieden mit dem jungen Sebastian.
Rechnen und Rechtschreiben waren dem Knaben unsympathisch. In der Geographie interessierten ihn nur die entferntesten Erdteile, und dem deutschen Aufsatz war seine lebhafte Phantasie mehr störend als förderlich.
Daß ihm im Grunewald eine Hyäne begegnet sei, wollte ihm der Lehrer durchaus nicht glauben. Und ein Gedicht, das er in die Schilderung der Ferienfreuden einflocht:
»Rings im Schlummer lag die Welt,
Niemand wach als sie und ich,
Und im gelben Ährenfeld
Küßt’ ich sie und küßt’ sie mich«
wurde als »völlig anstößig« mit einer schweren Rüge bestraft.
Den Vater bekümmerte das nicht. Sein Junge war eben ein Genie. Und »Genies brauchen keine Bildung, sie nimmt ihnen nur die Kraft und die Naivität,« versicherte ihm der junge Schriftsteller, der Jahr um Jahr seine Stiefeln schuldig blieb.
Bis zur dritten Klasse war Jungschierke mühsam geklettert. Da legte sich der Alte zum Sterben.
Nach acht Wochen schweren Siechtums trug man ihn, unter der brennenden Lampe hinweg, in das ewige Dunkel. Er freute sich nicht mehr an den Versen, die ihm sein Dichter auf den Grabstein schrieb:
»Schatten des Todes, du schreckest uns nicht,
Die wir vertrau’n auf das göttliche Licht.
Will uns vor Schmerz auch das Herz fast vergeh’n,
Bleibt uns der Trost doch, Dich wiederzuseh’n.«
Er litt nicht mehr an dem Kummer, den sein Tod seinem Liebling brachte.
Krankheit und Begräbnis hatten alle Ersparnisse aufgezehrt und zu Schulden gezwungen. Frau Schierke verkaufte Handwerkszeug, Vorräte und die besten Möbel. Sie vermietete die Vorder- und Hinterstube an eine Plättanstalt und sich selbst als Gehilfin. Für sich und den Jungen behielt sie nur die Küche und eine kleine Kammer.
Mit der Kommode, dem Porzellanhund und dem Glaspokal verschwand auch die Mappe mit Sebastians gesammelten Gedichten. Bis Ostern durfte er die Schule noch besuchen, dann wurde er eingesegnet und ausgeschickt, einen Erwerb zu suchen. Zu einem Handwerker natürlich. Denn »jelernt haste nischt, und vor det olle Jequassel und Jeschmiere jiebt dir keen Mensch keenen Dreier nich« meinte die Mutter.
Sebastian widersprach nicht. Sein Kindersinn war schwer verdüstert durch den Verlust des gütigen Vaters. War er früher still gewesen, jetzt wurde er stumm.
Sein Abgangszeugnis war schlecht. Seine schwächliche, engbrüstige Gestalt, die zögernde Sprache nahmen gegen ihn ein. Von Stelle zu Stelle wurde er abgewiesen. Bis sich ein früherer Kunde des alten Schusters, für den Frau Schierke jetzt die Hemden plättete, seiner annahm. Der alte Justizrat Korn setzte den jungen Schierke als Schreiber in seine Kanzlei.
Da saß er nun Tag um Tag und Jahr um Jahr an einem gelben Holztisch, den überschlanken Körper weit vorgebeugt, um die kurzsichtigen Augen den schreibenden Fingern zu nähern, und malte verständnislos, aber gewissenhaft die Buchstaben auf das Papier. Tag um Tag freute er sich auf den Augenblick, in dem er die Feder ausspritzen, den grauen Kattunärmel abstreifen und die Tür des Bureaus hinter sich schließen durfte. Dann regten sich die heimlichen Gedanken, die Tags über an der Kette lagen. Dann schlüpften sie aus ihrem Versteck und flatterten und sangen um ihn her wie freigewordene Vögel.
