Von Fritz Barschdorff

ährend der Engrosmesse hatte ich einmal Gelegenheit, in die innere Stadt zu gehen.

Am Naschmarkt war eine ziemliche Menschenmenge um einen Ausschreier versammelt. Ich drängte mich hinzu und erkannte in dem Ausschreier einen ehemaligen Schulkameraden.

Der Faschingszug der Reklamebilder und -schilder zog an mir vorüber, und ich dachte an die vergangene Schulzeit.

Im Gegensatz zu den artigen, braven und folgsamen Jungen, vergaß man den, den ich hier wiedersah, so leicht nicht wieder.

Er war bei allen Jungenstreichen obenan und dabei von einer so verblüffenden Geistesgegenwart und Gerissenheit, daß sein Ruhm bei allen Lehrern, bis zum Direktor, und selbst in umliegenden Polizeiwachen befestigt war.

Alljährlich zogen wir ein paar Tage vor dem »Tauchschen«1 auf den Brühl und gingen die »Itzige« um[11] Felle an. Wie freigebig die »Itzige« waren! Abfälle von Tierschwänzen aller Art, manchmal sogar brustgroße Fellstücke, warfen sie uns zum Fenster herunter. Sie hatten dabei auch ihr Spezialvergnügen. Denn wenn sich die ganze Jungenschar am Boden um die Beute balgte, folgte hinterher ein Schwapp Wasser, das uns oft bis auf die Haut näßte, aber in der Hitze des Gefechtes nicht weiter auffiel.

1Tauch(a)scher Jahrmarkt.

Ein Tauchscher ist mir noch lebhaft in der Erinnerung.

Damals standen in der Wächterstraße noch nicht die vornehmen abgeschlossenen Villen. Nur ein Neubau stand dort. Sonst waren es große umzäunte Plätze, auf denen lustig Gras und Löwenzahn wucherten. Und daß ich die Bäume nicht vergesse, die so schmackhaftes Obst trugen. Zwar hatte uns der Platzwächter gedroht, daß er uns schon einmal erwischen werde, aber er ließ sich selten sehen, und ein Zaun – ist das ein Hindernis für einen Jungen?

Wir, ausgestattet, bekleidet und nicht bekleidet, wie echte Indianer und Trapper, besetzten nun den Neubau, der als Blockhaus galt und von den Indianern belagert und erstürmt wurde. Nur in Brand steckten wir’s nicht, wie das die richtigen Wilden machen. Im ersten Stock, dessen Fußboden vorläufig noch aus Balken bestand, wurde die Friedenspfeife geraucht. Eine Wache hatten wir ausgestellt, damit uns kein Unberufener störte. Und die Wache meldete auch bald, daß der Wächter käme.

Dieser stand unten an der langen Leiter, schwang einen tüchtigen Knüppel und rief: »Kommt nur runter!«

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Während unser Häuptling, oben an der Leiter stehend, mit ihm verhandelte und einige wohlmeinende Redensarten wechselte – balancierten wir übrigen von Balken zu Balken, bis an die Hinterseite des Baues. Dort baumelte ein Tau, an dem die Eimer hinauf- und herabgeleiert wurden, und einer nach dem andern rutschte an dem Tau hinab. Der Häuptling, der unsern Rückzug gedeckt hatte, geriet nun aber selbst in Bedrängnis. Denn der Wächter begann die Leiter hinaufzuklimmen. Schon tauchte sein Kopf auf. Aber bis zur Hinterseite, dort wo das Tau hing, war es dem Häuptling zu weit. Er machte deshalb einen Sprung zum Fenster. Ein Baum reichte dort seine Zweige herein. Ein Satz – der Häuptling sprang vom Fenster herab, mitten in den Baum. Wie eine Katze kletterte er den Stamm entlang und ließ sich auf die Erde fallen.

Ein Siegesgeheul verkündete dem Wächter, daß es diesmal noch nichts war mit dem Erwischen.

Und jetzt war dieser Häuptling, dem damals allseitige Bewunderung gezollt wurde, Straßenverkäufer.

Ganz nett und bürgerlich sah er aus. Er verkaufte Ansichtskarten, die reißenden Absatz fanden. Unter seinem Arm trug er einige Pappkästen mit Ansichtskarten, und zwischen seinen Füßen standen ebenfalls einige dieser Kästen. Und nun zu sehen, wie er mit der rechten Hand aus der unter den linken Arm geklemmten Pappschachtel immer neue Karten nahm, sie in die zahlreich ausgestreckten Hände gab, gleichzeitig das Zehnpfennigstück in seine Rocktasche gleiten ließ; sich langsam im Kreise drehte und die zwischen seinen Füßen[13] aufgestapelten Kasten mitdirigierte – dabei unermüdlich redend und preisend – das zu sehen war allein zehn Pfennige wert. Ja, das Publikum schien selbst seine Freude an dieser taschenspielerartigen Fertigkeit zu haben. Denn aus allen Richtungen des Kreises scholl es: »hier – mir eine – mir auch –«, so daß er sich fortwährend redend, Karten austeilend, Geld kassierend drehte, aber keinen Moment irremachen ließ.

Da entstand eine kleine Pause.

Ein Herr schob sich durch den Kreis. Mit hochrotem Kopf schrie er: »Sie oller Quasselfritze, wat issn det fürn Humbug mit die Kaarte. Is ja janz schwarz – is ja nischt zu sehn druff!«

Der Kartenverkäufer schien ihn nicht zu beachten. Er nahm noch einige Geldstücke in Empfang und sagte dann mehr gutmütig: »Sie haben das nicht richtig gemacht, wie ich das erklärt habe. Meine Herrschaften, ich will Ihnen das noch einmal erklären. Man geht also an einen dunklen Ort – sehen Sie – die Karte ist ganz schwarz. Nun nehmen Sie ein Streichholz und halten es hinter die Karte. Da werden Sie sehen – einen Herrn und eine Dame – na, ich will weiter nichts sagen. Alles lacht! Der größte Meßschlager!« Und er begann seine Karten weiter zu verkaufen.

»Hab ick doch jemacht!« rief der Käufer dazwischen.

»Da haben Sie wohl das Streichholz nicht angebrannt?« frug der Verkäufer mit unschuldiger Miene.

»Nu warte man, Freundchen – jetzt werd ick mal’n Schutzmann holen«, drohte der andere erbost.

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Wie er sich zum Gehen wandte und vom Schutzmannholen sprach, rief ihm der Kartenverkäufer nach: »Ach, du denkst wohl, weil du aus Berlin bist, kannst du die Leite uff der Leipziger Messe alleene anschmiern? Siehste – jetzt hammer dich ooch mal angeschmiert.«

Das Publikum war lächelnd diesem Zwist gefolgt und amüsierte sich nicht zuletzt über die Entrüstung, des um seinen Stammtischwitz betrogenen Meßonkels.

Aber nun brach unter allen »Angeschmierten« ein Gelächter los, wie es wohl die beiden Löwen am Naschmarkt selten gehört haben.

Ich hätte meinen ehemaligen Schulkameraden gern einmal gesprochen. Aber er war spurlos verschwunden. Denn ein Ratsdiener tauchte auf. Und den hatte er natürlich schon längst gesehen.