Lanty Fosters Irrtum

Bret Harte

Lanty Foster saß zusammengekauert auf einem Schemel vor dem verlöschenden Küchenfeuer, um dessen letzten blassen Schein auf das Buch fallen zu lassen, worin sie las. Auch draußen am Himmel war die Helle, die sonst durch Fenster und Türe hereinströmte, langsam im Verbleichen, denn die Sonne war schon seit einer halben Stunde hinter der Hügelkette verschwunden. Das Fenster ging nach dem steilen Abhang hinaus, und an dessen Umrißlinie ragten zwei oder drei galgenartige Pfosten in den Himmel hinein. Die Linie, die sie verband, war jetzt nicht mehr sichtbar, wohl aber Gegenstände, die daran hingen, und deren dunkle Umrisse eine gespenstische Ähnlichkeit mit menschlichen Gestalten hatten. So vertieft Lanty in ihr Buch war, es flog doch hie und da ein ärgerlicher Blick über dessen Blätter hinaus nach der Richtung, wo das Dämmerlicht noch rascher abnahm als der Feuerschein vom Herd, denn die Gespenster draußen waren ja die wöchentliche Wäsche, die hereingeholt werden sollte, ehe es dunkel wurde und ehe sich der Bergwind erhob. Er war in dieser Region ein gewalttätiger Bursche, der des öfteren die Wäschestücke von der Leine gerissen und sie auf die Landstraße, die über den Bergrücken führte, herumgestreut hatte. Einmal hatte er sogar den schüchternen Schulmeister mit Lantys höchsteigenen Strümpfen gepeitscht, ein andres Mal den Pfarrer durch einen besonders stürmischen Unterrock geblendet.

Ein Windstoß, der durch den geräumigen Schornstein herunterfuhr, entfachte die glostenden Holzblöcke aufs neue, worauf das Mädchen aufsprang und das Buch ärgerlich zuklappte. Sie wußte, daß auf diesen Windstoß ein Ruf der Mutter folgen würde, aber es war hart, die Heldin im entscheidenden Augenblick, wo sie sich mit einem vermutlich treulosen Liebhaber auseinandersetzte, verlassen zu müssen, um den Berg hinaufzuklettern und einen Haufen seelenloser Wäschestücke zu holen, aber solche Schmerzen werden niemand erspart, der heimlich Romane liest. Sie stülpte den Wäschekorb wie eine Kappe über den Kopf, daß die Handgriffe auf ihren Schultern ruhten, und verließ, beide Hände frei, die Hütte. Allein die Dunkelheit war nach ihrem Brauch in Bergländern mit einem Riesenschritt vom Tal heraufgestiegen, hatte das Mädchen überholt und sie im Nu umhüllt. Der Umriß der Anhöhe war noch sichtbar, und darüber standen die weißen, unwandelbaren Sterne, die einen Augenblick vorher noch nicht dagewesen waren und ihr deutlich sagten, daß sie sich verspätet hatte. Sie mußte nun tüchtig gegen den sausenden Wind ankämpfen, der in dem umgestülpten Korb auf ihrem Kopf sein Lied sang und sich ihr entgegenstemmte, aber mit vorgebeugten Schultern erreichte sie schließlich doch die Ebene auf der Höhe. Hier aber, wo sie keinen hellen Hintergrund mehr hatte, war sie noch dichter umringt von Finsternis. Die Umrisse der Pfosten waren nicht mehr zu unterscheiden, nur die weißen Wäschestücke, die wie Gespenster im Wind flatterten, waren deutlich zu erkennen. Darunter aber bewegte sich eine wunderliche, mißgestaltete Masse, die sie nicht zu unterscheiden vermochte, und als sie sich endlich zu einem der Pfosten hingetastet hatte, erbebte dieser von einem Stoß, den eben diese Masse der Waschleine versetzt hatte. Dann hörte sie eine Stimme ärgerlich rufen: »In was bin ich denn jetzt gerannt ins Teufels Namen?«

Es war eine Männerstimme, und der Sprecher mußte, nach der Höhe zu schließen, aus der sie kam, zu Pferd sein.

Ohne jede Ängstlichkeit gab Lanty gelassen und bestimmt zur Antwort: »Schätz’ wohl, in unsre Waschleine.«

»Oh!« sagte der Unsichtbare in halb entschuldigendem Ton, um dann schärfer hinzuzufügen: »Gerade, was mir nottut! Das heißt, wenn Sie mir ein Stück von dieser Leine geben können? Der Ring meines Sattelgurts ist lose, könnte ich den damit festbinden.«

»Kann geschehen,« versetzte Lanty ebenso gelassen, indem sie sich der schwarzen Masse näherte, die jetzt in zwei Teile zerfiel, da der Mann abgestiegen war. »Wieviel brauchen Sie?«

»Ungefähr eine Elle wird’s tun.«

Sie standen nun dicht voreinander, konnten aber ihre Gesichter beiderseitig nicht sehen. Lanty, die mit der Hand an der Leine entlang fuhr, hatte das um den letzten Pfosten geknüpfte Ende gefunden und band sie los.

»Merkwürdiger Ort, um Wäsche aufzuhängen,« bemerkte der Fremdling neugierig.

»Mächtig schnell trocknet sie,« warf sie gleichgültig hin.

»Und Sie wohnen? Hier in der Nähe?« fragte er.

»Gerade da unten – Sie können das Haus sehen. Haben Sie ein Messer?« fragte sie, denn der Knoten war jetzt aufgeschlungen.

»Nein … doch … warten Sie …«

Er hatte ein wenig gezögert, dann hatte er einen Gegenstand aus der Brusttasche gezogen, den er aber in der Hand behielt. Weil er ihn ihr nicht anbot, hielt sie ihm ein Stück der Leine hin, das er mit einem einzigen scharfen Schnitt abtrennte. Sie sah nur, daß sein Instrument lang und dünn war. Dann hielt sie die Sattelklappe in die Höhe, während er sich alle Mühe gab, den losen Ring festzuknüpfen, was ihm aber bei der Dunkelheit nicht gelingen wollte. Mit einem Laut des Unmuts griff er in seinen verschiedenen Taschen herum und fand glücklich ein Streichholz, das er mit der Bemerkung: »Mein letztes!« anstrich und sich darüber beugte, um das Flämmchen vor dem Wind zu schützen. Lanty stand ihm darin bei, indem sie ihre Schürze vorhielt, und das Licht beleuchtete einen Augenblick den Ring, des Mannes gebräuntes Gesicht, seinen Schnurrbart und die weißen Zähne, die er beim Zerren an dem Gurt zusammenbiß, sowie Lantys braune Samtaugen und runde Wangen, die der Korb umrahmte. Dann erlosch es, aber der Ring war befestigt.

