Von Fritz Barschdorff
Ein flacher Tafelwagen, mit einem kleinen flinken Pferd bespannt, rollte durch die Straßen. Drei Männer saßen auf dem Wagen. Einer auf dem Bock und zwei an der Seite des Wagens. Dunkel waren die drei gekleidet, trugen Ballonmützen und waren von athletischem Körperbau. Die beiden zur Seite des Wagens hingen die Beine gemächlich herunter, hatten die Hand auf das Knie gestützt und schauten mit selbstsicherer Ruhe auf das bewegliche Treiben der Straße.
Inmitten der Stadt, vor einem altertümlichen Hause, hielt der Wagen.
Der breite Torweg mündet in einen langen Hof. An den obersten Stockwerken, dicht unter dem Dach, sieht man Flaschenzüge hängen. Eine Anzahl Treppenaufgänge, die alphabetisch bezeichnet sind, führen ins Innere des Hauses. Rissig und vom Wetter gedunkelt lehnt in einer Ecke des Hofs ein früherer Schmuck des Hauses, der steinerne Oberkörper einer Frauenfigur. Abgebrochene Schnörkel und Verzierungen liegen daneben. An den meisten der zahlreichen Fenster hängen Firmenschilder. Diese bunten Standarten erzählen von Städten und Ländern und dem überall wohnenden Fleiß, der nun hier sein Lager, seinen Stapelplatz hat. Sie erzählen aber auch von den vielen Räumen, die in einem solchen alten Hause sein müssen, von kleinen niedrigen Stuben, von nüchternen kahlen Wänden, von Wänden mit dicken Tapeten, hinter denen der Kalk leise herunterrieselt, und von rechnenden kalkulierenden Profitmenschen und kritzelnden Federn. Auf der breiten Rampe im Hofe werden Kisten und Pakete in allen Formen und Größen auf- und abgeladen. Ein Stimmengewirr ist hier, ein fortwährendes Kommen und Gehen, ein täglich mit gleicher Emsigkeit pulsierendes Leben.
Einer der Treppenaufgänge hat einen schmalen Flur, in dem ein gelbliches, von einem Drahtgeflecht umgebenes Gasflämmchen flackert. Gibt man sich Mühe, in dem ungewissen Licht etwas zu erkennen, so sieht man ganz hinten eine steile gewundene Treppe in die oberen Räume führen.
Sieht man Klavierfritz, der auf dem Bock des Wagens saß, durch den Hof gehen, so meint man, daß es ihm nicht schwer fallen könnte, eins von den Klavieren, die in Holzverschlägen verpackt sind, unter den Arm zu nehmen. Und daß er es womöglich mit genau denselben kleinen Schritten, der ihm eigenen Würde, auf den draußen haltenden Wagen legen könnte.
Alle seiner Zunft sind so kräftige Männer, und an ihrem Auftreten merkt man, daß sie eine Vergangenheit verkörpern.
Klavierfritze bewahrt noch ein altes Bild auf. Darauf sieht man so eine Art Halbkutsche, doch ohne Kutscherbock, Deichsel und Räder. Es ist eine Sänfte, in der man sich zur Zeit der kurzen Hosen und der Schnallenschuhe ins Theater, in die Kirche oder nach Hause tragen ließ. Zwei große starke Männer, in blauem Schoßrock mit gelben Knöpfen, auf dem Kopfe einen schwarzlackierten Zylinderhut, tragen die Sänfte an zwei langen Stangen. Diese stecken außerdem noch in den Ösen eines Lederriemens, der über der Schulter hängt.
Ein solcher Sänftenträger ist der Großvater des Klavierfritz gewesen. Der Enkel, der dieses Bild für so wertvoll hält, daß er es nicht an die Wand seiner Stube hängt, sondern zuunterst in einer eisernen Kassette aufbewahrt, transportiert jetzt Pianos, wie er sagt. Das tut er schon zehn Jahre, bei ein und derselben Firma.
Er geht jetzt durch die kleine Hausflur, wo das Gasflämmchen brennt, die steile Treppe hinauf ins Kontor.
Er führt den Finger an die Mütze und fragt Hans nach einer neuen Bestellung. Hans ist der älteste Lehrling, sitzt in nächster Nähe der Türe und ist ein bleicher, lang aufgeschossener Jüngling. Für Ungerechtigkeiten, Bedrückung, harte Worte, die Hans Klavierfritzen klagt, hat dieser volles Verständnis. Er hat dem Jungen schon manchmal Rückgrat und Festigkeit gegeben, den Unsichern klärenden Rat erteilt. Er pflegt dann seine große Faust auf den vor Hans aufgeschlagenen Folianten zu legen und zu sprechen: »Un wenn du weeßt, daß du im Recht bist, dann sagste, ihr kennt eich uffn Kopp stelln, ich machs ähmt nicht.« Dafür hat Hans für ihn auch eine Zuneigung, die mehr ist als Hochachtung.
