Von Fritz Barschdorff
Sie sah das große Eckhaus ganz erstaunt an. Wochenlang hatte das Leitergerüst gestanden, und sie hatte wenig darauf geachtet, was da eigentlich vor sich ging. Nun hatte man das Gerüst wieder abgebaut, und da mußte das Haus freilich auffallen. Es leuchtete ordentlich von weitem, so blendend weiß sah es aus. Aber was für einen Anblick boten da auf einmal die Nebenhäuser. Man sah sie gar nicht gerne an, so schwarz und schmutzig waren sie. Dazu hatte der Regen Spuren und Streifen hinterlassen und mit der Zeit hier und da das Mauerwerk abgewaschen.
Frida buchstabierte, was der Maler in seinem mit allen Farbenproben versehenen Kittel malte. »Vergnügungs –« bekam sie heraus. Weiter war die Schrift noch nicht gediehen.
Zwar hatte sie manchmal einen befrackten Kellner im Hauseingang stehen sehen. Sie erinnerte sich, daß einmal ein Mann mit einem Mädchen am Arm, die in einem fort lachte und ihren Hut immerzu gerade schob, herausgekommen war. Wenn man aber einen Weg, durch eine große lärmerfüllte Straße, ein paar Jahre lang, viermal täglich ging, so sah und hörte man vieles, über das man nicht weiter nachdachte. An der Straßenecke traf sie sich auch mit ihrer Freundin Martha und beide gingen zusammen nach Hause.
Nun, wo sich das Eckhaus in seinem neuen Kleid präsentierte, stand allabendlich ein Mann vor dem Hauseingang. Einen großen gelben Mantel, mit silbernen Schnüren und Knöpfen verziert, hatte er an und auf dem Kopfe trug er einen Dreispitz. Wie eine aufgezogene Figur stelzte er maschinenmäßig auf und ab, eingelernte Worte vor sich her schnarrend. Wenn man diesen Worten glauben wollte, mußte es im Innern des Hauses unerhört großartig zugehen. Aber was mehr auffiel, war, daß der Mann so fror. Denn es war bitter kalt, und um die Straßenecken fauchte der eisige Wind besonders gern. Ohrenwärmer hatte der Mann, und unter seiner roten Nase starrten die beiden gefrorenen spitzgezwirbelten Schnurrbartenden wagerecht in die Luft. Mit seinen Holzschuhen klapperte er taktmäßig auf den Steinfließen, und von dem, was er zwischen den Zähnen hervorstieß, hörte man die immer wiederkehrenden Worte: »eintreten – phänomenal – feenhaft –«.
Und noch etwas Neues konnte man eines Mittags beobachten.
Vor einem der Fenster des weißen Hauses blieben die Vorübergehenden eine Weile stehen. Da war zu lesen, daß eine Woche später ein Volksmaskenball[ stattfinden sollte. Die ausgestellten zehn Preise fielen den zehn schönsten Masken zu.
In einer Schachtel mit blauem Samt lag eine goldene Uhr. In einer zweiten Schachtel mit blauer Einfassung ein goldenes Armband. Andre Preise waren: eine reichverzierte Standuhr, eine Teekanne mit Tassen, ein Pokal mit Gläsern, ein Handtäschchen, an das ein Zettel geheftet war. »A la Pompadour« stand darauf. Alle Wertstücke waren schön dekoriert und die Preise der Reihenfolge nach bezeichnet.
In Fridas Augen wuchs das Staunen, als sie sich zum Gehen wandte. Einen solchen Preis konnte man bekommen, wenn man eine der schönsten Masken war? Nein – kaufen hätte sie sich davon nichts können.