»Danke schön!« sagte der Mann mit kurzem Auflachen. »Ich hatte Sie in der Dunkelheit für eine bucklige Hexe gehalten!«

»Und ich hätte nicht sagen können, ob Sie eine Kuh oder ein Wildschwein wären,« erwiderte das junge Mädchen harmlos.

Während sie noch sprach, schwang er sich rasch aufs Pferd, und dabei glitt etwas aus seinen Kleidern, das auf einen Stein auffiel und dann in der Finsternis weiterkollerte.

»Mein Messer!« sagte er hastig. »Bitte, geben Sie es mir.«

Allein Lanty konnte es nicht finden, obwohl sie niederkniete und den Boden fleißig absuchte. Der Mann war mit einem halberstickten Ausruf wieder abgesprungen und beteiligte sich am Suchen.

»Haben Sie nicht noch ein Streichholz?« fragte Lanty.

»Nein, es war mein letztes!« sagte er verdrießlich.

»Bleiben Sie gerade hier stehen,« schlug sie vor. »Ich laufe rasch in die Küche und hole ein Licht. Ich bin im Augenblick wieder da.«

»Nein, nein!« entgegnete er rasch. »Das geht nicht! Ich kann nicht warten, habe mich so wie so zu lange aufgehalten. Hören Sie mich an – kommen Sie morgen bei Tageslicht wieder herauf und suchen Sie das Ding – Sie können mir’s aufheben, bis ich wieder vorbeikomme. Wollen Sie?« – er lachte dazu – »ich hol’ mir’s schon. Wenn Sie mir jetzt noch helfen wollten, wieder auf die Straße zu kommen – es ist ja so verflucht dunkel, daß ich die Ohren meines Gauls nicht sehe – dann will ich Sie nicht weiter bemühen. Danke sehr …«

Lanty war ruhig ein paar Schritte vorgegangen und hatte das Pferd am Zügel gefaßt, wobei ihre Gestalt dem Reiter sofort im Dunkel entschwand. Aber gleich darauf merkte er an dem gedämpften Klang des Hufschlags, daß er wieder den dichten Staub der Landstraße unter sich hatte, und fühlte auch, wie dieser immer noch heiße Staub um seine Nüstern wehte.

»Danke,« sagte er abermals, »nun brauch’ ich Sie nicht mehr.«

Es trat eine Pause ein, und Lanty kam es so vor, als biete er ihr in der Dunkelheit die Hand zum Abschied. Sie wollte sie fassen, verfehlte aber das Ziel, und seine Hand glitt tastend auf ihre Schulter. Ehe sie danach greifen konnte, fühlte sie, daß er sich zu ihr niederbeugte, daß sein weicher Schnurrbart ihre Wange berührte und daß er dann sein Pferd in Bewegung setzte. Aber die Ohrfeige, womit sie ihm seine Verwegenheit heimzahlen wollte, traf in den dunklen leeren Raum, der Roß und Reiter, samt dessen leisem Lachen plötzlich verschlungen zu haben schien.

Einen Augenblick blieb sie wie angewurzelt stehen, dann gab sie ihrem Korb einen entrüsteten Schubs und machte sich an die vernachlässigte Arbeit. Diese war nicht eben leicht, denn der Wind hatte zugenommen, und die an einer Seite losgebundene Wäscheleine war mit samt ihrer Last zu Boden gestürzt. Als Lanty nun die Wäschestücke tastend zusammenlas, stieß ihre Hand auf einen unbekannten Gegenstand – das Messer, das der Fremde verloren hatte! Hastig warf sie es aus den Boden des Korbs und vollendete ihr Werk. Als sie mit ihrer Last den Abhang hinunterging, bemerkte sie, daß in der Küche außer dem Feuer auch eine Kerze brannte, was ein Zeichen war, daß die Mutter sie erwartete.

»Passende Zeit die Wäsche zu holen!« bemerkte Frau Foster brummig. »Natürlich muß man da droben schwatzen und sich von Burschen schöntun lassen, statt seine Arbeit zu verrichten!«

Nun war Lanty sich ja bewußt, daß sie weder geschwatzt, noch sich von Burschen hatte schöntun lassen, obwohl des nächtlichen Reiters Abschiedsgruß einigen Anhaltspunkt für diesen Verdacht geboten habe, und da sie annehmen mußte, die Mutter habe ihre Stimmen gehört, gab sie, um ein weiteres Verhör abzuschneiden, kurz den Bescheid, sie habe einem Fremden den Weg gezeigt. Hätte man ihr nicht so bitter unrecht getan, so wäre sie mitteilsamer gewesen, und als Frau Foster jetzt immer noch brummend in die Wohnstube ging, beschloß Lanty, ihr nicht einmal das Messer zu zeigen, sondern es heimlich zu verwahren, zu welchem Zweck sie gleich den Korb danach durchwühlte. Als sie im Licht der Kerze den Gegenstand zum ersten Male deutlich sah, erschrak sie.