Zu Hause mußte er noch der Mutter helfen. Einholen, Feuerung tragen, fegen und bürsten. Nachts aber, allein in der kalten Kammer, schrieb er beim Kerzenlicht auf, was in ihm klang und weinte. Seine schwerersparten Groschen wandte er an Papier, Tinte und Porto. Einmal mußte doch der Erfolg kommen, die Anerkennung – die Freiheit.
Ach! Sie kamen alle wieder, die Reime, die er in die Welt hinausschickte. Diejenigen ausgenommen, deren Rücksendung man ganz vergaß.
Da starben ihm langsam Mut, Hoffnung und der Glauben an sich selbst. Nur die Phantasie blieb leben und hungerte. Er suchte ihr fremde Nahrung. Er machte Jagd auf alles Gedruckte. Auf die billige Zeitung seiner Wirtin, der Plättstubenbesitzerin Frau Ruhnau. Auf die Kolportagehefte ihrer Gehilfinnen, auf ihre Käse- und Stullenpapiere. Seine Spargroschen trug er jetzt zum Trödler, bei dem er in alten, zerrissenen Büchern wühlte. Was ihn entzückte, waren Ritter- und Schauerromane, Kriminal- und Jagdgeschichten. Außergewöhnliche, aufregende Ereignisse. Der Gegensatz zu seinem armseligen, eintönigen Leben.
Eines Tages fand er im Bureau unter einem Stoß alter, dem Einstampfen geweihter Akten ein paar rote Bände. Verjährte Baedeker von Oberitalien und der Schweiz, zum Wegwerfen bestimmt. Er nahm sie an sich. Des Einbandes halber, und weil ihn jedes Buch reizte. Zu Hause erst entdeckte er, was für einen Schatz er sich erbeutet hatte. Was waren alle erfundenen Geschichten gegen diese fesselnde Wirklichkeit! Was für Herrlichkeiten gab es draußen in der Welt! Wie leicht waren sie zu erreichen! Man brauchte nur Geld in seine Börse zu tun, in den ersten besten Eisenbahnzug zu steigen und dann dem roten Wegweiser getreulich zu folgen.
Er tat das alles – im Geiste.
Er überschritt die höchsten Pässe, bestieg die gefahrvollsten Gipfel, durchlief die herrlichsten Kirchen und Galerien. Jeden Weg und Steg lernte er auswendig, bemaß alle Entfernungen, kannte alle Aussichtspanoramen und hätte mit verbundenen Augen die schwierigsten Bergübergänge gefunden. Er war ein vornehmer Reisender. Fuhr nur mit Schnellzug und Extrapost, bewohnte die teuersten Hotels, speiste in den feinsten Restaurants, kaufte ab und zu kostbare Kunstgegenstände und sparte nicht mit Trinkgeld. Und mußte nur täglich seine Reise für vierzehn Stunden unterbrechen, um in der Kanzlei und Plättstube zu arbeiten.
An einem Freitag Abend war er mit zwei der besten Führer aufgebrochen, um den Montblanc zu besteigen. Er wählte den schwierigsten Aufstieg über den Brouillardgletscher und wurde eben angeseilt, um eine kaminartige Schlucht zu erklimmen. Da holte ihn Frau Ruhnau. Vorn im Laden lag die Mutter. Mitten in der Arbeit hatte ein Herzschlag sie umgeworfen.
Sebastian hatte der Mutter innerlich nicht nahe gestanden. Was er, der Weltfremde, an ihr verlor, machte er sich nicht klar. Um so weniger, als Frau Ruhnau, eine kinderlose Witwe, sich anbot, ihn für ein geringes Entgelt weiter zu versorgen. So bedeutete ihm dieser Tod fast eine Befreiung.
Fortan gehörten seine Mußestunden ihm. Er konnte erleben, was er bisher geträumt, er konnte reisen. Nur in den Tiergarten zwar und Sonntags allenfalls in den Grunewald. Aber eine Bank unter Bäumen, am Rande eines Sees wurde ihm zum Zauberroß, das ihn in weite Fernen trug.
