AUS RINBERTAGEN

Von Anna Schiebr

Ich bin wieder einmal die alten Wege gegangen. Den Landolinsberg hinauf gegen die Burg hin und den grünen Weg entlang. Mich dünkt, er sei nicht mehr so grün, wie einst. Ich kann mir noch Zeiten denken, da schlugen die Büsche und Bäume hoch über einem zusammen und man war ganz ins Grüne hineingetaucht. Bis sich dann auf einmal die Wölbung auftat und das Neckartal vor einem lag und alles in Licht und Sonne und Farbe und Duft schwamm, die Stadt, die liebe, alte Stadt mit ihren Türmen und Giebeln und Gassen und der Neckar und die jenseitigen Höhen. Wenn dann eine Uhr zu schlagen anhub und eine nach der andern folgte, die auf dem neuen Rathaus, und die auf dem alten Rathaus, auf der beim Zwölfuhrschlag der Adler mit den Flügeln schlug, und auf der Stadtkirche und dem Schelztor und dem Pliensautor, und die hellen und dunkleren Töne da oben in der Luft verzitterten. Und wenn dann noch die Vesperglöckchen nacheinander läuteten, das helle, flinke auf der Burg drüben zuerst und man wußte: in fünf Minuten kannst du drunten sein, da, wo der Giebel des Vaterhauses hart an die alte Stadtmauer anstößt.

Ich kann doch nicht verlangen, daß alles noch gleich sei, wie damals. Das alte Schützenhäuschen kann ich nicht mehr finden, das dem Weinbergschützen zum Unterstand diente. Und in die Weinberge hinein, die sonst dort hinanstiegen, haben sie eine Villenstraße gebaut. Sie haben recht, es ist da schön zu wohnen. Und der grüne Weg ist viel breiter, als früher und hat schöne Anlagen mit Sitzbänken. Ich kann es nicht anders verlangen, aber ich bin doch lieber weitergegangen. Es wohnt jeder einmal im Paradiese, und es muß jeder einmal hinaus und den Acker bauen, der Dornen und Disteln trägt. So lang man drin ist, weiß man’s nicht, und wenn man davon weiß, dann ist man – drin gewesen. Und man sucht den Ort, aber er ist nicht mehr. Dann muß man still sein und sich in sich selbst bergen, denn da allein ist er noch zu finden. Da grünen noch die alten Bäume und reifen die Früchte, die später nirgends mehr so frisch und süß zu finden sind, da wandeln die Gestalten, die längst dahin sind, da ist alles unverloren aufgehoben und es liegt noch ein Goldglanz darüber, das ist der Edelrost, den die Jahre dazu tun.

Der Weinberg, in dem der Mattheiß einst seine Reben beschnitt, ist auch nicht mehr. Zwar, als ich vorüberging, wehte der süße Duft der Rebenblüte fein und stark aus dem Garten, der an seiner Stelle liegt, zu mir herüber. Aber es ist nur ein Wandelgang, mit Wein bewachsen, der den Garten oben abschließt, und zwischen den Lücken schimmern dunkle Blumenbeete und die weißen Wände eines neuen Hauses gegen die Straße herauf.

So muß ich versuchen, die Erinnerung, die mit dem Duft der blühenden Reben und dem grünen Weg und dem Mattheiß zusammenhängt, aus mir herauszuholen und sie noch einmal ans Tageslicht zu bringen, ehe sie der Vergessenheit anheimfällt, wie alles, was seine Zeit auf Erden gehabt hat.

Zwar der Anfang liegt mir nicht offen; es ist ein lichter Nebel darüber gebreitet, wie über einen Maimorgen. Man sieht nur die Umrisse, die nach und nach schärfer und bestimmter werden, während der Nebel sich lichtet, bis auf einmal Häuser und Bäume dastehen und ein Fluß aufglitzert und Gestalten, die man kennt, dazwischen hingehen.