Denn es war wirklich und wahrhaftig ein Dolch, ein Dolch mit kunstvoll gearbeitetem, juwelenbesetztem Griff, wie Lanty in ihrem Leben noch keinen gesehen hatte! Ganz übersäet war der Griff mit Edelsteinen, und die sehr scharf geschliffene Klinge war blau und golden damasziert. In ihren sanften Augen spiegelte sich das blanke Ding, und der Mund stand ihr offen vor Überraschung, da hörte sie der Mutter Stimme aus dem Nebenraum, steckte den Dolch hastig in die Samtscheide zurück und verbarg ihn in ihrer Tasche. Seine Schönheit hatte sie in dem Vorsatz bestärkt, ihn vor aller Augen zu verbergen, denn, wenn sie ihn gezeigt hätte, wäre ja des Geredes kein Ende gewesen, und schließlich hätten die Eltern ihn wohl noch gar selbst in Verwahrung nehmen wollen! Und er hatte ihn doch ihr in Verwahrung gegeben. Damit war für Lanty jedes moralische Bedenken erledigt. Sobald sie einen Augenblick hinausschlüpfen konnte, lief sie in ihr Stübchen hinauf und verbarg den Schatz unter ihrer Matratze.

Der Gedanke daran ließ sie den ganzen Abend nicht mehr los. Als ihre Pflichten im Haushalt erledigt waren, nahm sie ihren Roman wieder vor, halb aus Gewohnheit, halb weil sie dabei ungestört an ihr Erlebnis denken konnte, denn was lag ihr eigentlich jetzt noch an ersonnenen Geschichten? Sie hatten höchstens den Wert, daß man Vergleiche anstellen konnte. Ein »Dolch« hatte in mehreren Büchern, die sie verschlungen, eine Rolle gespielt, nur hatte sie nie eine klare Vorstellung von einem solchen gehabt. »Der Graf sprang zurück, und einen reich mit Juwelen besetzten Dolch aus dem Gürtel ziehend, zischte er zwischen den Zähnen …« hatte es irgendwo geheißen, oder noch mehr auf ihren Fall passend: »Nimm dies,« sagte Orlando, ihr den rubinenfunkelnden Dolch reichend, der an seiner Hüfte gefunkelt hatte, »und sollte der Elende deine schutzlose Unschuld bedrohen …«

»Hast du gehört, was dein Vater sagt?«

Lanty fuhr zusammen. Es war der Mutter Stimme, die von der Tür her kam, und sie war sich dunkel bewußt, schon eine andre Stimme gehört zu haben, und zwar in dem nämlichen übellaunigen, zänkischen Ton, der im Kreis der kleinen Farmer auf diesem fruchtbaren Boden meist angeschlagen wurde. Vielleicht, daß die allzu freigebige und willfährige Natur die Leute verwöhnte und ihnen Zeit ließ, Launen zu haben.

»Ja! … Nein!« sagte Lanty geistesabwesend. »Was hat er denn gesagt?«

»Wenn du nicht immer den Kopf voll hättest mit dem verrückten Zeug aus den Schmökern,« bemerkte Frau Foster, der die etwas schuldbewußte Röte der Tochter auffiel, »so hättest du’s hören müssen! Dein Füllen sollest du lieber heute nacht nicht so weit draußen auf der Weide lassen, meint er. Das Gesindel von mexikanischen Roßdieben ist wieder um den Weg. In Mc Kinnons Weide ist letzte Nacht eingebrochen worden.«

Das war eine Angelegenheit, die Lanty nahe berührte. Die junge Stute, die ihr persönliches Eigentum war, zog sie als Reitpferd für sich auf, aber ihr Vorurteil gegen elterliche Einmischung war stärker als ihre Angst vor Roßdieben.

»Im Stall schlägt sie alles kurz und klein, und ich glaube wohl,« setzte sie im stolzen Bewußtsein, eine funkelnde und tödliche Waffe ihr eigen zu nennen, hinzu, »daß ich sie und mich selbst gegen jeden mexikanischen Roßdieb beschützen kann!«

»Meiner Seel! Du gibst’s aber großartig,« versetzte die Mutter mit Hohn. »Saugst du solche Hoffart aus deinem dummen Buch?«

»Kann sein,« warf Lanty schnippisch hin.

Übrigens waren ihre Gedanken heute nacht nicht ausschließlich bei dem in ihrem Buch stehenden Roman. Sie fragte sich immer wieder, ob der Fremde die ihm zugedachte Ohrfeige wohl bemerkt und ob er ihr Gesicht eigentlich gesehen habe. Des seinigen erinnerte sie sich deutlich, das heißt, wenigstens der weißen Zähne, die hell heraus geblinkt hatten aus der dunklen Haut und dem noch dunkleren Schnurrbart, der so weich war wie ihr eigenes Haar. Wenn der sich aber »nur eine Minute« einbildete, daß sie ein Mädchen sei, »das sich von jedem hergelaufenen Menschen« küssen lasse, so war er »gründlich auf dem Holzweg«, und sie wollte ihm den Standpunkt »fein« klar machen! Sie würde ihm seinen Dolch »mit Wursthaftigkeit« zurückgeben, und gar nicht tun, als ob sie überhaupt bemerkt hätte, daß es kein Küchenmesser war! Vielleicht war das der Grund, daß sie heute vor dem Zubettgehen den Dolch noch genau besichtigte, ja, nachdem sie das faltige, gürtellose Kattunschurzkleid abgelegt hatte, steckte sie ihn sogar in das steife Taillenband ihres Unterrocks, wo der juwelenbesetzte Griff ganz besonders zur Geltung kam. Nachdem sie wie ein artiges Kind ihr Gebet gesprochen und noch obendrein Gott gebeten hatte, ihr zu helfen, daß sie nicht mehr so widersetzlich gegen ihre Eltern sein möge, schlief sie ein. Im Traum mußte sie wieder hinausgehen, um die Wäsche zu holen, aber all das Unterzeug hatte sich in seltsame Menschen verwandelt, die aufeinander losschlugen und kämpften, bis Lanty ganz allein unter sie sprang, ihren Dolch zog und ihnen zurief: »Auseinander, ihr feigen Schurken – fort mit euch!« worauf sie verschwanden.