Er schloß die Augen und hörte das Rauschen des Wasserfalles, roch den Duft der Matten. Die Glocken der Pferdebahn wurden ihm zum Kuhgeläute, das Pfeifen der Stadtbahnzüge zum Signal des Dampfschiffes. Fremdartige Vögel sangen ihm zu Häupten, in fremden Zungen redeten die Menschen, die ihn umgaben.
Und das schönste blonde Mädchen, das bei ihm vorbeiging, war sein heimliches Liebchen. Zwar tat sie fremd und erhob nicht die Blicke. Aber er wußte, seine Träume wußten, wie süß und zärtlich sie ihn liebte.
Zuweilen gelang es ihm, sich zu verirren.
Dann überliefen ihn alle Schauer des Geheimnisvollen. Der Kiefernforst wurde zum Urwald. Hinter dem undurchdringlichen Dickicht lag eine unbekannte Welt. In den Zweigen und Blättern knackten und raschelten die Tritte wilder Tiere, er schwebte in lauernden Gefahren. Bis zum Herzklopfen wußte er sich die unheimliche Stimmung zu steigern.
Trat er dann auf eine Lichtung hinaus und sah im Frieden des stillen Sommerabends ein Rudel Rehe äsen, sah das letzte Licht der Sonne, das die Stämme rötlich streifte und den See durchglühte, dann füllte ein übermächtiges Gefühl Herz und Seele. Er warf sich in das Heidegras und weinte vor trauriger, sehnsuchtsvoller Seligkeit.
Von diesen Ausflügen kam er ermattet heim. Mit fiebernden Wangen, in den Augen einen trunkenen Glanz, die Lippen glühend wie vom Kuß der Geliebten. Nachts schlief er schlecht, hustete, wälzte sich ruhelos und schlich am anderen Morgen lustlos zu seiner Arbeit.
Frau Ruhnau sah ihm kopfschüttelnd nach. Sie hatte sich den Verkehr mit ihm ganz anders gedacht. Eine Mischung von mütterlicher und weiblicher Liebe fesselte sie an ihren jungen Mieter. Seine Hilflosigkeit dauerte sie, zugleich war sie berührt von seiner stillen Eigenart. Wenn er der Versuchung, seine alten Gedichte wieder einmal zu hören, nicht widerstehen konnte und ihr abends daraus vorlas, wenn seine Gestalt sich aufrichtete, wenn ihm die Haare in das blasse Gesicht fielen und seine Züge sich verklärten, schien er ihr fast schön. Längst machte sie sich allerlei Gedanken.
Er war zwar neun Jahre jünger als sie, aber darauf kam es bei so einem nicht an. Eine Junge, Leichtsinnige würde schlecht zu ihm passen. Er brauchte eine Alte, Erfahrene. Hausfrau und Mutter zugleich, die seine zarte Gesundheit schonte und pflegte. So eine wie sie. Dafür konnte er die dumme Schreiberei an den Nagel hängen, ihre Bücher führen, ihre Rechnungen schreiben, es konnte ein prachtvolles Leben geben.
Nie hatte sie bemerkt, daß er nach den Mädchen sah; nun verdächtigte sie ihn zum erstenmal einer heimlichen Liebschaft.
Ganz glücklich war sie, als er im Herbst seine Spaziergänge aufgab und zu seinen Büchern zurückkehrte. Häuslicher denn je, denn der Zufall hatte ihm einen neuen Schatz in den Schoß geworfen. Ein kostbares Werk – Reisebilder aus Indien – aus dem Englischen übersetzt. Drei dicke Bände mit Illustrationen. Durch einen Zimmerbrand beschädigt und geschwärzt, waren sie zum Altbücherhändler und in Sebastians Hände geraten.
