DIE DAMPFPFEIFE

Von A. Hauschner

Oh … oh … oh … oh …

Oh … oh … oh … oh … oh … jeeeh …!

Ein Pfiff, ein langgedehntes, grelles, aufheulendes Brüllen, gleich einem Aufschrei der gequälten Kreatur.

Das Weib richtet den Oberkörper etwas auf.

»Es pfeift, Vaclav,« stöhnt sie aus ihren Schmerzen, »lauf’, du versäumst!«

Vaclav erhebt sich langsam. Er sucht beim trüben Schein der Lampe in der Lade nach dem Brotlaib, schneidet einen Fetzen davon ab und steckt ihn in die Jacke zu der Branntweinflasche. Noch einmal tritt er an das Bett und streichelt seines Weibes feuchte Stirn.

»Sorgt Euch nicht, Stejskal, um die Božena,« sagt die alte Babi, die beschäftigt ist, Wasser in ein kleines Holzgefäß zu gießen, »gut wird’s gehn. Wenn Ihr nach Haus kommt, ist ein Bub’ da.«

Ob Bub’, ob Mädel, ihm ist’s gleich. Ein Esser mehr zu den dreien, die schlafend in Kisten an der Erde liegen. Und die Frau erwerbslos für die nächsten Wochen.

Was ist zu tun? Wenn Gott es so bestimmt hat.

Er läuft, um nicht in Strafe zu verfallen. So hastig rennt er durch die unerhellte, nebeldicke Morgenluft, daß er die Kälte, die sein Gesicht zerschneidet, nicht empfindet.

Schon steht er zwischen seinen beiden Stühlen.

Oh … oh … oh … oh …

Oh … oh … oh … oh … oh … jeeeh heult zum zweitenmal die Pfeife.

Sssss zischt die Dampfmaschine, bewegt die Arme, bringt den Betrieb in Gang; die Schützen fliegen durch die Kettenfäden.

Und Vaclav weiß nicht, daß sich in das Ausklingen des zweiten Pfiffs daheim in seiner Hütte ein leiser Wehlaut mischt. Das erste Wimmern seines vierten Kindes.

Piska – es pfeift – wird sie genannt. Die Dampfpfeife, die sie zur Welt gerufen hat, wird ihre Patin.

* * * * *

Kind und Mutter. Alles Reiche, Starke, Zwingende ursprünglichster Instinkte … Fünf Wochen lang kriecht das Tierchen Piska an die Mutterbrust. Mit seinem Hunger, seinem Frost, mit jedem Zittern seines leiblichen Verlangens.

Plötzlich liegt es in Verlassenheit. Lange Stunden, Ewigkeiten. Die Händchen tasten in das Leere, die Lippen stoßen klagend etwas Mißschmeckendes zurück, schließen sich, lustlos saugend, um etwas Kaltes, Nahrungsloses; bis sie der Lebensquell aufs neue füllt; bis Mutterzärtlichkeit mit Brust und Arm und Mund den kleinen Körper wärmend einhüllt.

In diesen Augenblicken tierischen Entzückens huscht durch das Dämmern des kindlichen Bewußtseins ein Geräusch, ein Laut …

Oh … oh … oh … oh …

Oh … oh … oh … oh … oooh … jeeeh …

Die Lust verschwindet. Piska ist allein. Großmutter schüttelt sie.

»Psch, psch, Pisenka, raunz’ nicht. Maminka kommt wieder, abends, wenn sie pfeifen.«

* * * * *

Das Band zwischen Natur und ihr ist durchgeschnitten. Piska ist kein Säugling mehr.

Doch von der Großmutter noch immer vor den anderen bevorzugt. Sie nimmt die Kleine mit, wenn sie, die schwarze Tasche auf dem Arme, zur Mittagszeit davonschlürft. Langsam, doch noch viel zu schnell für schwache, kurze Beinchen. Den Waldweg abwärts, über die Brücke, vor das große Haus.

Sie warten lange, bis sein Tor sich öffnet. Viele Menschen gibt es her. Männer, Frauen, Burschen, Mädel.