Lanty mußte sich jedoch am andern Morgen selbst eingestehen, daß all dies nicht gut zusammenging mit Fischbraten, Maiskrapfenbacken, Bettmachen und andern Haushaltungsgeschäften, und so entließ sie den Fremden aus ihren Gedanken, bis er ihr wieder »in den Weg laufen« würde. Als sie an die freiere und ansprechendere Arbeit außerhalb des Hauses kam, war sie sogar etwas duldsamer gegen die Annäherungsversuche benachbarter Burschen, die jeder Weg an Fosters Ranch vorbeiführte, weil sie längst erkannt hatten, daß Atalanta Foster, »Lanty« genannt, eins der hübschesten Mädchen des Landes war. Lantys Duldsamkeit bestand in einem eigentümlichen Verfahren, das von ihr selbst im stillen als »jedem heimzahlen, was er verdient« bezeichnet wurde und das darin bestand, daß sie den ihr dargebrachten Huldigungen mit kühler Verachtung auswich. Ob sich die jungen Leute das von einem häßlichen Mädchen hätten lange bieten lassen, ist fraglich, aber Lantys kurze Oberlippe schien so gänzlich auf bezaubernden Trotz zugeschnitten zu sein, und ihre sanften, träumerischen Augen blickten dabei so mild über den Werber hinweg oder dämpften dessen kühnere Blicke durch deren weichen Samtschimmer.

Der Text dieser Szenen war ziemlich eintönig und nicht sehr geistreich. Zum Beispiel:

Der Bursche (mit kecker, unechter Lustigkeit): »Gestern hat sich der schüchterne Schulmeister wieder auf Eurem Berg ‘rumgetrieben! Könnte allmählich wissen, daß man mit Schüchternheit nicht weit kommt bei den Mädels!«

Lanty (absprechend): »Vielleicht denkt er, man fahre damit doch nicht so übel wie mit der Frechheit.«

Der Bursche (die Antwort überhörend, seine vorige Haltung verleugnend, zudringlicher): »Wollte Ihnen nur sagen, daß bei dem Roßdiebgesindel Ihr Füllen nicht mehr sicher ist auf der Weide! Bin gestern abend dreimal hinausgegangen, um nach ihm zu sehen.«

Lanty (mit höchst ermutigender Teilnahme): »Wirklich? Das haben Sie getan? Konnte mir doch gar nicht denken …«

Der Bursche (eifrig): »Jawohl, das hab’ ich getan! Noch ganz spät in der Nacht war ich draußen. Ach, ich täte noch ganz andre Dinge Ihnen zuliebe, Fräulein Atalanta!«

Lanty (nachsinnend, in die Weite blickend): »Deshalb also war das Tierchen so fürchterlich verscheucht und ängstlich, ganz ›aus dem Häuschen‹ vor Grauen! Ich meinte schon, es habe eine Sau oder einen Panther oder ein Gespenst zu Gesicht bekommen! Sie hätten das Tierchen allmählich an Ihren Anblick gewöhnen müssen!«

Im Widerspruch zu dieser anmutig-witzigen Ablehnung fremder Fürsorge blieb Lanty, wo es sich um die Sicherheit ihres Füllens handelte, nicht kühl, und sie ging am Tag darauf nach dem Weideplatz hinaus, um das Tierchen mehr in die Nähe des Hauses zu bringen. Eben war sie zwischen das Erlengebüsch getreten, das gleich einer Franse das Bett eines jetzt vertrockneten Wasserlaufs einfaßte, als sie plötzlich in dieser Wasserrinne einen Reiter bemerkte, dessen Gestalt dem von außen her Kommenden durch die Erlen gänzlich verdeckt wurde, und der eifrig beschäftigt zu sein schien, in dem Staub des trockenen Flußbetts Hufspuren zu verfolgen. Die Figur rief eine gewisse Erinnerung in ihr wach, und als sich der Mann rasch nach ihr umsah, erkannte sie den Eigentümer des Dolchs. Haar und Hautfarbe kamen ihr zwar heller vor als neulich, auch war er anders – mehr wie ein Vacquero – gekleidet, aber als er sie erkannte, blinkten seine Zähne genau so wie neulich, und sie war sicher, daß er derselbe war.

Ach! Was half ihr nun alle Vorbereitung? Ohne »sein Messer« bei sich zu haben, konnte sie es nicht hochmütig zurückgeben, als sie sich’s vorgenommen hatte, und was das Schlimmste war, sie fühlte, daß sie rot wurde! Sie zog die hübschen Augenbrauen in die Höhe und sagte spitzig, daß, wenn er mit ihr nach Hause gehen wolle, er sein Eigentum sofort haben könne.

»Das hat ja gar keine Eile,« versetzte er lachend – dasselbe gedämpfte Lachen und die angenehme Stimme, deren sie sich so wohl erinnerte! – »und mit Ihnen nach Haus gehen will ich jetzt lieber nicht. Das Messer ist in guten Händen, das weiß ich, und sobald ich’s brauche, werde ich’s abholen! Bis dahin wäre mir’s lieb, wenn Sie nicht davon sprechen wollten – bewahren Sie’s auf und lassen Sie es niemand sehen – hüllen Sie’s in Geheimnis, so dunkel, wie neulich die Nacht war!«

»Ist nicht meine Art, etwas auszuschwatzen,« entgegnete sie entrüstet, »und wenn’s in der Nacht nicht so dunkel gewesen wäre, hätten Sie sich eine Ohrfeige besehen – Sie werden schon wissen warum!«

Der Fremde lachte abermals, winkte Lanty ein Lebewohl zu und ritt davon.

Diese war ein wenig enttäuscht; das Tageslicht hatte sie etlicher Illusionen beraubt. Er war ja allerdings ein hübscher Mensch, aber doch nicht so malerisch, geheimnisvoll und aufregend wie in der Finsternis! Merkwürdig, daß er ihr neulich so viel dunkler vorgekommen war! Wer er wohl sein mochte? Warum er sich in ihrer Nähe herumtrieb? Er war so anders als ihre Nachbarn, ihre Verehrer. Möglicherweise war er einer von den Spekulanten aus der großen Stadt, die das Land durchstreifen, um irgend ein Terrain auszukundschaften, worauf sie die Hand legen können – diese tun ja immer so geheimnisvoll, bis sie gefunden haben, was ihnen taugt. Sie wagte nicht, bei ihren Freunden nach ihm zu fragen, aus demselben Grund, aus dem sie sein Erscheinen der Mutter verheimlicht hatte: weil man verfängliche Fragen stellen könnte. Überdies vertraute er sich ja ihrer Verschwiegenheit an, und dieser Gedanke durchbebte sie mit neuem Stolz und bot Entschädigung dafür, was ihr Held an Romantik eingebüßt hatte. Wenn er dann kam und öffentlich seinen Dolch abholte, und die andern dann erfuhren, daß sie längst um alles gewußt hatte, das mußte ein schöner Augenblick werden.