Den Zettel mit der genauen Adresse, den er von Hans bekommt, steckt Fritz unter seine Mütze.
Mit seinen beiden Kameraden lädt er im Hofe ein Klavier auf den Wagen, klettert auf den Bock, macht mit der Zunge »ksss, ksss«, und das flinke Pferdchen zieht an.
Grau ist der Himmel, und ein feiner Regen rieselt herab.
Sie sind eine gute halbe Stunde gefahren, als sie vor einer Villa der Vorstadt halten.
Ein langer Möbelwagen steht bereits dort. Sechs Möbelräumer in blauen Blusen und Schürzen schleppen das Haus voller Möbel.
»Gu’n Tag ihr«, sagt Klavierfritze.
»Mahlzeit«, sagten die Sechs.
»Bringst du das Trinkgeld?« fragt einer und wischt sich den Schweiß mit der Schürze aus dem Gesicht.
»’s liegt doch schon uffn Fensterbrett«, sagte Fritz, jeden der Reihe nach betrachtend. Sein Blick fällt auf einen, der, eine schwere eichene Truhe auf dem Rücken, die Treppe hinaufkeucht.
»Is das nich Nasenfranz?«
»Ja – das isser«, ruft der im Weitergehen unter seiner Last hervor. Es klingt gereizt, wie er weiter fragt: »Hast du was dagegen?«
»I wo«, sagt Klavierfritze gemütlich. Sie sind keine guten Freunde, Nasenfranz und er. Seiner Meinung nach ist das so ein Allerweltskerl und eine unheimliche Großgusche. Man braucht ihn nur mit ein paar Worten anzutippen, so fährt er kampfbereit in die Höhe. Was konnte er nicht alles, und was war er nicht alles schon gewesen. Zuzeiten der Leipziger Messe war er groß. Da hatte er in den verschiedenen Buden schon Gastspiele gegeben, und war bereits eine bekannte Erscheinung. Er konnte Feuer fressen, Glas und Kohlen verschlucken, Zauberkunststücke waren ihm nicht fremd und als Entfesselungskünstler und Ringkämpfer war er auch schon aufgetreten. Wenn sich gar nichts Passendes fand, fungierte er als Ausschreier. Arbeitslos war er ja den größten Teil des Jahres. Zur Messe halfen ihm nur seine mannigfachen Fähigkeiten darüber hinweg. Seine Nase mußte er bei irgendeiner Gelegenheit eingebüßt haben. Sie zeigte sich nur noch als kleiner Stummel. Das Nasenbein fehlte vollständig. In den Buden, in denen er zur Messe arbeitete, schlief er auch. War dann die Messe vorbei, so stand er wieder vor dem Nichts, nächtigte, wo es gerade anging, wurde erwischt, bekam ein paar Tage Haft, und hatte er Glück und Gelegenheit, einige Zeit zu arbeiten, so langte es wenigstens zum Übernachten in einer Herberge. Und er kämpfte wie ein Ertrinkender. Nie gab er sich besiegt. Wenn er unterlag oder ihm etwas mißlang, schob er das nur einem zufälligen Zusammentreffen zu, und weil er nun einmal ein Unglücksmensch sei. Er brauchte Geschrei, Gewühl, viel Menschen und Aufregung um sich herum. Wenn er auf den Brettern einer Schaubude stand, hatte er oft ein dumpfes Gefühl des Staunens. Wie sie da unten standen und Geld ausgaben. Wie sie gafften und lachten, schmatzten und grinsten, soffen und schrien und so taten, als wären sie es gar nicht anders gewöhnt. Das da unten auch genug waren, die sich nur mit den Augen sattaßen und -tranken, sah er nicht und wollte er nicht sehen. Er sah nur den schmausenden, behaglich vorbeifließenden Menschenstrom und gab so der Wut und dem Haß immer neue Nahrung, daß er allein ein Ausgestoßener sei. Wenn er mit seiner heisergebrüllten Stimme geschrien hatte, daß sie doch ja nicht versäumen sollten, die Bude zu besuchen, konnte er mitten im Satze abbrechen. Hastig ging er schnellen Schrittes ins Innere der Bude, warf hungrig seine Augen umher, als suche er etwas, als müsse er sich auf etwas besinnen, was ihm nicht einfallen wollte, und war dann eine Zeitlang still. Rechnete nach, was er in dieser Woche verdiente, wie lange er damit auskommen könne und was wohl nachher zu unternehmen wäre, wenn Geld und Arbeit alle war.
Wie er einmal als Ringkämpfer aufgetreten war, hatte da unter den Zuschauern einer gestanden, der die andern alle überragte. Die Besitzerin der Bude hatte ihn auf den Großen aufmerksam gemacht. Nasenfranz hatte ihn auch gehörig aufgestachelt, und Klavierfritze konnte sich unmöglich so in den Augen des Publikums herabsetzen lassen, daß seine Größe, seine Stärke nur angeschwemmtes Bier wäre. Die Bude war zum Bersten gefüllt, und Klavierfritze »legte« denn den zappelnden, durch allerlei Finten und Kapriolen ausweichenden Nasenfranz auch nach wenigen Minuten regelrecht. Die Zuschauer tobten und klatschten wie rasend.
