Von Fritz Barschdorff
Die Fenster, die nach dem Hof hinausgingen, öffneten sich. Frauenköpfe wurden hier und da sichtbar oder ließen das Fenster, nach einem Blick in den Hof, halboffen stehn.
Ein gefühlvolles Lied schwebte zu den Fenstern hinauf. Vogerl, stiegst in die Welt hinaus, begann es und erzählte von dem Vogel weiter, daß er seine Mutter allein zu Hause ließ.
An manchem Fenster, in mancher Küche wurde das Lied mitgesummt. Es war eine jener Melodien, die, auch wenn man ihnen den Eintritt verwehren wollte, doch durch alle Ritzen und Spalten zu schleichen wissen und schwer zu vertreiben sind. Wie Fliegen, die nicht vom Zucker lassen können und hundertmal wiederkommen, wenn man sie verscheucht.
Unten im Hofe standen zwei junge Leute, beide etwa im Anfang der zwanziger Jahre. Der lange knochige, etwas eckige Mensch mit der schwarzen Strickweste war Hermann, während der andre, der wenig kleiner und schmächtig war, Paul hieß. Paul war der Sänger, während ihn Hermann auf der Mundharmonika begleitete.
Einige in Papier gewickelte Geldstücke fielen neben sie nieder, die sie, nachdem sie geendet, aufhoben, während sie dankend den Hut lüfteten. Nach einer kleinen Weile holte auch Paul seine Mundharmonika hervor, und zu zweit spielten sie einen forschen Marsch. Dann spähten sie umher, ob etwa irgendwo noch ein Geldstück lag, zogen noch einmal grüßend den Hut und gingen.
Ihr Programm war in jedem Hof dasselbe. Sie spielten einen Marsch, dann sang Paul sein Lied, manchmal gab er auch eins zu, wenn die Geldstücke zahlreicher als sonst fielen, und zum Schluß bliesen sie wieder.
Sie waren innige Freunde und hatten sich auf der Walze kennen gelernt. Hatten sie da schon alles redlich miteinander geteilt, so taten sie es jetzt erst recht. Wenn es auch nicht viel war, was sie mit ihrem Hofsingen einnahmen, es half doch ein wenig über die arbeitslose Zeit hinweg.
Manchmal wurden sie auch barsch von einem Hof gewiesen, noch ehe sie begonnen hatten, und manchmal zogen sie es auch selbst vor, ein paar Häuser weiterzugehn, wenn ihnen die Gelegenheit nicht besonders günstig schien.
Hermann sah sich jeden Hof erst an. Da war in dem einen ein Schlosser, der an einem Schraubstock stand und ein langes Eisenrohr mit dem Hammer bearbeitete. Auch aus der Werkstatt ertönte helles und dumpfes Pochen durcheinander. In einem andern Hofe wurden Motore repariert. Mehrere Geschäftsautomobile standen umher. Die Motore wurden in Gang gesetzt und untersucht. Es war ein Rattern und Stöhnen, bald langsam, bald schneller, oder sich in puffenden Stößen überstürzend. Die damit beschäftigten Menschen schrien sich ihre Worte ins Gesicht, denn das Geräusch der Motoren übertönte sie.
Hier war kein Platz für die beiden. Sie suchten sich ruhigere Höfe aus.
Eines Nachmittags standen sie wieder vor einem Hause. Paul wartete und Hermann ging hinein, um sich ein bißchen umzuschauen. Es verging eine geraume Zeit. Hermann kam nicht wieder zum Vorschein, und Paul ging ihm deshalb nach. Er sah ihn an der Tür lehnen und wollte ihn eben fragen, was es denn gäbe, als er betroffen stehen blieb.
In der Mitte des Hofes stand ein dreirädriger Korbwagen, in dem eine schwarzgekleidete Frau saß. Ihr graues Haar war in der Mitte schnurgerade gescheitelt, und jedes Haar schien zu beiden Seiten des Scheitels peinlich genau aneinandergereiht zu sein. Ihr Gesicht war gelb und hatte einen immerfort lächelnden Ausdruck. Die ebenso gelben Hände lagen auf den Armstützen des Wagens und zupften und spielten an dem ausgefranzten Lederbezug. Ein barfüßiger Junge hielt die Querstange des Wagens gefaßt, bereit, jeden Augenblick den Wagen wieder fortzufahren.