Als sie nach Hause gekommen war, beschloß sie, um einer zweiten derartigen Überraschung vorzubeugen, den Dolch jetzt immer bei sich zu tragen, und da sie ihrer Tasche mißtraute, verwahrte sie ihn in dem billigen ländlich gearbeiteten Mieder, das erst seit einem Jahr die knospende Gestalt umschloß, die sich nun stolzer hob als zuvor. Sie war den ganzen Tag über zerstreut und hörte nur mit halbem Ohr auf das Geschwätz der Farmerburschen, die von einem verwegenen Einbruch erzählten, den die mexikanische Bande vorgestern nacht auf der Weide eines Nachbars verübt habe. Die Sicherheitsgesellschaft sei in großer Bestürzung, man munkle sogar, daß einige kleine Farmer und Herdenbesitzer mit den Dieben unter einer Decke steckten. Auch von einer weitverzweigten Verschwörung war die Rede, es sollten sogar politische Züge mit unterlaufen, ähnlich wie bei den südwestlichen Freibeutern. Die Behörden hätten durch eigens von San Franzisko geschickte Polizisten Verstärkung erhalten. Lanty kümmerte sich in der Regel nicht viel um derlei Geschichten, denn sie wußte, wie stark man zu übertreiben pflegte, und die Unwissenheit der Nachbarn flößte ihr von vornherein Mißtrauen ein. In ihrem Wörterschatz hießen derartige Gespräche »Maulaufreißen«, eine Gewohnheit, die sie namentlich dem männlichen Geschlecht zuschrieb. Später am Abend, als der häusliche Kreis im Wohnzimmer durch einen Nachbar vermehrt worden war, und Lanty sich hinter ihr Buch verschanzt hatte, um nicht mitreden zu müssen, kam jedoch Zob Hopper, der verliebte Jüngling von gestern abend, mit noch aufregenderen Nachrichten hereingestürzt. Die Heeresmacht des Scheriffs war vorhin über den Hügelrücken gezogen, hatte einen Teil der Bande eingefangen und etliches gestohlenes Vieh zurückgebracht. Der Häuptling der Bande sei allerdings entkommen, müsse aber unfehlbar gefangen werden, denn alle Straßen seien abgesperrt.

»Immerhin ist mir’s lieb, daß Sie meinen Rat befolgt und das Füllen hereingeholt haben, Fräulein Atalanta,« schloß er mit einem vielsagenden Blick auf das junge Mädchen.

Aber »Fräulein Atalanta« geruhte nur einen Viertelszoll der schnippischen roten Lippe über den Buchrand zu heben und zu bemerken, daß sie nicht wisse, was schlimmer wäre, seinen Rat nötig zu haben, oder ihr Füllen zu verlieren.

»Wie mögen Sie nur mit dem naseweisen Ding reden, Herr Hopper!« sagte die Mutter herb. »Sie hat ja für nichts mehr Sinn und Augen, als für ihr Buch!«

»Was das Abfassen angeht,« fiel der diplomatische Nachbar ein, »so wird’s mit dem mexikanischen Häuptling seine Mucken haben! Oho, mein Herr! Den hat man schon öfter am Schlafittchen zu haben geglaubt – und futsch war er! Einmal hat ihn die Polizei gefaßt und entwaffnet, aber durchgekommen ist er doch! Der kann sich vermummen und verwandeln, daß einem Hören und Sehen vergeht! Einmal ist er dem Konstabler vor der Nase herumstolziert und mit dem Scheriff, der ihm auf den Fersen war, hat er sogar gekneipt, ohne daß der dumme Kerl etwas gemerkt hätte. Sogar die Haarfarbe verändert er im Handumdrehen.«

»Ist er ein richtiger Kreole, wie man die Schmierfinken nennt?« erkundigte sich Vater Foster. »Hab’ noch nie gehört, daß die so gewitzt wären!«

»Nein, es heißt, er stamme aus altspanischem Geschlecht – vermutlich das schwarze Schaf in der Familie,« berichtete Hopper, eifrig in die Unterhaltung eingreifend, denn er sah Lanty mit weitgeöffneten Augen gespannt zuhören und wollte ihr Interesse auf sich lenken, »am spanischen Hochmut fehlt’s ihm wenigstens nicht. Mir hat einer erzählt, er habe ihn in seinem Lager gesehen. Da sei er mit einer Samtjacke und seidener Schärpe angetan gewesen, habe goldene Ketten und Knöpfe an den weiten Hosen herunter und einen Dolch im Gürtel getragen, dessen Griff nur so geblitzt habe von Edelsteinen. Jawohl, Fräulein Atalanta – es heißt, daß der eine Stein an der Spitze, ein grüner – Smaragd, nennt man ihn – ein ganzes Häuserviertel in Frisko wert sei. Jawohl, wahr ist’s, so wahr als Sie leben! Hm – was ist denn los?«

Lantys Buch war zu Boden gefallen, als sie mit entfärbtem Gesicht aufgestanden war, und sie sah um so seltsamer und verstörter aus, als sie, die kleine Hand vorhaltend, zu gähnen vorgab.

»Ihr macht mir so elend mit euren abgeschmackten Räubergeschichten,« sagte sie nervös, »daß ich frische Luft schnappen muß. Hier erstickt man ja vor Lügen und Tabaksrauch!«

Damit fegte sie hell auslachend an dem jungen Mann vorbei in die Küche, riß die Haustüre auf, wartete ein Weilchen und eilte dann leisen Tritts in ihr Stübchen hinauf. Hier schloß sie sich ein, nestelte ihr Mieder auf, holte den Dolch hervor und schleuderte ihn aufs Bett. Einen Augenblick funkelte der Smaragd im Kerzenlicht, sie aber sank neben dem Bett in die Kniee und vergrub den wirbelnden Kopf in ihre kalten roten Hände.