Ein Morgen dämmert mir zuerst herauf, wenn ich an den Mattheiß denke. Er war im Weinberg, draußen vor der Stadt. Wie ich aber dahin gekommen bin, weiß ich nicht mehr zu sagen. Es war sonnig und doch kühl dabei und ich weiß noch, daß in dem leuchtenden Blau des Himmels große, zusammengeballte, weiße Wolken hingen, die langsam fortsegelten und daß ich zu dem Mattheiß sagte, ich möchte auf so einer Wolke in den Himmel hineinschwimmen. Der Mattheiß sah mich an und schüttelte mit dem Kopf, denn er konnte nicht begreifen, daß man sich so etwas wünschen mochte. Er war groß, grobknochig und hager und kam, wie der Volksmund sagt, »oben herein«, das heißt, er trug den Kopf und die Schultern stark vornübergebeugt. Das kam wohl davon, daß er viele Jahre seines Lebens die schweren Butten voll Erde den steilen Weinbergshang hinaufgetragen hat. Aus seinem schwarzbebarteten Gesicht heraus aber sahen ein paar gute, blaue Augen in die Welt hinein und auf mich nieder, als er sagte: »Auf was für Gedanken kommst du aber auch. Auf einer Wolke! tätest ja herunterfallen. In den Himmel kommst du auch so noch, heißt das, wenn du brav bist.«

Aber so tief wollte ich die Sache nicht genommen wissen. Mir war nur beim Anblick der leuchtenden Segler da oben die Sehnsucht aufgestiegen, die auch schon in einem Kinderherzen Platz hat, und die die Arme breiten möchte in lichte, unbekannte Fernen voll Glanz und Herrlichkeit. Nun kam ich wieder auf die Erde herunter.

Der Mattheiß hantierte schon wieder mit seiner Schere an den Reben herum. Ich war seither auf einem Weinbergsmäuerchen gesessen, jetzt kam ich heran und sah ihm zu. Die Schere klappte eintönig weiter, und wo sie zugriff, da fielen saftstrotzende Triebe auf die Erde und hingen schwere, klare Tropfen an den Wunden der Reben. Die lösten einander ab und klatschten auf dem Boden auf und der Boden trank sie in sich hinein.

»Mattheiß, warum tust du so?« wollte ich wissen. »Warum läuft das Wasser da heraus und warum schneidest du alles das Holz weg?« Und der Mattheiß gab mir Auskunft wie ein Schulmeister und auch wie ein Philosoph und ich meine, damals habe mein Kinderherz zum erstenmal gespürt, wenn auch unklar, daß es auf der Welt Wunden und Schmerzen und Tränen gebe, die sein müssen und die man einem nicht ersparen könne. Ich hielt mein Halstüchlein an eine solche tropfende Wunde, denn der Mattheiß hatte mir gesagt, daß das geweint sei, was die Reben jetzt tun, und ich meinte, ich müsse den funkelnden Regen aufhalten. Aber das Wasser drang hindurch und ich mußte mein Tüchlein in die Sonne breiten zum Trocknen und so lang es trocknete, ersah ich mir eine Freude, die das flüchtige Leid schnell vergessen ließ. Am unteren Ende des steilen Hanges stand ein Syringenbaum in voller Blüte, und ich brach von dem niedrigsten Ast ein paar prächtige lila Blütendolden und begann eines jener zerbrechlichen Kränzlein zu flechten, die man hie und da mit Rührung und Staunen noch nach Jahren in seinen alten Schulbüchern getrocknet findet, die aber an der Sonne so schnell vergehen, wie die Stunde, in der sie geschaffen wurden.