Nasenfranz vergaß so etwas nicht leicht. Es war reiner Zufall, daß er unterlegen war. Er war gestolpert und ausgerutscht, als es sich um den entscheidenden Griff handelte – und – wenn er so groß wäre wie der, dann hätte man einmal sehen sollen! Unter den Arm hätte er ihn genommen.
»Was habt ihr denn gehabt, ihr beede«, sagte einer der Möbelräumer, der neben Klavierfritzen stand und den Blick sah, den Nasenfranz seinem Gegner zuwarf. Der wartete mit seiner Antwort, bis Nasenfranz wieder vorbeikam, und sagte gemütsruhig, als striche er ein Butterbrötchen: »Ich hab’n mal gelegt.«
Nasenfranz fuhr herum: »Du Dicknischel – du vollgefressener – du mich –?!«
»Wo fehlt’s denn?« fragte der.
Nasenfranz sprang in die Höhe, stellte sich breitbeinig in Kampfstellung, ballte die Fäuste, drehte sie umeinander und fletschte die Zähne.
»Los doch – los doch – trample doch los – Elefante.« Wie ein aufs tiefste verwundetes Tier stand er da.
Klavierfritze maß ihn von oben bis unten und schüttelte den Kopf. »’s is besser, du gehst«, sagte er mit einer abfertigenden Bewegung.
Doch in dem kleinen getretenen, hin und her geworfenen Mann rauchte noch das jähe empfindliche Blut, das sich Luft schaffen mußte und nicht viel danach fragte, wer der Gegner war. Er rückte näher und schlug dem andern mit der Faust in die Seite.
Klavierfritze trat auf ihn zu, bekam ihn beim Genick zu fassen und drückte seinen Kopf nieder.
Nasenfranz gurgelte, fauchte und spuckte, aber seinen Kopf bekam er nicht in die Höhe.
Fritze ließ ihn nach einer Weile los und sagte: »Du – also nu is Schluß!«
Nasenfranz ging zum Möbelwagen, stieß einen seiner Kollegen beiseite, der eben eine Kommode anheben wollte, und schwang sie ingrimmig auf seinen Rücken. Seine Augenbrauen zogen sich finster über seiner verstümmelten Nase zusammen. Es fraß in ihm und verstärkte seinen Groll, daß er an den Dicknischel nicht herangekonnt hatte. Wenn der ihn nicht so unvermutet im Genick gepackt hätte –! Pah! Er war doch nicht etwa schwächer als der.
Der Kutscher kam mit den beiden Lastpferden und schirrte sie vor den Möbelwagen. Die Möbelräumer rafften die umherliegenden Decken zusammen, warfen sie in den Wagen und trockneten Gesicht, Kopf und Hals vom Schweiß. Dann quetschten sie sich alle sechs auf den Kutscherbock, jeder den Arm um seinen Nebenmann legend.
Der Regen hatte stärker eingesetzt und klatschte in großen Tropfen auf das Straßenpflaster.
Klavierfritze überholte mit seinem leichteren Gefährt den Möbelwagen und knallte vorbeifahrend mit der Peitsche. Er und seine beiden Genossen, die mit herunterhängenden Beinen zur Seite des Wagens saßen, hatten die Rockkragen hochgeschlagen und die Mützen tief ins Gesicht gezogen.
Nasenfranz sah lange diesen drei breiten Rücken nach. Das Sichere, Bestimmte, das von ihnen ausging, löste in ihm wieder jenes Staunen aus, in das sich ein leiser Neid mischte.
Seine Gedanken wanderten unruhig durch den Kopf. Die folgenden Nächte konnte er vielleicht wieder in dem Möbelwagen schlafen. Es war jetzt keine Umzugszeit, da würde der Wagen wohl noch eine Weile leer stehen. Dem großen Hund, der ihn neulich angesprungen hatte, konnte er vielleicht einen Knochen hinwerfen.
Sie bogen über einen Platz, auf dem dunkle, regennasse Bäume standen, in eine Straße ein, die geradeswegs in die Stadt führte. Die mächtige breite Straße dehnte und streckte sich. Der dunstige nebliche Himmel hatte sich schwer und beklemmend auf die Dächer der Häuser gelagert. Die Straßenlaternen zu beiden Seiten schwebten wie schwimmende Punkte, zwei lange Ketten bildend, in der Luft. Sie schienen sich ganz hinten zu einem Punkt zu vereinigen, der sich immer weiterschob, je näher man kam.
Die Fünf neben ihm auf dem Kutscherbock sangen ein langsames, getragenes Lied, das eintönig den niederrauschenden Regen und das Rütteln und Poltern des Wagens begleitete.
Und er schloß die Augen.