Es war, als ob ein Blitz die Wolken zerrissen und ihr die Wahrheit grell beleuchtet hätte – die dunkle gespenstische Gestalt auf dem Bergrücken, der zerrissene Sattelgurt, das Zurücklassen des Dolchs in der Angst vor Entdeckung, die zweite Begegnung, das Herumschleichen in dem trockenen von Erlengebüsch geschützten Flußbett, die veränderte Kleidung, die hellere Haar- und Hautfarbe, aber dieselbe Stimme, das nämliche Lachen – der Häuptling, der Flüchtling, der mexikanische Roßdieb! Und sie, die gottverlassene Närrin, das dickköpfige Wickelkind, das nicht halb so viel gesunden Menschenverstand hatte, als ihr Füllen oder auch nur wie dieser wasserköpfige Hopper, hatte nichts begriffen! Sie – ihr Leben lang wird man sie auslachen, und mit Fingern auf sie deuten – sie hatte ihn für einen Spekulanten, für einen Spießbürger aus Franzisko gehalten! Und sie hatte ihm willig sein Messer aufgehoben, bis er’s holen werde – ja holen, vielleicht mit Feuer und Schwert, mit Pferdegetrappel und Pistolenschüssen – und doch – und doch –

Doch hatte er ihr vertraut. Jawohl, ihr vertraut, während er wußte, daß ein Wort von ihren Lippen den ganzen Umkreis auf seine Fährte bringen würde; ihr ein zweites Mal vertraut, wo sie nur auf Rufweite von ihrem Haus entfernt war, wo er ihr Füllen hätte nehmen können, ohne daß sie etwas davon gemerkt hätte! Und nun besann sie sich dunkel darauf, daß die Nachbarn es seltsam gefunden hatten, daß ihres Vaters Viehstand allein verschont geblieben sei. Er hatte sie beschützt, er, der jetzt ein Flüchtling war, den ihre Leute verfolgten! Mit einem Ruck sprang sie auf die schmalen Füße, und ebenso plötzlich war sie wieder kühl und vernünftig geworden. Ganz wieder die alte, griff sie nach dem Dolch und barg ihn an seinem früheren Platz. Nachdem das geschehen war, ging sie wieder hinunter. Die Farbe war auf ihre Wangen zurückgekehrt und die Augen funkelten ein wenig mehr als sonst, als sie den braunen Kopf zur Türe des Wohnzimmers hineinsteckte und lustig hineinrief: »Immer noch am Maulaufreißen, ihr Leute!« Dann trat sie ruhig in die Dunkelheit hinaus.

Leichtfüßig lief sie den Berg hinauf, blindlings getrieben von dem Gefühl, daß sie ihn dort getroffen hatte und daß sie ihn warnen müsse. Aber oben war’s finster und einsam, kein Laut zu hören, als das Sausen des Windes. Da kam ihr ein Einfall. Wenn er sich noch in der Nähe versteckt hielt, konnte er an der Leine flatternde Wäsche sehen und würde dann vielleicht annehmen, daß sie dort sei. Und im barmherzigen, alle Blößen verhüllenden Schutz der Dunkelheit zog sie ihren einzigen weißen Unterrock aus und heftete ihn an die Leine. Er flatterte und klatschte im Wind, sie aber stand und lauschte. Da vernahm sie ein Geräusch, aber nicht das erwartete, vielmehr war es das Klappern vieler Hufe auf der Landstraße unten, und eilends lief sie in ihrem Röckchen zurück nach dem Haus, dessen Bewohner schon auf die Straße hinauseilten, um zu sehen, was es gebe. Das war ein geeigneter Augenblick, um unbemerkt hineinzuschlüpfen und in ihr Stübchen zu gehen, wo sie sich zusammengekauert lauschend ans Fenster setzte, das nach dem Bergrücken ging. Sie hörte Stimmen, hörte das dumpfe Stapfen schwerer Stiefel auf dem staubigen Pfad nach der Scheune an der andern Seite des Hauses, dann folgte Stille, dann wieder die Fußtritte, und schließlich abermals Hufschlag auf der Straße. Jetzt wurde an ihre Tür gepocht, und die Mutter fragte im üblichen zänkischen Ton: »Du bist doch da? So so – ist auch der beste Platz für ein Mädchen, wenn so viele Mannsleute herumhantieren! Sie haben den Roßdieb erwischt und haben ihn gefesselt im Stall deines Füllens untergebracht, bis der Friskoer Polizist zurückkommt, der die andern zusammentrommelt. Bleib du nur, wo du bist, bis sie wiederkommen und wir das Vieh eingesperrt haben – du machst dir doch nichts daraus?«

»Schon gut, Ma – man braucht mich ja nicht dabei,« versetzte Lanty durch den Türspalt.

Dieser willige Gehorsam würde der Mutter zu andrer Zeit aufgefallen sein und sie wäre wohl erschrocken, wenn sie das Gesicht der Tochter gesehen hätte, die die Zähne aufeinanderbiß und ihren kleinen Mund zusammenpreßte. Und doch war diese Lanty ja der Mutter echte Tochter, dasselbe Pionierblut durchpulste ihre Adern, ein Blut, das nie Feiglinge und Entartete erzeugt und ernährt hatte, sondern sich willig verspritzen ließ, um wüste Öden zu befruchten, daß die Menschheit nachfolgen konnte. Was Wunder, daß diese grenzgeborene Lanty, auf deren ersten Schrei das Heulen des Wolfs und das Kreischen des Panthers geantwortet hatten, über deren Wiege der Vater die Flinte gelegt hatte, um auf den das Haus umschleichenden Indianer zu zielen, daß diese Lanty sich der »Mannshantierung« gewachsen fühlte und schnell bereit war, daran teilzunehmen. So sehr die Nachricht von dieser Gefangennahme sie auch erschütterte, besann sie sich doch sofort auf den Umstand, daß die Scheune alt und morsch war, und daß ihr Füllen erst am Tag vorher an der Außenwand ein Brett losgestoßen hatte, das sie leicht mit einem Nagel angeheftet hatte, damit nichts passiere. Wenn die Wachen das nicht bemerkt hatten, hatte es keine Not, dann konnte sie die Öffnung weit genug machen, um ihn zu befreien.