Es lockte und reizte sie in den folgenden Tagen, jedesmal wenn sie an dem Fenster vorüberging. Sie sann und überlegte und war mit ihren Gedanken öfter bei der goldenen Uhr und dem Täschchen a la Pompadour. Was würde wohl die Mutter sagen, wenn sie einen solchen Preis mit nach Hause brächte? Die Mutter? Sie erschrak ein wenig. Ja, wenn sie mit der Mutter einmal wie mit einer guten Freundin hätte sprechen können. Aber war nicht ein fröhliches Wort von der Mutter eine Seltenheit? Sonntags, wenn Frida mit ihrer Mutter spazierengehen mußte, kam ja kaum eine Unterhaltung auf. Die Mutter hatte so etwas Starres, Wortkarges. Sie machten beide einen Umweg um die Stadt bis zum Friedhof. Die Mutter begoß das Grab des Vaters, und Frida saß auf einer Bank und wartete. Auf dem Rückwege gingen sie an der Fabrik vorbei, in der der Vater viele Jahre gearbeitet hatte. Und manchmal besuchte die Mutter auch den einarmigen Pförtner der Fabrik, der im Erdgeschoß wohnte. Der war ein Freund des verstorbenen Vaters gewesen, und die Mutter hörte ihn gern erzählen. Frida saß oder stand dabei, abseits und fremd. Als müsse sie immer sinnen und sinnen, was es wohl wäre, das sie ruhig und niedergedrückt beiseite zu stehen zwang.
Da war es für sie eine Erholung, wenn sie abends ein Stündchen zu ihrer Freundin Martha ging. Wenn in der kleinen Stube alle Mitglieder der Familie versammelt waren, herrschte ein Ton, der für Frida neu war. Das Lachen war hier kein seltner Gast, und da sie alle zumeist erst abends richtig Zeit hatten, sich miteinander auszusprechen, so kam oft eine Unterhaltung zustande, bei der sie sich schon auf den nächsten Abend freuten. Denn der Vater war es, der mehr die andern reden ließ. Nur hier und da warf er seine klugen und anregenden Bemerkungen dazwischen und hatte zum Schluß die Unterhaltung doch so in seinem Sinne gelenkt, daß noch eine Frage offen blieb, und er seine Lieblingsbemerkung anbringen konnte: »Darüber müßte man mal ausführlich reden.« Ja bisweilen war es vorgekommen, daß sie die Aussprache über die kleinen Fragen des Alltags hinaustrug. In dem kleinen Kreise herrschte eine sekundenlange Stille, und es war als dehnten sich plötzlich die Wände. Die Augen füllten sich mit Glanz, und in der Brust war ein Gefühl, als könne man nicht schnell genug die beengenden Kleider aufreißen, damit das Übermächtige Platz habe. Da kniff der Vater die Augen zusammen und sagte, daß sie nun ein richtiges Lied singen sollten. Alles was da lebendig geworden war, strömte dann hinein in das begeistert gesungene »richtige« Lied.
Heute saß Marthas Vater am Tisch, den buschigen Kopf in die Hände gestützt, und las in einem dicken Buch. Martha hatte die andre Hälfte des Tisches inne und zerschnitt ein großes Stück bunten Stoff. Das würde Rock und Bluse für den Maskenball, sagte sie. Schlimmstenfalls nähme sie das kleine Hütchen ihres Bruders, an dem die lange Feder wäre und die Tirolerin wäre fertig. Überhaupt wäre der Stoff so reichlich und billig, daß sie zwei Röcke und zwei Blusen herausbekäme. Viel Umstände würden nicht gemacht, denn das Kleid brauche ja bloß für einen Abend zu halten. Ob denn Frida nun mitkomme? Frida lächelte unschlüssig. Die Mutter würde – –. »Eins kann man nur machen – entweder man geht, oder man geht nicht.«
So sprach Martha in ihrer bestimmten Art. Ihr Vater hob den Kopf und sah seine Tochter mit einem langen Blick an. Er kannte sie und hatte ein starkes Vertrauen zu ihr. »Ein solches Fest müßte man im Sommer machen – im Freien – auf einer großen Wiese. Natürlich ganz anders als wie es jetzt geschähe.« Doch darüber müßte man mal ausführlich reden, setzte er hinzu und las weiter.
Als der Abend des Volksmaskenballs herankam, sagte Frida zu ihrer Mutter, die am Küchentisch saß und Brotstückchen in die Kaffeetasse tauchte, daß sie heute zu ihrer Freundin ginge und wahrscheinlich etwas später käme.
»Um zehne bist du wieder da«, sagte die Mutter, mürrisch und unbeirrt.
Martha war bereits fertig angezogen. Sie sang und tanzte in der Stube herum, während Frida ihren Rock und ihre Bluse überstreifte.
An dem uniformierten Ausrufer vorbei betraten sie den Saal. Der war nun schon zum Erdrücken voll.
