Von Fritz Barschdorff
Robert Ziegenbalg, genannt Merke, patschte mit hochgezogenen Hosen hinter einem Sprengwagen her. Ganz vertieft war er in seine Beschäftigung und sah vergnügt auf die vielen Wasserstrahlen, die seine nackten Beine bespülten. Getreulich machte er jede Schwenkung, jeden Bogen des Sprengwagens mit.
Da rief jemand seinen Namen.
Er wandte den Kopf und gewahrte drüben seinen Freund und Schulkameraden Richters Männe. Der kniete vor dem vergitterten Schacht eines Kellerfensters und hatte einen langen Stock, an dem ein umgebogener Löffel befestigt war, durch ein Loch des Eisengitters hinabgelassen.
Er angelte.
Mancherlei fiel in solche Kellerschächte, was ohne den Entdeckertrieb Mannes nicht wieder ans Tageslicht gekommen wäre. Eine ansehnliche Kreiselsammlung hatte er schon auf diese Weise geangelt.
Mecke ließ den Sprengwagen im Stich und kniete neben seinem Freund nieder. Hinunterspähend sah er, wie Männe sich abmühte, einen kleinen roten Gummiball auf den Löffel zu bekommen.
»Ich habe ihn schon mal ziemlich gehabt,« erzählte er dabei aufgeregt, »aber das kleene Aas kullerte wieder runter. Das ist nämlich so ein harter – die so hoch springen – weißt du.«
Endlich zog er den Stock vorsichtig in die Höhe. Mecke war ganz hingerissen. Er rutschte auf den Knien umher und schrie: »Langsam!« Je zwei Finger seiner Hände zwängte er durch die Gitterlöcher, griff den Ball sachte und drückte ihn nach oben. Sein Freund erwischte den Ball, ließ ihn ein paarmal triumphierend auf dem Straßenpflaster springen und steckte ihn dann in die Tasche. Mecke paßte genau auf. Es war die linke.
Die beiden waren unzertrennliche Freunde und waren besonders da obenan, wo es galt, die Leute zu verasten oder zu vergackeiern, wie sie in ihrer Jungensprache sagten. Sie machten eine Tüte zurecht, legten sie auf den Fußsteig und beobachteten, wer darauf hineinfiel. Bei Regenwetter legten sie einmal ein Taschenmesser auf den Fußsteig, das sie an einen Bindfaden banden. Den Faden hatten sie in einer Pfütze schwarzgemacht. Mecke lehnte an der Haustür, während Männe hinter ihm kauerte. Wollte nun ein Vorübergehender nach dem Messer greifen, so zog Männe an dem Bindfaden. Wer Humor hatte, lachte, mancher schimpfte auch über eine solche Niederträchtigkeit. Da kam zufällig die Blindschleiche dahergegangen. Das war ihr Klassenzweiter, der eine Brille trug und sein Gesicht meistens der Erde zugekehrt hielt. Er suche den gestrigen Tag, sagten sie von ihm. Die Blindschleiche machte es wie alle Scheinheiligen. Er hob das Messer auf, steckte es in die Tasche und ging weiter, als wäre nichts geschehen. Nun erst zog Männe an dem Bindfaden und riß ihm das Messer aus der Tasche. Der so Ertappte fing wie besessen an zu rennen und die beiden hinter ihm her.
»Messermauser – Messermauser«, schrien sie ihm nach.
Männe hatte sich auf das Trittbrett eines gelben Postwagens gesetzt, und Mecke trabte nebenher. In einer Seitenstraße sahen sie ein Leitergerüst stehen und vermerkten sich die Tatsache stillschweigend. Denn hier war Aussicht, bald wieder einmal Feuerwehr spielen zu können.
Diese schöne asphaltierte Straße verband sie auch mit einer herrlichen Erinnerung, einer denkwürdigen Geschichte.
Männe hatte einen großen Bruder, der in einem Fahrradgeschäft beschäftigt war. Er hatte ausgelernt, und sein Verdienst reichte weder hinten noch vorn.
Da hatte er eine Idee!