»Die alte Liebichen«, sagte Hermann auf einen Blick Pauls.
Sie hüstelte lange und anhaltend und begann dann zu singen:
Es zog ein MatroseWohl über das Meer,Nahm Abschied vom Liebchen,Das weinte so sehr.
Da kam einst die Kunde:Das Schifflein versank,Ihr HerzallerliebsterIm Meere ertrank.
Da stand sie am Ufermit weinendem Blick;Ihr Herzallerliebsterkehrt niemals zurück.
Sie sprach mehr, als daß sie sang. Ihre Stimme war dünn, schnappte bei jedem Atemholen über, und es klang, als wollte jemand zum Scherz absichtlich falsch und gequält singen.
Sie hüstelte wieder, und ihr Gesicht nahm wie vorher das unbewegliche Lächeln an. Der Junge sammelte das Geld auf, die Alte hob mechanisch den Arm, machte eine kraftlose grüßende Bewegung, und ihr Begleiter schob nicht ohne Anstrengung den Wagen über das holprige Pflaster, zum Tor hinaus.
Als sie an den beiden vorüberkamen, sagte Hermann: »Wie geht’s denn, Mutter Liebichen?« Die Alte hob etwas den Kopf. Aber in ihrem Blick lag kein Erkennen. Sie nickte nur immer, und Hermann wußte nicht, ob das eine Antwort sein sollte, oder ob es von dem Schütteln des Wagens herrührte. Der Junge schob ohne Aufenthalt pflichteifrig den Wagen vorbei, und draußen lenkte er ihn in das nächste Haus.
Die beiden Freunde gingen nach einer andern Gegend, klapperten noch ein paar Höfe ab und schlenderten dann durch die Stadt. Hermann ging zu einem Bäcker, kaufte Brot, während Paul in einen Fleischerladen trat und Abfälle und Wurstzipfel verlangte. Er zwinkerte der drallen Verkäuferin mit einem Blick auf seine aufgezählten Pfennige zu und sagte, sie solle nicht so wenig geben, es wäre für einen Kranken. Sie verstand ihn, schnitt sich beim Geben nicht in die Finger und machte ihm ein reichliches Paket zurecht. Draußen auf der Straße traf er wieder mit Hermann zusammen. Sie gingen in die Anlagen, setzten sich auf eine Bank und aßen.
»Erzähl’ das mal von der Alten«, sagte Paul kauend.
»Nachher«, gab Hermann zurück und hieb hungrig in sein Stück Brot.
Als sie gesättigt waren, machte sich’s Paul bequem, streckte die Beine weit von sich, nahm die Zigarrette, die wie ein Bleistift hinter seinem Ohr saß, und rauchte sie. Wie einen langentbehrten Genuß stieß er den Rauch durch Mund und Nase. Hermann holte seine Mundharmonika hervor und begann zu spielen. Er war ein Künstler auf seinem Instrument. Ein zartes weiches Lied war es. Solostimme und Begleitung hielt er geschickt und vollendet auseinander. Mit einem Ausdruck und einer Hingabe spielte er, daß dabei sein ganzer Oberkörper in Bewegung geriet.
Das Lied erregte Pauls Phantasie. Es zauberte ihm Bilder vor Augen, Bilder seiner Wanderzeit, voller Farbe – voller Sonne und Luft. Diesen Winter wollte er noch hier aushalten, aber dann ging’s wieder fort. Zum Frühjahr, wenn sich der frische Märzwind aufmachte. Es trieb ihn schon jetzt inwendig. Immer weiter. Immer weiter – – –
»Die alte Liebichen« – begann Hermann, die Mundharmonika in der hohlen Hand ausklopfend, mit einem Blick auf den sinnenden Freund.