Die nicht maskierten Besucher standen dichtgedrängt ringsherum um die Tanzfläche, auf der das Maskentreiben wogte. Die Musikkapelle spielte in einem fort Walzermelodien, mit einem Aufwand an Kraft, als gelte es durch Donner und Getöse die rechte Stimmung zu erzwingen. Denn unter den Masken herrschte noch ein unfrohes Schweigen. Sie hatten sich alle unter die Arme gefaßt, und so zog das bunte Gemisch im Kreise um den Saal. Hier und da fing eine schüchterne Lustigkeit schon an in den Beinen zu zappeln. Gleich den beiden Freundinnen waren Tirolerinnen in leichten billigen Kostümen vorherrschend. Ein großes stattliches Mädchen stellte die Germania dar. Sie hatte ein langschleppendes Gewand an, einen Brustpanzer und einen Helm aus blankem Blech. Auf der Helmspitze war eine kleine grüne Eiche befestigt. Dazu umklammerte die Germania mit beiden Händen den Fahnenstock einer schwarz-weiß-roten Fahne. Die Fahne mußte gar nicht so leicht sein. Denn von Zeit zu Zeit stützte sie den Fahnenstock auf die Brüstung, die die Tanzfläche von den Zuschauern abschloß, und wallte dann wieder majestätisch durch den Saal. Ein Mönch, fleißig betend, trug ihre Schleppe. Ein Handwerksbursche dagegen beunruhigte und stieß die Germania und den Mönch fortwährend mit seinem Knotenstock. Der Walzbruder trug ein Felleisen, einen zerbeulten Zylinder, im Auge hatte er ein Monokel, und aus seinen Stiefeln guckten sämtliche Zehen. Ein Schornsteinfeger ging neben einem Schusterjungen und dieser neben einem grimmigen Räuberhauptmann. Ein affektierter Stutzer hatte am Arm eine Hexe, während in seinem andern Arm ein Lumpensammler hing. Ein Bäckerjunge ging neben einem Koch, der den Löffel schwang. Dann folgte ein steifer englischer Lord, der eine dralle Bauerndirne führte. Ein sich möglichst dumm gebärdender deutscher Rekrut ging neben einem Lappländer, dessen Kostüm aus lauter Lappen bestand. Der Lappländer zog eine Spanierin mit sich. Doch hob er öfter seine Gesichtslarve und trocknete sich den Schweiß ab.
Dazwischen quirlte ein Luftschiff herum, das die Aufschrift »Zeppelin« trug. Der Träger des etwa zwei Meter langen Luftschiffs steckte mit Kopf und Oberkörper in seinem Luftfahrzeug, so daß man von ihm nur die langen Beine sah. Er mußte aber vergessen haben, eine Öffnung für seine Augen anzubringen. Denn man sah es seinen zögernden unschlüssigen Beinen an, die nur vorsichtig aufzutreten bemüht waren. Infolgedessen eckte er fortwährend an und wurde hin und her gestoßen. Ein maskierter Polizist schrieb ihn deshalb auf.
Nun kam eine Gruppe.
Zwei magere Fleischer in weißen Schürzen, mit grimmigen Gesichtern und roten Ballonmützen. In der einen Hand hatten sie ein großes Schlachtmesser, während die andre Hand ein großes Schild trug. Darauf stand gedruckt: Zur Linderung der Fleischnot empfehlen wir Katze, Pfund 35 Pfg., Pferd, 45 Pfg., Hund, 45 Pfg. Der eine Fleischer hatte auf seinem Rücken einen Vogelkäfig befestigt. Darin hing ein Hering in der Schwebe. Und darunter war zu lesen:
Dänisches Fleisch ist nicht zu teuer für den Tisch,Doch nicht so billig wie dieser Fisch.
Der zweite Fleischer trug an seiner Brust einen prächtigen Pferdefuß, verziert mit bunten Schleifchen, wie sie manchmal die Würste in den Fleischerläden aufweisen. Auch darunter standen einige ergänzende Worte. »Laut Urteil des berühmten Herrn von Schorlemer sehr nahrhaft.«
Langsam ging der Tod am Schluß des Zuges. Die Schneide der geschulterten Sense wies rote Spritzer und Flecken auf. Ein wirkliches ausgehöhltes Knochengesicht meinte man zu sehen, so täuschend war die Gesichtslarve. Wie Knochenfinger waren die Handschuhe des Todes bemalt, und ein weißer Überhang, auf dessen Rückseite mit großen Buchstaben »Krieg« stand, bedeckte vollständig den ganzen Körper.