Zwei Stunden später sah die dem schlafenden Haus zunächst aufgestellte Wache, die zu Fosters Leuten gehörte, seines Brotherrn Töchterlein sachte herausschlüpfen und vorsichtig auf sich zukommen. Es war Lantys getreuer Knecht, der längst an ihre plötzlichen Einfälle gewöhnt war. So erriet er sofort, daß Neugier sie hertrieb, und es war ihm willkommen, diese befriedigen und zugleich seine eigene Wichtigkeit ins beste Licht setzen zu können. Auf ihre geflüsterten Fragen voll gemachter Ängstlichkeit und Neugier gab er gleichfalls flüsternd zur Antwort, daß der Gefangene tatsächlich in der Box des Füllens sei. Man habe ihm die Hände auf dem Rücken zusammengeschnürt und ihn mit dem Fuß an einen Pfosten gebunden, sehen könne sie ihn aber nicht, weil es drinnen stockfinster sei und er mit dem Rücken gegen die Wand lehne, denn niederlegen könne er sich nicht zum Schlafen. Lantys Augen glühten, aber sie hielt das Gesicht abgewendet.

»Und Sie haben keine Angst, seine Genossen könnten kommen und ihn befreien?« fragte sie, mit gut gespielter Furchtsamkeit um sich blickend.

»Damit hat’s keine Not! Zwei andre Wachen stehen drunten in der Viehweide, und ich brauche nur einen Schuß abzugeben, so sind sie gleich da.«

Aber Lanty starrte offenen Munds nach dem Bergrücken hinauf.

»Was weht denn da oben?« fragte sie erschrocken.

Sie deutete auf ihren Unterrock, der gespensterhaft am Horizont flatterte.

»Da hängt wohl Wäsche zum Trocknen. Was könnte es sonst sein?«

»Wäsche! Zweimal in einer Woche!« sagte Lanty vorwurfsvoll. »Was fällt Ihnen denn ein?«

»Richtig,« stammelte der Mann, »und um Sonnenuntergang war auch noch nichts dort, das könnt’ ich beschwören! Ich will doch lieber den Wachen das Zeichen geben,« setzte er, die Flinte erhebend, hinzu.

»Tun Sie’s nicht,« tuschelte Lanty, seinen Arm festhaltend. »Falls es nichts ist, würde man Sie auslachen. Gehen Sie lieber vorsichtig hinauf und sehen Sie nach. Sie fürchten sich doch nicht? Wenn Sie Angst haben, geben Sie mir Ihr Gewehr, dann gehe ich.«

Das gab, wie Lanty erwartet hatte, den Ausschlag. Der Mann machte sein Gewehr schußfertig und begann in gebückter Haltung den Abhang hinaufzuklettern. Lanty wartete, bis seine Gestalt zu verschwinden begann, dann lief sie blitzschnell nach dem Stall. Sie hatte sich ihren Plan haarklein ausgedacht. An der Außenwand niederknieend, zischte sie in erregtem Flüsterton durch eine Ritze: »Mucksen Sie sich nicht. Sagen Sie kein Wort, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist. Warten Sie, bis ich Ihnen Ihr Messer zurückgebe, dann tun Sie Ihr Möglichstes.«

Die losgerissene Planke hebend, sah sie in verschwommenen Umrissen das lockige Haar, den Rücken, die Schultern und die zusammengebundenen Hände des Gefangenen. Rasch zog sie den Dolch aus der Tasche, durchschnitt die Stricke mit der scharfen Klinge, warf die Waffe durch die Öffnung hinein und stürmte davon. Es war ihr, als wende der Mann sich in diesem Augenblick unwillkürlich nach ihr um, aber einen Roßdieb befreien war etwas anders, als dazubleiben und sich von ihm »schöntun« zu lassen!

Jetzt lief sie den Berg halbwegs hinauf, dem zurückkehrenden Wächter entgegen. Es sei doch nur ein Wäschestück, berichtete dieser, und er sei recht froh, das Zeichen nicht gegeben zu haben. Lanty dagegen gestand, die Einsamkeit sei ihr so »gruselig« gewesen, daß sie ihm entgegengegangen sei. Es habe sie förmlich geschaudert. Ob er nicht spüre, wie eiskalt ihre Hand sei? Sie war kalt, und doch durchglühte die Berührung den das Mädchen in Demut verehrenden Burschen. Sie fühlte sich so schwach und hatte solchen Schwindel, daß sie sich auf seinen Arm stützen mußte, und er solle recht langsam gehen, bat sie. Sie sei überzeugt, daß er auch friere, und wenn er an der hinteren Haustüre warten wolle, werde sie ihm ein Schnäpschen holen. So sprach Lanty, deren Kopf glühte, deren Augen und Ohren die Finsternis zu durchdringen suchten, um zu ergründen, was beim Stall vorging. Wieder verstrich ein Weilchen über dem Trunk an der Haustüre, dann ließ sich die Arglistige von dem Knecht das Versprechen geben, ihrer Mutter nichts von ihrem nächtlichen Ausflug zu sagen, und versprach dagegen, niemand zu erzählen, daß er einen Unterrock an der Waschleine mit schußfertigem Gewehr beschlichen habe, worauf sie geräuschlos die Türe schloß und in ihr Stübchen zurückkehrte. Der Gefangene mußte mittlerweile entkommen sein, sonst wäre er inzwischen entdeckt worden. Sie war sicher, daß niemand die Scheune betreten würde, bis die bewaffnete Macht zur Stelle war.

Dem war auch so. Der Tag graute schon, als die Mannschaft zurückkam, und sie hörte, wieder am Fenstersims zusammengekauert, mit wilder Freude den lauten Schreckensruf, die Flüche, die hadernden Stimmen, hörte, wie ihr Vater an die Tür gerufen wurde, und wie die ganze Truppe geräuschvoll davonstob, worauf sich erquickende Stille über die Ranch breitete. Und nun legte sich Lanty zu Bett und schlief süß und friedlich wie ein kleines Kind.