Er gab seinem jüngeren Bruder auf, er solle seine sämtlichen Schulfreunde zusammentrommeln und für den nächsten Sonntagnachmittag bestellen. Alle, alle kamen. Denn der kleine Bruder hatte von dem großen Bruder Geschichten erzählt, die vielen Jungen zum mindesten wie Märchen klangen. Der große Bruder kam denn auch mit einem zweisitzigen Fahrrad an, und wer fünf Pfennig bezahlte, durfte sich auf den Hintersitz setzen. Dafür konnte er eine bestimmte Strecke hin und zurückfahren. Radfahren brauchte man nicht zu können, denn der große Bruder saß ja vorn, lenkte und hatte das Rad in der Gewalt. Auf dem hintersten Sitze brauchte man seine Beine nur auf die Pedale zu setzen und die Drehbewegungen mitzumachen. Es war kinderleicht und sah einfach großartig aus, wenn man so dahinflitzte. Viele rannten an diesem Sonntag mehrmals nach Hause, um von den Eltern noch ein paar Fünfer zu erlangen. Es gab einen Heidenfez, und der große Bruder konnte eine hübsche Anzahl Fünfer einheimsen. Leider wurde die Freuden- und Geldquelle schnöde verstopft. Der Eigentümer des Rades, der es dem Fahrradgeschäft zur Reparatur übergeben hatte, wollte es eines Sonnabendabends abholen. Männes großer Bruder war aber schon fort. Als er es Montags früh auf Umwegen wieder an seinen Platz bugsieren wollte, gab ihm der Meister zu verstehen, daß es vielleicht andere Geschäfte gäbe, die damit einverstanden wären. In den anderen Geschäften, in denen er hierauf arbeitete, konnte er jedoch nicht so über das vorhandene Material bestimmen.
Männe sprang von dem Tritt des Postwagens. Sie waren in die Nähe des Bahnhofes gekommen und bogen nach dem Texas ab. Dort wohnten sie. Der Texas lag hinter dem Bahnhof und war eine Ansiedlung von 4 bis 5 Häusern, die sich um eine Fabrik gruppierten. Anschließend an eine Gartenkolonie, lagen längs der Straße Geräteschuppen, Lagerplätze und Niederlagen – bis man dann die paar Häuser traf. Rechts der Straße sah man durch einen Zaun in die Eisenbahnwerkstätten, sah altes ausgedientes Eisengerümpel umherliegen und Züge rangieren; hörte Züge ein- und ausfahren, Abfahrtssignale ertönen, Lokomotiven pfeifen und hatte den Rauch und Ruß des Bahnhofs in allernächster Nähe. Abends, wenn die vielen Lichter des Bahnhofs aufblitzten, war es im Texas still und dunkel, während man am Tage eine romantische Verwahrlosung erblickte. Keine drei Minuten von dem Großstadttreiben entfernt, wähnte man sich in der Dunkelheit in einer friedlichen Einöde. Und das Gesicht dem Bahnhof und der Stadt zugewandt, hörte man die vielen Geräusche wie aus weiter Ferne und hatte im Rücken die Stille und das Schweigen der Felder. Denn diese begannen, wenn man den Weg ein kleines Stück weiter verfolgte.
Die beiden gingen zunächst nach dem Trockenplatz, wo sie sich mit ihren Freunden zu treffen pflegten. Der Trockenplatz lag inmitten der Felder. Gras, Löcher, Sandhaufen und umgestürzte Schubkarren gab es hier genug. Augenblicklich war der Platz wenig mit Wäsche behangen. Man sah nur die zahlreichen Pfähle, die gabelförmig nach oben zu gingen und kreuz und quer durch Wäscheleinen verbunden waren.