Aus ihren verstümmelten, versengten Blättern erwuchs ihm eine Fülle neuer Freuden. Schweiz- und italienmüde wie er war, überdrüssig des bequemen Führers auf geebneten, betretenen Wegen, fand er in diesen Blättern ungeahnte Sensationen.
Da waren Abenteuer und Seefahrten, tollkühne Ritte, wilde Jagden, da war Glanz und Pracht, Blumenduft, Blut und Grausamkeit. Alle Märchen der Jugend wurden lebendig: die unheimlichen Höhlen in der Schusterstube, die Prinzessin im Holzkeller, das »Buhaha« der Kindheit, dieser Inbegriff alles Geheimnisvollen.
Sein körperlicher Zustand, ein leichtes Fieber, das unbeachtet in ihm brannte, steigerte die Feinfühligkeit seiner Nerven, überhitzte seine krankhaft erregte Phantasie.
Zum erstenmal wurde es ihm schwer, die Arbeit des Tages von den Träumen der Muße zu trennen. Zwischen die trockenen Aktensätze schoben sich die Elefantenrüssel, die Götzenbilder und Palmenhaine Indiens. Buntschillernde Insekten umsummten ihn, die heiligen Affen wiegten sich auf schaukelnden Zweigen. Seine Blicke hingen an dem Zeiger der Uhr, seine Wünsche ersehnten den Moment der Erlösung. Heim stürzte er, vergrub sich in seine Bücher und war blind und taub für alles, was um ihn herum vorging.
Da fand es Frau Ruhnau an der Zeit, deutlicher zu werden. Sie nahm seine angegriffene Gesundheit als Vorwand, brachte ihm allerlei Leckerbissen und lud ihn zu sich in die Vorderstube. Da könnte er ebensogut lesen. Oder noch besser, ihr vorlesen. So wäre ihnen beiden geholfen.
Die gute Frau Ruhnau. Sie ahnte nichts von den Erlebnissen ihres Mieters.
Bisher war er ein mächtiger Maharadscha gewesen, der Herrscher in Bhurtpur. Vor kurzem erst hatte er einem englischen Herzog zu Ehren glänzende Feste gegeben. Er hatte eine Dschungel abbrennen lassen und die flüchtenden Tiere des Waldes zu Tausenden getötet. Er hatte Tiger und Elefanten gejagt, Büffelkämpfe veranstaltet, er hatte Gold und Edelsteine unter die Menge geworfen.
Seit einigen Tagen aber hatte er sich in einen Brahmanen verwandelt und diente dem vielarmigen Gott Siva in dem herrlichen Tempel von Rameswaram. Die schlanke Sidla, die schönste aller Bajaderen, war seine Freundin. Allnächtlich besuchte er sie in ihrer Zelle. Perlen und Opale rieselten an ihr hernieder, seidene Gewänder umrauschten sie. Doch heller als alle Gesteine glänzten ihre Augen, weicher als alle Seide flossen ihre Haare. Aus silbernen Schleiern blühten ihre Brüste, die Gazellenzartheit ihrer weißen Glieder. Sie liebkoste ihn mit sanften Händen, sie umtanzte ihn mit leichten Füßen. Und wenn sie müde war, sank sie neben ihm nieder, unter die Punka, die zwölf ihrer holden Gespielinnen leise bewegten. Von solcher Huld begnadet, wie hätte er Sinne behalten für die derben Reize seiner Wirtin.
Höflich dankte er ihr und verriegelte hinter ihr die Tür.
Sie kam wieder, sie pochte und fragte und wollte sich den Eingang erzwingen. Zu einer Stunde, da die liebliche Sidla, von Tanz und Liebe ermüdet, auf weichen Teppichen soeben in Schlummer gesunken war.
Sebastians Zorn erwachte. Er wies die Störerin hinaus, verlangte sein Hausrecht und den Frieden seiner Stube, die er ehrlich bezahlte.