Mattheiß war ein alter Metzgerknecht, der neben dem Beruf her seines Herrn Weinberg bearbeitete. Den Herrn sah ich auch ein paarmal. Er war klein und dick und kurzatmig und hatte rote, entzündete Äuglein, die wie zwei schmale Schlitze in dem runden, rötlichen Gesicht standen. Als ich eines Tags bei meinem Freund auf der Weinbergsmauer saß und mit ihm sein Vesper teilte, Blutwurst und Schwarzbrot, und wir im allervergnüglichsten Gespräch waren, da kam der Herr an einem Stock mit kurzen, eiligen Schrittlein dahergesteckelt und schnaubte gefährlich, als es aufwärts ging, und sah mich mit seinen kleinen Äuglein verwundert an. Er war gar kein böser Mann, nicht im mindesten, aber es war mir unbehaglich, daß er nun so umhersuchte und die Traubenstöcke besah, die schön angesetzt hatten und daß er meinen Freund Mattheiß dies und jenes zu tun anwies, und daß er mich schließlich in einen meiner bloßen Arme kniff und – he – he – he hervorhustete, indem er mit Wetzstahl und Messer, die er unter der Schürze hängen hatte, eine üble Musik vollbrachte: »die sind gut fett, die.«

Das alles schien mir eine Einmischung in unser stilles, schönes Weinbergsleben zu sein und besonders in meines Freundes Königreich. Denn ich hatte ihm den Weinberg schon lange zugeteilt als seinen Ort, an dem er regiere und walte und daheim sei, und an den ich zu ihm kommen konnte als in sein Eigentum.

»Ja, was denkst du auch,« sagte der Mattheiß, als ich ihm meine Entrüstung und meine ganze Anschauung vortrug. »Was denkst du auch. Ich – und einen eigenen Wengert. Das wär noch schöner. Ich bin ein armer Dienstbot. Das bin ich meiner Lebtag gewesen.« Es tat mir etwas weh, als er das so ruhig hinsagte. Ich hätte ihm etwas schenken mögen, ein Stück Land oder ein Haus oder Rosse und Wagen. Aber ich hatte nichts, das ich verschenken konnte. Da sagte er, und deutete mit dem Hauenstiel hinüber, wo die weißen Kreuze und Grabsteine des Friedhofs in der Sonne schimmerten und die dunklen Cypressen wie ernste Wächter standen: »guck, Kind, da kriegt einmal ein jeder sein Plätzle. So groß er’s braucht und nicht größer, auch nicht kleiner. Der Wengert, so lang ich drin schaffe, gehört mir jeder Traubenstock, und mitnehmen kann ihn der Herr nicht und der Knecht auch nicht.«

Er war ein Philosoph, mein Freund Mattheiß, ein Lebenskünstler. Das verstand ich damals nicht. Aber irgend etwas in mir, eine Unruhe, ein Drang kam zur Ruhe. Es war nicht unrecht, wie es war, es war recht. Dem Mattheiß war es recht. Da war es mir auch recht.

Was das weiche Wachs eines Kindergehirns alles aufbewahrt! Hie und da sind Lücken. Ich weiß nicht mehr, wo unsere Freundschaft anfing und es ist niemand, der es mir sagen könnte. Aber sie war. Ich wurde damit geneckt, vom Vater und von den Brüdern, und ich ließ es mir gefallen. Wenn er mir, was ein paarmal vorkam, mit dem Metzgerkarren begegnete, auf dem ein geschlachtetes, zerhauenes Stück Vieh lag, dann ging er mich nichts an. Dann sah ich ihn, der eine blutige Schürze trug und der in großen, groben Schuhen mit schlürfenden Schritten hinter dem Karren herging, von der Seite an wie einen Fremden. So muß ich denken, daß er mir draußen im Weinberg etwas von sich gab, das er nur dort zu geben hatte, ein Stück Leben, eine Weisheit und Güte, die sich dort draußen auftat, wo die Natur um ihn und um mich herum war mit Sonne und Winden, mit Himmelblau und mit ziehenden Wolken, mit tropfenden, blühenden, früchtetragenden Reben.