Božena und Vaclav sind darunter. Bleich und verdrossen. Er unzufrieden mit dem Zugebrachten. Keine fünfzig Deka Fleisch die ganze Woche. Sie oft zu kraftlos, um zu essen.

Sie sitzen zur Sommerszeit auf einer grünen Wiese. Im Winter in einem großen, kahlen Zimmer mit vielen anderen. Manch einer hätschelt Piska, schiebt ihr einen Bissen in den Mund, läßt Branntwein oder Bier in ihre Kehle laufen.

Die Hand der Mutter liebkost sie nicht mehr. Müde ruht sie auf dem Schoß, in dem sich wieder neues Leben regt. Schon ruft es abermals zur Mühsal. Seufzend stehen alle auf, folgen der Mahnerin, der Unerbittlichen …

Oh … oh … oh … oh …

Oh … oh … oh … oh … oooh … jeeeh …

* * * * *

Was sich die kleine Piska alles denkt, wenn sie die Pfeife hört. »Ein großer Mann, ein Riese, noch höher als ihr Häuschen, der so schreit.«

Sie ahmt ihm nach, wenn sie mit den Kindern spielt. Auf der offenen Heerstraße, die ihr Spielplatz ist. Sie pfeift, die anderen müssen in den Winkel rennen, »in die Fabrik«. Im Winter dringt ihnen der Schnee in die zerlumpten Stiefel. Im Sommer wühlen ihre nackten Sohlen den Staub auf, daß er in Wolken aufsteigt und ihnen fressend in die Lungen dringt.

Viel später, Piska geht schon in die Schule und weiß: es ist der Dampf, der mit so tobendem Gekreisch entweicht, verbindet sie geheimnisvolle Vorstellungen mit dem grellen Schrei.

Er ist ihr der Direktor, vor dem die Mutter zittert, der die gut und schlecht bezahlte Arbeit zu vergeben und die Strafen anzusetzen hat. Auf den der Vater schimpft: »Lump, verfluchter, tritt den Arbeitsmann, kriecht dem Herrn in den H…..n!«

Oder gar der Herr Besitzer selbst, der furchtbar reiche, der die Tasche voll mit Sechserln hat, alle Tage zweimal Fleisch kriegt und drei Liter Pilsener Bier dazu.

Oder sonst ein Übermächtiger, ein Zauberer.

Alles richtet sich nach ihm. Daß die Eltern weggehen und daß sie wiederkommen. Daß es Samstag eine halbe Stunde früher die Suppe und die aufgewärmten Knödel gibt. Daß die Mutter dann das Zimmer aufreibt und die Kinder badet. Daß der Vater erst um Mitternacht nach Hause kommt und die Mutter prügelt, die ihm weinend vorwirft, daß er wieder den halben Wochenlohn vertrunken hat.

* * * * *

Nun ist sie selber in des Zauberers Bann geraten.

Bei der Mutter, die die Fäden durch die Zeuge zieht und sie an eine neue Kette andreht, hockt die Kleine. Garnabfälle hängen ihr am Arm, und die Finger lernen Weberknoten.

Eine blasse, magere Vierzehnjährige, der der Pfiff kein Spiel mehr bedeutet.

Bald rückt sie auf, sitzt an der Spulmaschine. Wie beim Instrument die Tasten reihen sich dem samtnen Kissen Stifte an, auf denen die Bobinen stecken. Und dahinter trägt der große schräge Rahmen Spulen.

Aufgepaßt. Nicht geprudelt, nicht gefaulenzt. Geld verdienen. Aufgepaßt, daß keine Fäden reißen, daß, wenn die Bobine abgespult ist, kunstgerechte Knoten zu der neuen führen. Und daß ja der Baumwollflug nicht auf dem Kissen bleibe und den Faden schädigt.

Schwere Arbeit für die schwachen Kräfte. Aber Jugend, goldene Jugend. Über deine Brücke geht aus jedem Dunkel der Weg zu hellen Fröhlichkeiten.