Da brach es wild hervor, was an Enttäuschung und Groll in Frau Ruhnaus Innerem kochte. Von erwiesenen Wohltaten sprach sie, von Undank und Bettelstolz. Sie fragte, ob er wirklich glaube, für die lumpigen paar Groschen solche Kost und Pflege beanspruchen zu können. Sie sagte viel Böses. Und der arme Träumer erwachte.
Er sah ein, daß er nur Gnaden genossen, wo er geglaubt hatte, Rechte zu besitzen.
Es war ein böses Erwachen.
Wie ein Schlaftrunkener stand er verwirrt vor der Scheltenden. Dann griff er nach Hut und Mantel und lief hinaus. Seinen einzigen Bekannten, den Bureaudiener Franz, um ein Obdach für die Nacht zu bitten.
Am anderen Morgen mietete er die erste schlechteste Wohnung. Eine kleine Kammer im vierten Stockwerk eines düsteren Hinterhauses. In sein altes Heim kehrte er nur zurück, um seine Siebensachen zu packen.
Frau Ruhnau, verängstigt und reuevoll, versuchte eine tränenreiche Versöhnung. Mit der eigensinnigen Festigkeit der Schwäche wies Sebastian sie ab. Aus den Räumen, die ihm vierundzwanzig Jahre die Heimat bedeuteten, ging er grollend in die unbekannte Welt.
Nun war er ganz frei. Wenn er abends nach Hause kam, war sein Zimmer nicht geheizt, sein Bett nicht geordnet, sein Mahl nicht bereitet. Aber er konnte ungestört lesen und träumen, niemand belästigte, niemand befragte ihn.
Als der Frühling kam, hätte er ganze Nächte im Freien umherlaufen können, ohne jemanden zu betrüben. Nur daß seine Kräfte nicht reichten. Eine bleierne Müdigkeit hing ihm im Körper. Der Husten, der ihm den Schlaf störte, quälte ihn auch bei Tage, stechende Schmerzen benahmen ihm Atem und Sprache, mühsam nur trugen ihn die Füße von der Wohnung zur Arbeit.
In der Kanzlei war man immer freundlich zu ihm gewesen. Man hatte sich an seine stille, bescheidene Art gewöhnt und ihm manche Nachlässigkeit verziehen. Jetzt verlangte die Menschlichkeit, seinen Zustand nicht zu übersehen.
»Es geht nicht länger mit dem Schierke, Herr Justizrat« sagte der Bureauchef, während er die Akten zur Unterschrift vorlegte. »Er macht nichts als Dummheiten.«
»Verliebt?«
»Krank, schwer krank, wie ich fürchte. Sieht aus wie der Tod.«
Der Justizrat war gutmütig, wenn seine Zeit es ihm erlaubte.
»Dann kann man ihn doch nicht ohne weiteres auf die Straße setzen! Schicken Sie ihn zum Arzt, gleich heute. Und er soll sich morgen bei mir melden, zwischen neun bis zehn Uhr, ehe ich aufs Gericht gehe!«
Es bedurfte keiner langen Untersuchung.
»Essen und trinken Sie so gut wie möglich« verordnete der Arzt. »Kleiden Sie sich warm, und wenn Sie vielleicht Verwandte auf dem Lande haben, um für ein paar Wochen zu verreisen …«
Nur dies eine Wort blieb in Sebastians Hirn haften:
Reisen – reisen – weit weg – nach Indien!
Der Maitag war warm und lockend, im Bureau erwartete man ihn nicht. So lange hatte er nicht unter Bäumen gesessen, am Rande eines Sees.
Trotz Müdigkeit und Schmerzen wanderte er hinaus. Doch die Seligkeit von früher wollte nicht über ihn kommen. Er fror im hellsten Sonnenschein, seine Phantasien verdichteten sich zu bösen Träumen.