Wenn der Tod von dem Maskenschwarm bedrängt wurde – einige Übermütige an seinem Gewand zupften, oder ihm ein Bein stellten – ging er in die Mitte des Saales und begann vorwärtsschreitend zu mähen.
Alle gingen sie ihm dann aus dem Wege und flüchteten vor seiner Sense.
Und sie lachten dabei. Die hohe Obrigkeit notierte ihn darauf hin auch.
Frida und Martha gaben das Umherziehen für eine Weile auf, stellten sich an die Brüstung des Saales und ließen den Zug an sich vorbeifluten. Der überladen dekorierte Saal, die krachende Tanzmusik und die heiße tabakerfüllte Luft ließen ihr Frohgefühl allmählich abstumpfen.
Nun trat ein Mann, dem man ansah, daß er Gehrock und weiße Handschuhe nicht oft trug, in die Mitte des Saales und hielt eine kurze Ansprache an das Maskenvolk. Ein mit den zehn Preisen beladener Tisch wurde hereingetragen, und nun ging die Verteilung der Preise an diejenigen Masken vor sich, die nach Ansicht der Preisrichter die schönsten waren. Hunderte von Augen verfolgten diesen Vorgang, und die Preisrichter mußten mit ihrem jeweiligen Spruch warten, bis der lebhafte Meinungsaustausch wieder zur Ruhe gekommen war.
Auch der Tod war unter den Prämiierten.
Aber das Luftschiff meldete sich nicht, als man den sechsten Preis ausrief. Quer vor der Musikbühne lag ein seltsames Wesen. An den krampfhaft schlenkernden Beinen sah man, daß der Luftschiffer seinen Oberkörper nicht aus dem Fahrzeug herausbekam. Rock und Weste schienen ihm durch seine Bemühungen unter den Armen zu sitzen, und dieser Knäuel verhinderte wohl sein Herausschlüpfen. Wie ein elektrischer Aal, der sich fest gebissen hatte, schnellte er auf dem glatten Parkett entlang. So aufmerksam war man also der Preisverteilung gefolgt, daß man gar nicht bemerkt hatte, in welchen Nöten sich der Gute befand. Natürlich half man ihm nun heraus, wobei sein Luftschiff freilich teilweise in Trümmer ging. Mit gesträubten Haaren, rotem Kopf und zerrissener Kleidung nahm er seinen Preis in Empfang.
Nun begann ein allgemeiner Trubel. Als wäre ein Ameisenhaufen im Saal, so drängte, stieß und trat man sich. Denn das Drehen beim Tanzen war schwer. Die Germania hatte ihre Fahne zusammengerollt, und auf dem Tisch, an dem sie saß, stand der Helm mit der Eiche. Der Luftschiffer hatte die Haare schön gekämmt, und der Tod war wieder ein leibhaftiger Mensch geworden.
Eingepfercht zwischen vielen anderen Mädchen standen Frida und Martha am Eingang des Saales. Sie lehnten und standen, warteten und warteten auf etwas Unbestimmtes, das zu ihnen käme und die leise Verlassenheit verscheuchte, die heranschleichend sie und die vielen zu packen schien. In ihrer bescheidenen Tracht verschwanden sie unter der Menge.
Lange standen sie so.
»Komm«, sagte Frida.
Eilig schritten sie auf der kalten nächtlichen Straße vorwärts und sprachen kein Wort. Frida dachte an ihre Mutter, die wohl allerlei Schwarzes und Schreckliches folgerte, weil sie heute so lange ausblieb. Und Martha war mit ihren Gedanken bei ihrem Vater. In einem neuen Lichte erschien ihr jetzt sein: »Darüber müßte man mal ausführlich reden.« Nicht, daß es das Reden allein tat. Aber in sich selbst grub man so weiter und tiefer, und das sprang damit auch auf andre über. In Frida mußte eine ähnliche Saite angeklungen haben; denn beim Abschied gab sie Martha die Hand und versprach ihr, am nächsten Abend bei ihr vorzusprechen.