Neckereien, Gelächter, Püffe rechts und links. Rasch und heimlich. Wenn ein Unberufener naht, gleich die Augen wieder ehrbar auf die Bank gerichtet. Eine Hetz’!

Und endlich pfeift sie doch, die Stunde der Erlösung. Wie dann mittags im Winter der aufgewärmte Kaffee schmeckt. Im Sommer die Handvoll Birnen und die saure Gurke.

Manche freilich essen besser. Streichen Schmalz aufs Brot und kaufen einen halben Liter Bier in der Kantine. Zu so etwas reicht Piskas Lohn noch nicht. Sechzig Heller täglich; dreißig davon an die Mutter. Was bleibt da für den Putz? Mag auch jeder arbeitsfreie Augenblick beim Sticheln aufgehen, beim Waschen, Stärken, Bügeln. Dem Johann Tronezek zuliebe.

Der Johann Tronezek steht schon am Webstuhl. Er webt Kattune. Schlecht bezahlte Ware. Leichte Ware, wie er selber ist. Kein hübscher Junge. Dürr und käsig. Sohn eines Säufers und mit Branntwein aufgezogen. Aber flink und frühreif wie die Piska selber.

Sie passen gut zusammen, wenn sie am Sonntag miteinander tanzen. Stundenlang. Die Arme eng verschränkt, die Hände gegenseitig auf den Schultern, die Köpfe einander zugeneigt, daß die Stirnen sich berühren. Brust und Leib dem anderen angeschmiegt, schieben, drehen und drängen sie sich durch den Knäuel der Paare. Sie sprechen nicht. Das Mädchen schließt die Augen, öffnet ihre Lippen. Gibt sich in sinnlicher Verzückung der Wonne hin. Dem Tanz, der schwindelnden Bewegung, der dichten Nähe ihres Burschen.

Die Luft wird schwül und dick. Aus Bierneigen, Speiseresten, Menschenschweiß ballt sich Gestank zusammen. Die Fiedel quietscht, der Baß ist brummig und verstimmt, mißtönig kreischt der Chor der halb Betrunkenen dazwischen. Das Mädchen sieht, hört und riecht es nicht. Die Augen zu, die Lippen offen, dreht sie sich inbrünstig im Kreise.

An ihres Liebsten Körper angepreßt, genießt sie dumpf und unbewußt, wonach des Menschen tiefste Notdurft schreit – das Glück.

Andere haben Muße, Bildung, Luxus, Kunst, Natur.

Sie hat nichts als diese kurze Freiheit. Der Inhalt ihres Lebens drängt sich in diese Stunden. Sie sind das Licht, nach dem die Schatten ihres Daseins flüchten, die Sonne in dem Dunkel ihres Denkens, die Freude, die sie gierig einschlürft, mit all der Leidenschaft, die das Entbehren ihrer Seele in ihrem Körper aufpeitscht.

Tanz und Liebe … Bis zur Neige leert sie den Becher, sinnlos, zügellos. Dem allzu schnell enteilten Tag fügt sie die Nacht hinzu, den frühen Morgen. Noch eine Runde … eine noch …

Erschöpft und schwindlig möchte sie die fliehenden Minuten halten.

Oh … oh … oh … oh …

Oh … oh … oh … oooh … jeeeh … schreit die Pfeife.

Der Arbeitstag ist da, rennt, Leute, eilt, daß ihr der Strafe nicht verfallt!

In ihren Sonntagskleidern, ungesäubert, ungestärkt, stürzen sie den Berg hinunter, den Fluß entlang, über die Brücke, an das große Tor …

Gerade sitzen, Piska, die Lider offen halten! Aufpassen, nichts verpatzen, Geld verdienen!

* * * * *

Piska tanzt noch immer. Aber lange Pausen legt sie zwischen jede Runde. Ihre blauen Augen liegen tief und schwarzumrändert in den Höhlen, ihre jungen Züge sind verfallen, lässig schleppt sie ihre Glieder. Sie ist krank. Doch diese Krankheit gilt nicht bei der Krankenkasse. Auch zu Hause muß sie sie verschweigen. Aus Angst vor Prügel und vor hartem Zanken.