Einmal schickte er mir einen Gruß in die Ferne. Das war, als ich zur Herbstzeit in der Vakanz verreist war. Da trat viel Neues in mein Leben, Menschen, Gärten, Wälder und Berge, Eichhörnchen und junge Raben, eine Schaukel zwischen zwei Bäumen, auf der man hoch in die Lüfte fliegen konnte, Buben und Mädchen und ein Luftkegelspiel. Ich lebte ganz in der Gegenwart und ich glaube nicht, daß irgend ein Gedanke in diesen Tagen den Mattheiß auch nur gestreift hat.

Da kam eines Morgens eine große Holzschachtel aus der Heimat an mich mit der Post, und als ich die Schnüre löste und den Deckel aufhob, da lachten mich aus grünen und purpurnen Blättern heraus die schönsten Trauben an. Blauschwarze, großbeerige Portugieser, und hellgrüne, durchsichtige Gutedel, und die gelblichen, süßen Muskateller, die die würzigsten von allen sind.

Da war ich mit einem Schlag eine reiche, wichtige Persönlichkeit geworden, die Gaben auszuteilen hatte und es ging an ein großes Schmausen und Sichfreuen. Es war aber ein Blatt auf den Boden gefallen, liniertes Papier aus einem alten Schreibheft, das hob eine Magd auf und gab es mir, denn es war ein Brief an mich, in großen, ungelenken, groben Schriftzügen von meinem alten Freund geschrieben. Er dachte an mich, und weil die Trauben reif waren und ich nicht da, schickte er mir diesen Gruß, »ehrlich bezahlt an den Herrn,« wie er deutlich schrieb. Ich hatte den Brief lange Zeit aufgehoben, nun ist er nicht mehr vorhanden, ich weiß auch nur noch den Schluß ganz wörtlich. Er lautete: »Ewig dein getreuer Matthias Holzapfel, Knecht bei Metzger Hammer in der Apothekergasse.«

Das kam mir damals sehr schön und sehr rührend vor, und vielleicht war es mir einen Augenblick, als müsse ich jetzt gleich geschwind zu meinem Freund hinlaufen und mich zu ihm auf die niedrige Mauer setzen.

Aber als ich heimkam und mich meine Mutter fragte, ob ich ihm auch gedankt habe, da hatte ich’s nicht getan. Es ist so eine Sache ums danken bei Kindern. Sie haben das Herzlein voll, wenn ihnen jemand etwas Liebes tut, und wenn man ihnen dann ins Gesicht sieht, so kann man’s aus den Augen herauslesen, daß da etwas lebt und überfließt. Aber zum sagen kommt’s nicht so leicht, und wenn man’s von ihnen verlangt, daß sie’s sagen, dann ist der Herzensdank gewöhnlich vorbei, ausgelöscht.

Aber das tat meine liebe Mutter nicht. Sie sagte nur: »Er hat ein paarmal nach dir gefragt. Er ist ein Guter.«

Da kam es mich an, daß ich ihn sehen wollte und ich suchte unter meinen Besitztümern nach etwas, das ich ihm schenken könnte und fand ein Bildchen aus einem durchsichtigen Stoff, den wir Menschenhaut nannten. Das war purpurrot und es war ein goldenes Blumenkörbchen darauf gedruckt und ein schöner Vers stand darunter. Das wollte ich ihm bringen. Ich ging zum Haus und zur Stadt hinaus; das war nicht weit, und ich lief und lief, und es war ein starker Wind um mich her. Die ganze Gegend war grau und es war herbstlich kühl und droben am Himmel riß ein Sturm die Wolken dahin, daß sie flogen. Es waren große, schwere Gebilde und sie veränderten sich fortwährend, aber als ich im Laufen zu ihnen hinaufsah, trieb mir der Wind Staub in die Augen und zugleich fühlte ich, daß einzelne Tropfen fielen. Da lief ich noch schneller, denn nun war ich ganz nahe an dem Weinberg, und ich dachte nicht anders, als daß der Mattheiß da sein müsse, wenn ich ihn suche.