Die wilden Weddahs, Teufeln gleich in ihrer braunen Nacktheit, schlichen aus dem Gebüsch, umtanzten ihn und stachen ihn mit ihren Wurfspießen. Die gelbe Kobra, Indiens Riesenschlange, zischte ihn an, blähte den giftgefüllten Schlund, umschnürte mit kalten Ringen die erstickende Brust.
Von plötzlicher Angst gejagt, lief er heim. Auf der Treppe sank er zusammen, ein Strom von Blut brach aus seinen Lungen.
Er lag in seinem Bett allein und verlassen. Ab und zu sah die Nachbarin nach ihm. Aber sie hatte selbst sechs Kinder und reichliche Arbeit.
»Er muß ins Krankenhaus« sagte sie zu Franz, der täglich kam und zuweilen Erfrischungen brachte, die der Justizrat schickte. »Das muß doch sein Dienstherr bezahlen. Lange macht er’s doch nicht« setzte sie leiser hinzu.
Franz stimmte bei, auch der Arzt teilte ihre Ansicht.
Aber wie ein eigensinniges Kind widersetzte sich Sebastian. Nur nicht ins Krankenhaus. Er bat und weinte. Dann kam das Fieber, der Husten und das rote Blut …
Der alte Diener war in Verzweiflung. Da fiel ihm Frau Ruhnau ein. Eine tüchtige Frau war sie gewesen, trotz alledem. Vielleicht wußte sie Rat.
Dampfend und zischend blieb das Oberhemd, an dem die Plättfrau mit rotglühendem Bolzen arbeitete, auf dem Brett liegen.
Barhäuptig, ein Tuch um die Schultern, lief sie zu dem Kranken.
Der arme Junge. Wie er dalag. Das weiße Gesicht zusammengefallen, die schmale Nase wachshell, schwarze Schatten unter den Augen, schweißfeuchte Haarsträhnen tief in der blaugeäderten Stirn. Er erkannte sie nicht. Unruhig warf er die Arme umher, stöhnte leise oder murmelte vor sich hin.
Armer Junge, armer, armer Junge!
»Kann man gar nichts für ihn tun?« fragte sie den Arzt.
Der zuckte die Achseln.
»Ihn wenigstens hier herausbringen?«
»Er will ja nicht ins Krankenhaus. Nach Italien werden Sie ihn wohl nicht schicken können, würde ihm auch kaum mehr was nützen.«
Die Frau zuckte zusammen. »Wenn man ihn wenigstens hier herausbringen könnte« wiederholte sie.
Sie sah sich um.
Die Kammer, das Bett, die Wäsche, alles klebte voll Staub und Schmutz. Die Luft selbst roch nach Unsauberkeit und Armut.
Und draußen war es Sommer. Selbst in dieser traurigen Straße.
Eben war es einem Sonnenstrahl gelungen, die hohe Mauer zu erklettern. Aber gleich war er wieder weg, als sei er erschrocken zurückgefahren.
»Herr Doktor.« Frau Ruhnau sprach langsam und überlegend, »mein Schwager, er hat’n Fuhrgeschäft in der Möckernstraße, der hat so’n kleines Häuschen zwischen Treptow und Eierhäuschen. Am Sonntag fährt er mit der Familie ‘raus, und an warmen Sommerabenden vergnügt er sich da mit’s Angeln. ‘S is man ‘ne Kabuse, ‘n bißken feucht mag’s auch sein –. Aber immer noch besser wie hier. Wat meinen Sie, wenn man den Jungen da ‘rausbrächte, könnt’ er sich da erholen?«
Der Arzt schwieg.
»Könnt’ er’s wenigstens – aushalten?«
»Das kann ich Ihnen nicht garantieren. Die Natur ist unberechenbar. Aber er kann doch nicht draußen ganz allein –«
»Dafür lassen Sie mich sorgen. Ich hab’ ihn von klein auf gekannt, er ist wie mein eigener!« sagte sie noch rasch. Ganz rot wurde sie dabei. Wenn der Doktor wüßte.