Zwar die Mutter wurde auch erst kurz vor Piskas Ankunft Vaters Frau. Doch der Eltern eigene Verfehlung strafen sie bei ihren Kindern. Anständig soll die Tochter bleiben, Geld nach Hause bringen. Überhaupt die Piska, so ein Fratz, noch keine sechzehn. Und die Mutter selbst noch alle Jahre in der Hoffnung.

Auch der Johann ist verdrossen. Nicht wie sonst macht er sich häufig in dem Spulmaschinenraum zu schaffen. Sie ist es nun, die einen Vorwand sucht, den Websaal durchzulaufen. Aber das Getöse übertönt die Stimme. Sie zieht ihn mit sich in den Seilgang.

Nur ein Wort.

Na also – was? Wie wenn er nicht schon wüßte. Also ja, wie oft soll er es sagen. Er wird sie nehmen. Wahrscheinlich. Später, wenn sie beide mehr verdienen. Aber gleich das Haus voll Kinder. Dafür dankt er. Sucht sich lieber eine andere, die nicht so ungeschickt ist. Na – nicht gleich. Sie braucht nicht so zu weinen.

Sie drängt sich angstvoll an ihn an. Eine kurze, heftige Umarmung vereint die beiden, die Strafe und Entdeckung nicht bedenken.

* * * * *

Hochsommer. Glühend brennt die Sonne auf die ungeschützten Scheiben. In schrägen Streifen tanzt der Staub und Baumwollflug im Saale. Piska sieht weiß aus. Ihre Finger zittern, wenn sie den Knoten knüpfen sollen. Bei jeder Lohnauszahlung trifft sie seit Wochen eine Strafe, und der Direktor droht mit der Entlassung.

Jetzt nimmt sich eine Mitleidige ihrer an.

»Geh’ bissel auf die Luft, ich gib’ dir Obacht.«

Die Kleine wankt hinaus; sie schleppt sich aufwärts in den Wald. Ein Tier, das in das Dickicht kriecht, dort zu verenden.

Ist ihr schlecht. Jeschisch Margotte … was für Schmerzen. Sie schreit und jammert. Stromweise stürzen ihr die Tränen aus den Augen, die Hände krallen in die glatten Tannennadeln, die den Boden decken.

Die Pfeife hört sie noch und denkt verworren: Wenn man nur nicht gemerkt hat, daß ich eher weg bin. Dann überwältigen die Qualen die Gedanken.

*

Ein grelles, langgedehntes, aufheulendes Brüllen weckt sie auf. Sie möchte aufstehen, an die Spulbank eilen.

Sie kann nicht. Entkräftet, sterbend sinkt sie nieder. Und in das Ausklingen der Pfeife mischt sich ein leiser Wehlaut. Das erste Wimmern ihres Kindes.

Der Kreislauf ist vollendet. Ein Leben geht zugrunde und gibt der Arbeit einen neuen Sklaven.

Oh … oh … oh … oh …

Oh … oh … oh … oh … oooh … jeeeh …

 

Wir saßen mit gesenkten Köpfen. Von der Trostlosigkeit dieser Zustandsschilderung bedrückt und aufgereizt, uns zu verachten. Nur ein grauhaariger Herr, wie schlafend an die Kachelwand gelehnt und in die Spiralen seiner kunstgerechten Rauchringe gewickelt, schlug die Augen auf und sagte: »Ja, so seid Ihr. Immer Weiß und Schwarz. Der Proletarier ist edel, der Bürger ist ein elendes Subjekt. Ein Ausbeuter. Und ohne ein paarmal hunderttausend Guldenrente tut Ihr’s bei ihm nicht. Meiner Erfahrung nach taugen wir Menschen auf beiden Seiten nichts. Wer die Macht hat, übt Gewalt und unterdrückt das Recht. So ist’s von Weltanfang gewesen. Wenn Ihr am Ruder seid, werdet Ihr’s nicht anders machen.« Er bewegte die Feder seines Benzinfeuerbüchschens, entzündete bedächtig eine frische Zigarette und führte ein Beispiel für seine Weltanschauung an.