Aber ich fand ihn nicht. Im Weinberg sah es trostlos aus. Er war abgeherbstet und der Wind riß dürre Ranken und raschelnde, welke Blätter umher, die Pfähle aber standen noch immer im Boden und hatten nichts mehr zu halten. Da rief ich, so laut ich konnte: »Mattheiß, Mattheiß.« Aber nirgends wurde sein schlürfender Schritt hörbar, nirgends trat er hervor in seinem zerschundenen Lederjanker und mit seinem guten Gesicht. Da stieg ich die vielen Staffeln empor bis zur Höhe des grünen Wegs, denn vielleicht konnte er auch dort droben sein. Ich kam mir auf einmal so allein vor in dem kühlen, starken Wehen. Als ich oben ankam, fing es an stark zu regnen, der Mattheiß aber war nirgends zu finden. Da trat ich in das offenstehende Schützenhäuschen und setzte mich, da kein anderer Sitz vorhanden war, auf den Sims der scheibenlosen Fensteröffnung, um im Trockenen zu warten, bis es ausgeregnet habe. Es goß in Strömen; das Tal war von breiten, wallenden Wolkennebeln fast ganz verhüllt und ich sah nur in undeutlichen Umrissen Türme und Häuser daliegen und hörte Uhren schlagen wie aus weiter Ferne und mich kam ein Grausen an, das war schön und schrecklich zugleich, vor dem Vergehen des Jahres und der Sonne und vor allem Fern- und Alleinsein. Das kann ein Kind so stark empfinden, als ein Erwachsenes, es weiß es nur nicht zu sagen, nicht einmal sich selbst. Da, in dem Augenblick, als ich mich besann, ob ich nicht mein Röckchen über den Kopf tun und heimlaufen wolle, riß der Wind mein schönes Bildchen, das neben mir auf dem Sims lag, in den Regen hinaus, und ich sah es davonwirbeln und dann schwer und naß niedersinken und wußte, daß es jetzt vergehe. Da schlurfte etwas daher, das man noch nicht sehen konnte, aber ich wußte, daß es der Mattheiß sei, noch eh’ ich ihn sah, und war von aller Einsamkeit erlöst. Er tropfte vor Nässe und als er hereinkam, flossen Bäche von ihm, aber wir waren vergnügt und froh und er erzählte mir im Warten eine Geschichte von einem Weingärtner aus der Zeit, als die Franzosen im Land waren um den Anfang des Jahrhunderts. Der konnte bannen, das war eine schauerliche Kunst und er hatte sie von seinem Großvater ererbt. Und als er eines Tags in seinem Weinberg in der Neckarhalde schaffte, da kam ein Franzos’ das Tal heraufgeritten, der war ein Quartiermacher und wollte in die Stadt. Und der Weingärtner war ein großer, baumstarker Mann und konnte, sagte der Mattheiß, so mit den Augen funkeln, wenn er einen Zorn hatte, daß man Angst kriegen konnte. Als er den Reiter sah, zog er, ohne ein Wort zu sagen, seinen Lederjanker aus und legte ihn vor sich hin und begann mit dem Stiel seiner Weinbergshaue so stark drauf loszudreschen, als ob er ihn, sagte der Mattheiß, in Grundserdsboden hineinhauen wollte.

Da fing unten auf der Landstraße der Gaul des Franzosen an, gewaltige Sprünge zu machen, und der Franzos hüpfte auf dem Sattel herum und schrie um Hilfe und die Leute meinten, er sei toll geworden und ließen ihn schreien. Je ärger aber der Weingärtner auf den Janker losdrosch, desto jämmerlicher schrie der Franzos und als er in die Stadt hineinritt, da mußte ihn der Wirt zum wilden Mann vom Gaul heben und ins Bett spedieren, so zerschlagen war er und voll blauer Flecken und Beulen.