Vielleicht war sie deshalb so wohl im stand, beim Frühstück mit schläfrigem Geichmut und sogar in rosiger Laune den Gesprächen über die Ereignisse der Nacht zu lauschen. Die Knechte witzelten über die Polizisten, die beim Durchsuchen des Gefangenen kein Messer entdeckt hatten, und höhnten den Wächter des Hofes, der nicht gehört habe, wie der Gefangene ein Loch, »so groß wie ein Haus« in der Bretterwand gebrochen hätte! Einmal warf sie ihrem Freund von heute nacht, Silas Briggs, einen verschämten Blick zu, und der arme Bursche vergaß über der Erinnerung an ihre Huld völlig seine Schmach.

Aber Lantys Frieden sollte bald aufs neue gestört werden. Abermals drangen aufregende Neuigkeiten von der Landstraße her: der mexikanische Häuptling war zum zweiten Male ergriffen worden und saß jetzt wohlaufgehoben hinter Schloß und Riegel in Brownsville! Wer vorhin den Roßdieb laut gepriesen hatte, der seinen Verfolgern derart ein Schnippchen geschlagen habe, strömte jetzt ebenso über vor Bewunderung für den jungen Polizisten aus San Franzisko, der die ganze Bande an Schlauheit übertrumpft hatte. Der war nie um einen Ausweg verlegen, der hatte die Gegend studiert und bei der Verfolgung selbst sein Leben aufs Spiel gesetzt, der hatte das Netz wieder zusammengezogen und den entlaufenen Spitzbuben eingefangen. Er war schon auf dem Heimweg nach der Stadt und mußte an Fosters Ranch vorüberkommen – vielleicht, daß der sich einen Augenblick aufhielt, dann würden alle den Helden sehen können. Das ist die Macht des Erfolgs beim Landvolk! Äußerlich gleichmütig, innerlich grollend wandte sich Lanty ab. Sie wollte seinen Triumphzug gewiß nicht verherrlichen helfen, und wenn sie den lieben langen Tag in ihrem Stübchen bleiben müßte! Sobald sich wieder Hufschlag vernehmen ließ, machte sie sich auch richtig aus dem Staube.

Aber nach wenigen Sekunden wurde sie gerufen. Kapitän Lance Wetserby, Assistent der Polizeidirektion in San Franzisko und stellvertretender Scheriff, verlangte Fräulein Foster einen Augenblick allein zu sprechen. Lanty wußte, was das zu bedeuten hatte: ihr Geheimnis war entdeckt, aber sie war nicht das Mädchen, sich der Verantwortung zu entziehen! Den kleinen braunen Kopf in den Nacken werfend, ging sie mit demselben entschlossenen Schritt, mit dem sie heute nacht das Haus verlassen hatte, die Treppe hinunter und trat ins Wohnzimmer. Zuerst vermochte sie nichts zu unterscheiden, als eine unvergessene Stimme an ihr Ohr schlug. Sie schreckte zusammen, blickte auf und mußte sich, nach Atem ringend, gegen die Türe lehnen. Das war der Fremde, der ihr den Dolch gegeben hatte, der Fremde, den sie im Flußbett hinter den Erlen getroffen, der Roßdieb in Person! Nein! Nein! Jetzt begriff sie – sie hatte den unrechten Mann befreit!

Er sah sie mit wehmütigem Blick an, während er aus seiner Brusttasche den verhängnisvollen Dolch zog, dessen Anblick ihr nun fast unerträglich war!

»Das ist das zweite Mal, Fräulein Foster,« sagte er gelassen, »daß ich dem mexikanischen Banditen Murietta dieses Messer abgenommen habe. Das erste Mal geschah’s vor drei Wochen, als ich ihn entwaffnete, worauf er uns wieder entkam, das zweite Mal heute nacht, als er abermals entkommen war und ich ihn wieder einfing. Nachdem ich’s in jener Nacht verloren hatte, gaben Sie mir doch zu verstehen, daß Sie es gefunden hätten und mir aufheben wollten?«

Er hielt einen Augenblick inne, dann fuhr er fort: »Ich will nicht wissen, was heute nacht geschehen ist, denn ich mache es Ihnen nicht zum Vorwurf. Ich kann mir wohl vorstellen, daß ein Mädchen von Ihrem Mut und Ihrer Hochherzigkeit Recht zu tun glaubt, wenn sie Mitleid übt; ich frage nur: weshalb gaben Sie ihm das Messer zurück, das ich Ihnen anvertraut hatte?«

»Weshalb? Warum ich’s getan?« brach’s aus Lanty heraus in einem Strom elementarer Verachtung und rücksichtsloser Aufrichtigkeit. »Weil ich Sie für den Roßdieb hielt. Jetzt wissen Sie’s!«

Er trat verwundert einen Schritt zurück, dann ertönte plötzlich das Lachen, dessen sich Lanty so wohl erinnerte, und das ihr jetzt das Herz befreite.

»Meiner Seel’, ich glaube Ihnen!« rief er. »In jener ersten Nacht trug ich die Verkleidung, in der ich ihn ausgekundschaftet und mich unter seine Bande gemischt habe … Jawohl! Ich begreife jetzt alles – und noch mehr, auch daß ich Ihnen den Fang verdanke!«

»Mir?« stammelte sie betroffen. »Wieso mir?«

»Statt sich in seine Höhle zu verziehen, hat er sich in der Nachbarschaft der Ranch herumgetrieben. Weil Sie ihn befreit und ihm sein Messer gegeben hatten, nahm er an, Sie seien in ihn verliebt, und wollte Sie durchaus sehen.«

Aber Lanty hatte die Schürze vor ihre Augen gezogen, deren samtige Tiefen sich mit Tränen füllten, und in gebrochenen Lauten drang’s drunter hervor: »Dann – dann – muß er sich viel mehr aus mir machen – als – als andre Leute!«

Man hat allen Grund, anzunehmen, daß Lanty auch darin im Irrtum war! Wenigstens deuten spätere Ereignisse, die der Geschichte der Ranch und der Fosterschen Familie angehören, auf das Gegenteil.