»Hast du heute den Jungen gesehn, der sie fuhr? Vor zehn Jahren, ja so lange wird es her sein, habe ich sie auch einmal von Hof zu Hof gefahren. Ja ich! Ich weiß noch, sie wohnte in einem großen Hause, das jetzt kaum wiederzuerkennen ist, vier Treppen hoch. Ich mußte sie die Treppen mit hinauf- oder heruntertragen. Denn sie war damals schon halb gelähmt und hätte eine Ewigkeit gebraucht, die Treppen zu steigen. Manchmal, wenn ich sie gegen Abend zurückbrachte und niemand oben in der Wohnung war, mußte ich unten bei ihrem Wagen warten. Wenn es lange dauerte, wurde sie unruhig, warf sich auf ihrem Sitz hin und her und sagte immer wie erstickt: ach – ach – als wollte sie die Tränen in die Augen zwingen. Aber ich habe ihre Augen nie naß gesehn. Du mußt nämlich wissen, daß ihre Leute in dem Hause richtig wie verhaßt waren, und das ließ man auch die alte Liebichen merken. Sie wohnte bei ihrem Bruder und war da nur eben so geduldet; groß mucksen durfte sie ja nicht. Er kam immer erst gegen Morgen nach Hause, ich glaube, Kellner war er, und da gab’s oft Streit. Sein übernächtiges Gesicht war bleich und eingefallen. Aber in seinem Körper mußte eine Kraft stecken, daß man staunte. Einmal kam er früh polternd und schimpfend die Treppe hinauf. Sie wollten ihn nicht hineinlassen, weil er so betrunken war. Er donnerte mit den Füßen an die Türe, daß die Hausbewohner zusammenliefen, und als es ihm zuviel wurde, hob er die Türe aus und wütete in der Wohnung wie ein Sinnloser. Zwei Söhne hatte er, die damals aus der Schule waren. Das waren dir zwei Kerle! Sie liefen auf den Händen durch die Hausflur, schlugen einen Salto in der Luft, als wäre das rein gar nichts, und hatten in allem so etwas Zügelloses, daß es ihnen nie an einer bewundernden Schar von Altersgenossen fehlte. Ich war auch nicht wenig stolz, daß ich ihnen so nahe war, da man ja in der ganzen Umgegend von den Liebichs sprach. Wie das aussah, wenn die Frau mit ihrer Tochter auf der Straße ging! Die Tochter war aufgeputzt, trug sich gern bunt und auffällig, und die Mutter ging klein und dürftig mit bloßem Kopf nebenher. Ich kann mich noch an die Grünewarenfrau erinnern, die nebenan wohnte. Sie spuckte immer aus, wenn jemand von den Liebichs vorbeikam, und sagte, das wäre ungefähr eine Gesellschaft. Und dabei bildete sie sich ja ihre Meinung auch nur nach dem Klatsch, der in ihren Laden getragen wurde. Was ich aber nicht begriff, war daß die ganze Familie beisammenblieb, so sehr sie sich auch in den Haaren lagen. Jeder ging seinen Weg, kümmerte sich um nichts, frug nicht danach, was die andern taten, und plötzlich – als habe der Friede schon zu lange zwischen ihnen geherrscht – standen sie eines Wortes wegen in Flammen und fielen übereinander her. Wie Tiere, die sich zerfleischen wollen. Und die alte Liebichen saß hilflos dabei und wartete zitternd, bis man auch sie samt ihrem Stuhl umwarf. Ich habe es einmal mit angesehn und kann es nie wieder vergessen – – – –«
Er hauchte gedankenverloren in sein Instrument und entlockte ihm langgezogene leise Töne.
Sacht dunkelte es.
Vor ihnen lag ein Stück mondübergossene Wiese, auf das die Bäume ihre Schatten streuten. Viel Blätter hatten sie im Kampf mit dem herbstlichen Wind schon lassen müssen. Nun standen sie stumm und schwarz, mit entlaubten Wipfeln da. Kein Flüstern und Rauschen war hörbar.
Weit hinten sah man die Straße, die die Anlagen umsäumte, wie in fahlen wallenden Nebel getaucht. Das matte Licht brach durch die Äste und Zweige, die mit schützenden Gebärden ängstlich dem lauten Treiben zu wehren schienen.
Jenseits dieses natürlichen Gitters huschten Gestalten und Fahrzeuge schattenhaft vorüber.
Ein dunkler Fußweg führte im Bogen eine kleine Anhöhe hinan. Dort, wo er in die Straße mündete, war das Schwarz der Sträucher durch ein großes gelbes Loch unterbrochen.
Hermann hatte den Rockkragen hochgeschlagen, den Hut ins Gesicht gezogen und die Hände in die Hosentaschen versenkt.
Auch Paul war in sich zusammengekrochen.
Halblaut flüsterte er: »Im Frühjahr – wenn der Märzwind geht – dann wandern wir – dann wandern wir –«
»Ja,« gab Hermann ebenso zurück, »im Frühjahr –!«