»Und,« schloß der Mattheiß, »als er wieder reiten konnte, da kehrte er seinen Gaul um und ritt das Neckartal hinunter; und von der Stadt wollte er nichts mehr wissen.«

Derweil hatte der Regen aufgehört; in der grauen Wolkenwand war ein Riß entstanden, daraus sah das Himmelsblau hervor und drunten in der Stadt fingen die Dächer an zu glänzen, weil ein blasser Sonnenstrahl über ihre nassen Giebel hinging. Das ist das letztemal, von dem ich mir denken kann, daß ich mit dem Mattheiß dort draußen zusammen war. Und es ist auch möglich, daß es überhaupt das letztemal war. Es kam der Winter, da sahen wir uns nie. Und es kam der Frühling, da war ich ein blasses Pflänzlein und lange krank. Ich weiß nicht mehr recht, was es war, ich weiß nur noch, daß ich in einem Gitterbett lag und allerhand Gesichter und Figuren aus den Tapetenmustern herausstudierte, und daß ich mich viele Tage und Stunden lang an den Bildern in »Arndts wahrem Christentum« vergnügte.

Und einmal kam ein Tag, da sonnte ich mich draußen in dem kleinen Mauergärtchen hinter dem Hause. Es war alles wieder neu und schön. Der Schnittlauch und der junge Salat waren so grün und die Blumen in der Rabatte so freudig. Im Nachbarhof watschelten junge Entlein um eine Entenmutter herum und patschten in einen Wassertümpel hinein. Die Geschwister spielten im Hof und mein großer Bruder saß im Kastanienbaum und las. Der Vater kam und strich mir mit seiner großen, guten Hand übers Haar, und ich duckte mich in sie hinein wie ein Vögelein ins Nest, und auf einmal spürte ich den feinen, starken Duft der Rebenblüte von der Kammerz her, die das Stück Stadtmauer bedeckte, das unsern Garten abschloß. Da fiel mir vieles ein, das ich den Winter über vergessen hatte, und auch der Mattheiß fiel mir ein und ich dachte, er werde nun auch im Weinberg sein und ich wolle ihn bald einmal besuchen.

Aber ehe ich dazu kam, hörte ich eines Nachmittags vom Fenster aus ein Gespräch an, das zwei Männer auf der Straße miteinander führten.

»Nein, nein, es hat ihm niemand etwas getan,« sagte der eine. »Es ist ein Herzschlag oder so etwas gewesen. Er ist der ganzen Länge nach in den Reben gelegen, mit dem Gesicht auf dem Boden.«

Und der andere sagte: »Es ist ihm gut gegangen, wär’ ein mancher froh, er käme so leicht weg von der Welt. Wenn ich denke, wie sich der alte Hammer plagen muß schon seit Jahren, er kriegt schier keine Luft mehr.«

»Ja, aber im Bett sterben wär doch besser,« sagte der erste. »Wenn ich denke, so auf dem Weinbergsboden,« – dann verhallten ihre Worte und ihre Schritte, und ich war in großer Not. Es war ja zwar nicht auszudenken, aber es konnte doch sein, daß sie den Mattheiß meinten, und dann war ein scharfer Riß in der sonnigen Frühlingswelt, von der ich eben erst wieder Besitz genommen hatte. Denn wie konnte das sein, daß ein Mensch auf einmal nicht mehr lebte, sondern mit dem Gesicht auf dem Weinbergsboden lag und nicht mehr aufstand? ein Mensch, den man kannte und der in den Reben schaffen mußte und dorthin gehörte und sonst nirgends? Das konnte nicht sein, sonst zerriß etwas. Und ich wollte schnell zur Mutter gehen, daß sie das Dunkle aus der Welt schaffe mit einem guten Wort. Aber ich fand sie nicht, sie machte einen Ausgang, das sagte die Magd Mine, die ich in der Küche antraf, und sie sagte auch noch, gleichgültig, unters Rübenputzen hinein: »Jetzt kannst du auch deinem alten Metzgerknecht zur Leich’ gehen. Den haben sie im Wengert gefunden, da ist er schon ganz steif gewesen.«