»Dann habe ich nichts dagegen.« Es wird ihm das Sterben erleichtern, dachte er bei sich.
Am nächsten Nachmittag, es war etwas spät geworden der Pferde halber, die nicht früher frei waren, trugen Frau Ruhnau und ihr Schwager den kranken Sebastian die Treppen hinunter. Sie betteten ihn sorgsam in den offenen Wagen, der Mann sprang auf den Kutschbock, die Frau saß auf dem Rücksitz und hielt des Kranken Hände.
Er war sehr schwach und nicht bei vollem Bewußtsein. Er fühlte kaum die Stöße und Rucke auf dem schlechten Pflaster. Frau Ruhnau aber zuckte jedesmal zusammen. »Wären wir erst da! Wären wir erst da.«
Endlich hatten sie die Köpenicker Straße hinter sich, sie fuhren auf der Treptower Chaussee. Der Wagen bog in den Wald ein, fuhr an den Fluß und blieb vor einem kleinen Häuschen stehen. Ebenerdig, ohne Unterbau, aus grün angestrichenen Brettern zusammengebaut, glich es einer Sommerlaube. Hinter ihm lag die Spree im Abendsonnenschein.
Purpurrot lohte der Himmel, Purpur fiel auf Ufer und Fluß. Zartgrüne Weiden, lichte Gewänder, weißliche Boote, von halbnackten Gestalten pfeilschnell getrieben, schwellende Segel, schwärzliche Flöße, alles schwamm und schwebte in rosigem Schein. Jede Schwere war behoben, jede Härte aufgelöst, Flimmern und Leuchten in Wasser und Luft.
Frau Ruhnau beugte sich über den Kranken.
»Wir sind da, Sebastian, Sebastian!«
Er hob ein wenig den Kopf und starrte träumend in das lebendige Licht.
In seine erlöschenden Augen trat ein unirdischer Glanz.
»Indien – das ist Indien!«
Frau Ruhnau schüttelte den Kopf.
»Nee, mein Jungechen, das is Treptow. Und das Häuschen, das is mein Schwager seine Sommerbude.«
Er hörte sie nicht mehr. Aber als sie leise seine Wangen streichelte, mit harten Fingern und doch sanft und zärtlich, huschte ein seliges Lächeln über seine Züge.
»Wie schön bist du, Sidla – zauberhaft schön!«
Einmal noch seufzte er tief – streckte sich – und fiel in die Kissen.
So war er doch in Indien gestorben.
Aus dem Hintergrund hatten sich schon wiederholte Laute der Ungeduld gemeldet. Jetzt trat der Störenfried erkennbar in den Bereich der Lampe. Wie ein Arbeiter gekleidet, hektisches Rot auf den vorspringenden Backenknochen, den Stempel des Intellekts auf der tief durchfurchten Stirn. »Faxen,« rief er. »Ist halt ein schwindsüchtiger Junge umgestanden. Was ist daran schon gelegen.«
Verständnislos pflanzte er sich vor dem Jüngling auf, der, noch warm von seiner Beichte, die Schultern hochzog wie unter einem kalten Wassersturz. »Ihr seid, scheint’s mir, auch so einer, der das Volk beschnüffelt, ohne von seinem Wesen das Geringste zu verstehen. Seid’s Ihr schon einmal ein tschechischer Textilarbeiter gewesen? Habt’s Ihr schon einmal, um einen Schandlohn, bei Frost und Hitze einen Webstuhl zehn, elf Stunden lang bedient? Wißt’s Ihr, was, ehe wir gekommen sind, um ihm zu helfen, so einem armen Webermädel die Dampfpfeife bedeutet hat? Ihr Großstadtherrchen, also darüber sollt Ihr jetzt von mir etwas erfahren.«
Auf die Tischtafel gestützt, die Blicke herausfordernd auf den Deutschböhmen gerichtet, fing er an. Der geübte Redner war ihm anzumerken.