Lärmendes Geschrei ihrer Freunde empfing sie. Und nach und nach erfuhren sie, was geschehen war. Der Zwerg war im Freibad gewesen, und einer von der Ulla hatte ihn ins Wasser geschubbt. Hinterrücks auch noch! Der Zwerg, der doch einer ihrer Kleinsten und Schwächsten war, ging auf dem Nachhauseweg mit hocherhobenem Kopfe mitten durch die Ulla, so daß ihn jeder sehen mußte. Da war man aber über ihn hergefallen, und, obwohl er Wunder der Tapferkeit verrichtete, wie er selbst erzählte, hatte er doch der Übermacht weichen müssen. Die Ulla müßte verschlaan werden, schrien ein Dutzend Stimmen. Die Ulla, so genannt nach der früheren Ulrichsgasse, war ebenso berühmt wie der Texas, da die Jungen dieser Straßen immerwährend mit andern Straßenvierteln in Fehde lagen. Als die Dämmerung hereinbrach, waren alle versammelt, die sich zum Texas rechneten. Rohrstöcke, Riemen, Gummischläuche, Ruten und Knüppel hatten sie in der Hand. Es sah ganz schrecklich aus. Der ganze Haufe setzte sich in Bewegung, und im Laufschritt ging es durch die Straßen. Mit aller Macht trappten sie taktmäßig auf die Erde. Denn der Lärm erhöhte ihren Mut. In der Ulla spielten einige Kinder auf der Straße. Vor den kleinen niedrigen Häusern standen oder saßen friedliche Frauen und Männer. Mit großem Geschrei zog der Texas durch die Ulla, wild mit den Stöcken drohend und fuchtelnd. Am Straßenende hielten sie an. Allgemein herrschte die Ansicht, daß die Ulla Angst habe und sich versteckt halte. Im Laufschritt ging’s durch verschiedene Straßen, und mit Siegerbewußtsein trennten sie sich. Wie hätte man die Ulla verschlaan, wenn sie sich gezeigt hätte.
Der Zwerg erkannte am nächsten Morgen auf dem Schulwege einen von der Ulla. Es kam zu einem aufgeregten Wortwechsel, und der Zwerg versicherte, daß der Texas heute abend wiederkommen wolle, die Ulla möge nur nicht wieder ausreißen.
In der Schule wirkte diese Nachricht alarmierend. Der Lehrer hatte in der Frühstückspause seine Not, die sich immer wieder bildenden Gruppen aufzulösen. Hübsch geordnet sollten sie auf dem Schulhofe im Kreise umhergehen und dabei ihr Frühstück verzehren. Das fiel ihnen besonders heute schwer. Wie Kletten hingen sie aneinander.
»Ihr sollt nachher alle warten«, zischelte es, bevor der Lehrer Ruhe gebot, von Bank zu Bank durch die ganze Klasse. Der Schulschluß wurde sehnlichst herbeigewünscht. Nur mühsam konnten sie nach dem Klingeln noch einige Augenblicke ruhig sitzen. Dann aber schossen sie von ihren Bänken in die Höhe, die Tintenfässer flogen zu, manche blieben auch offen, Schieferkästen klapperten, die Bücher wurden in den Ranzen gepfropft, und ein Füßescharren und Stimmengewirr erfüllte den Schulraum. Mit Geschrei rannten sie nach dem Trockenplatz. Dort schmissen sie ihre Ranzen hin und wollten alle auf einmal reden. Das Ergebnis war, daß sie abends nach der Ulla ziehen wollten.
Der Abend kam, und wieder rotteten sie sich zusammen. Wieder ging’s im Laufschritt durch die Straßen, und, an der Ulla angelangt, sahen sie etwa in der Mitte der Straße einen dichten Haufen stehen. Sie hielten an und beratschlagten, was zu tun wäre. Sollte man den Feind überrennen oder warten, bis er herankäme? Sie entschlossen sich nach längerem Warten, zu stürmen. Noch ein gelindes Zögern. Keiner wollte so recht den Anfang machen. Aber dann riß es alle vorwärts. Unter ohrenbetäubendem Johlen und Pfeifen rannten sie dicht zusammengedrängt dem Feind entgegen. Der teilte sich nach rechts und links und ließ die Anstürmenden hindurch. Wie später erzählt wurde, sollte die Ulla heimtückischerweise auf die letzten eingeschlagen haben. Denn plötzlich, als sie den Feind im Rücken hatten, drängten alle mit voller Wucht nach vorn, rissen die übrigen mit, und es wurde eine wilde Flucht. Auf einem freien Platze sammelte sich der spärliche Rest. Hier wurde mächtig geschimpft – auf die feige Ulla und auf die, die zuerst ausgerissen waren. Nachdem sie noch zwei fremden Jungen eine große Latte abgenommen hatten, die diese vergeblich unter dem Jackett zu verstecken suchten, machten sie sich unter fürchterlichen Drohungen gegen die Ulla auf den Heimweg. Wenn die Ulla nicht so feige auf die letzten eingehauen hätte! Wenn diese Angsthasen nicht nur Mitläufer gewesen wären, die man nicht zum Texas rechnen konnte, dann wäre es zu einer großen Schlaaerei gekommen! Ja wenn – – – –