Ich wäre am liebsten aus der Küche geflohen, irgendwo hin, wo mich das alles, das Dunkle, nicht erreichen konnte. Aber ich mußte vorher noch etwas wissen und ich fragte ängstlich: »Ist er noch draußen? liegt er immer noch so da und hat das Gesicht auf dem Boden?«

Da lachte die Mine und sagte: »Du bist ein Dummes. Er liegt daheim in seiner Kammer, da haben sie ihn hingetragen. Das wär noch schöner, wenn man einen grad liegen ließe. Geh’ weg, ich muß dahin, an den Spülstein.« Und weil sie sah, daß ich ganz aus dem Gleis war, wollte sie mich noch ein wenig aufrichten und sagte: »Mach kein so Gesicht, fort müssen wir alle.«

Sie sah selber so breit und rot und gesund aus, und wenn sie lachte, zeigte sie zwei Reihen starker, gesunder Zähne. Das mit dem Fortmüssen, das war wohl nicht so bitter ernst bei ihr.

Da schlich ich mich die Treppe hinunter und zum Haus hinaus. Wenn mir jetzt die Mutter begegnet wäre.

Aber sie kam nicht. Mich zog etwas vorwärts, das wußte ich nicht zu benennen. Ich ging durch die Webergasse und über den Markt. Ich sah Fuhrwerke fahren und hörte einen Fuhrmann auf einem Rosenblatt eine lustige Melodie blasen; ein Spitzer stand hinten auf dem Wagen und bellte in die blaue Luft hinein. Kinder spielten im Kreise: »Mariechen saß auf einem Stein« und sie riefen mich an, ich sollte mittun. Aber wie konnte ich mittun? Die Obstliese saß da, breit und mächtig, wie sie immer war und hielt Kirschen feil, die waren noch selten und teuer, und strickte daneben an einem mächtigen Strumpf. Ein Ausrufer schellte etwas aus, da standen die Leute hin und horchten. Und ich stand vor der trübseligen Apothekergasse und wußte, daß ich da hineinmüsse und es graute mir doch davor.

Die Apotheke stand im hellen Sonnenlicht am Markt. Über ihrer Tür fraßen zwei Schlangen aus einer Schüssel, und die Schüssel glänzte und die Scheiben der Fenster glänzten, und es waren blühende Blumenstöcke an den Fenstern, und dort hinten in dem engen Gäßchen war der Tod.

Es war alles ganz still und leer dort drinnen. Die Häuser standen so hoch und standen eng beisammen und neigten sich nah zueinander. Das mußte alles so sein, es konnte nicht anders sein. Der Metzgerladen hatte ein vergittertes Fenster nach der Straße heraus und es hingen Würste dahinter und ein zerteiltes Schaf. Eine rostige Schelle war neben der Haustür angebracht, ich wußte, wie sie tat, schwach und heiser; aber es war natürlich, daß jetzt niemand daran zog und daß es ganz still war ringsherum. Die Haustür stand offen; man sah in einen langen, schmalen Öhrn hinein und ich trat ein und meine Kindertritte hallten in der Stille und ich mußte an allen Türen vorbei, ohne zu wissen, was dahinter liege, bis an die letzte linker Hand. Da stand ich still und mein Herz schlug laut und ich horchte, ob niemand komme, denn es war so einsam. Aber ich wußte, daß es so sein müsse. Es war ein breiter, eiserner Riegel vor der Tür; er war nur ein wenig vorgeschoben mit seiner Spitze. Ich zog ihn zurück und trat hinein. Es war eine enge Kammer, lang und schmal. Ein Fenster hatte sie, das ging nach dem Hof hinaus, es war mit einem alten, rissigen Vorhang verhüllt. Hinten in der Ecke stand das Bett. Das war auch verhüllt, das heißt, es lag etwas darauf, das war mit einem Leintuch zugedeckt.

Wenn jetzt die Mutter dagewesen wäre.

Aber sie war nicht und niemand war da.

Mir schlug das Herz noch lauter, als vorher.

Aber dann schlug ich doch das Leintuch zurück, ich mußte, es mochte sein, wie es wollte. Und da lag etwas, das war einmal der Mattheiß gewesen.

Eine lang ausgestreckte Gestalt, unglaublich lang und gerade, die Hände, die großen, breiten Hände lagen auf der Brust und waren gefaltet und sahen so seltsam blaß aus und so wuchtig schwer. Und das Gesicht, das war, als hätte ich es vor langer Zeit gut gekannt und es hätte damals mit mir geredet, aber nun sei es so fremd und fern geworden, daß es nicht zum Aussagen war. Die Augen waren geschlossen, aber der Mund war ein wenig geöffnet, und es war eigentlich, als ob er lächeln wolle, aber über etwas ganz feierliches, merkwürdiges. Nur über die Stirn lief ein bläulich gefärbter Riß, da war er wohl auf dem Weinbergsboden aufgeschlagen. Es war mir, als ob ich mich nicht rühren könne, jetzt nicht und nie mehr. Als ob ich immer dastehen und den fremden Mann ansehen müsse und irgendwo draußen, ganz fern, ging das Leben weiter, hier drinnen aber war es so atemlos still.

Da wagte ich es nach einer Weile und tippte mit dem Finger seine Hand an. Und es ging ein seltsam schauerlicher Strom von Eiseskälte durch mich hindurch, bis ganz innen hinein.

Da ergriff mich plötzlich und mit Gewalt das Grauen des Lebens vor dem Tode und ich entrann der Kammer und dem Haus und der düsteren Gasse und lief über den Marktplatz, auf dem das Gold der sinkenden Sonne lag, und weiter, und heim.

Von weitem sah ich den Vater unter der Haustür stehen. Er hatte die Hand schützend vor die Augen gelegt und sah nach irgend etwas aus, und ich drängte mich an ihn und barg mich in seiner lieben, lebendigen Nähe vor allem Grausen.

Aber es war nicht so schnell zu verscheuchen. Ich weiß noch, daß es Nacht war und daß ich im Bett lag und die Augen schloß, aber es drängte sich überall hinein.

Da hörte ich Tritte und meine Mutter kam mit einem Lämpchen herein, denn sie hatte gehört, wie ich mich umherwarf.

Und sie küßte mich und sagte, der Mattheiß sei beim lieben Gott, und da kämen wir alle hin, wenn wir sterben.

Aber das konnte ich nicht begreifen, denn er lag ja in seiner Kammer und war so kalt.

Sie sagte aber, ich solle mich nicht darüber besinnen, das werde schon alles ganz richtig besorgt und das in der Kammer sei gar nicht mehr der rechte Mattheiß, das habe ich doch selber gesehen, den rechten habe der liebe Gott in seine Hand genommen und er habe uns alle darin.

Aber ich mußte mich doch noch besinnen. Da setzte sie sich an mein Bett und sang mir mit halber Stimme ein Lied, das hüllte mich ganz warm und weich ein. Ich blinzelte noch hie und da zwischen den Lidern hervor, um sie da sitzen zu sehen, und während sie sang, kam eine große Hand über mich hin, die wurde größer und größer und nahm mich ganz in sich hinein. Ich wußte, wem sie gehöre, aber ich konnte mich nicht auf den Namen besinnen und es machte mir auch keine Mühe, denn es war überaus gut darin zu sein.

Als ich erwachte, war ein Sonnentag.

Es schien zu den Fenstern herein und hatte tausend arbeitsame, lebendige Geräusche und breitete ein Bilderbuch vor meine Augen, und alles, was lebte, regte sich und war fröhlich.