Von Fritz Barschdorff

 Schloßbude wurde das zwischen zwei großmächtigen, frisch gemalten Häusern eingebaute kleine Haus genannt. Es war nur einen ganzen Stock hoch und hatte ein spitzes Dach. Über dem niedrigen runden Torbogen wagte sich ein schmaler, dürftiger Erker wenig hervor. Rechts und links vom Erker war je ein niedliches Fensterchen, durch dessen Scheiben weiße Gardinchen schimmerten.

Sah man sich das Häuschen länger und schärfer an, so meinte man zur Seite gestemmte Ellenbogen zu sehen; und ein Gesicht, dessen breitgedrückte Nase einem Erker nicht unähnlich sah und dessen Augen zwei Fenstern glichen, schien blitzähnlich aufgetaucht und wieder verschwunden zu sein. Was in dem Gesicht zu lesen war, hatte man eben noch im Untertauchen erfassen können: Wut, Verzweiflung und die Gewißheit, eines Tages von den beiden breitspurigen rücksichtslosen Kerlen an seinen Seiten in aller Ruhe erdrückt zu werden.

Ein schmaler, langer Gang, durch den knapp ein gewöhnlicher Handwagen ging, führte in den ziemlich geräumigen Hof. Ein geteertes Verdach zog sich ringsherum, unter dem eine große Anzahl schön dunkelblau gestrichener Handwagen stand. Einige Steinstufen führten vom Hof aus ins Haus, und vor den Stufen saß die Großmutter. Wohl hörte man sie vereinzelt »Die alte Jägern« nennen, aber sie war doch für alle und jeden ganz einfach »Die Großmutter«.

Sie saß auf einem vom Sitzen glänzend gewordenen Schemel, trug eine Hornbrille und ein schwarzes Kopftuch, das unter dem Kinn verknotet war. Trotz der Brille waren die Augen noch lebhaft, und lebhaft war auch die Zunge. Sie wußte, daß es morgen regnete, übermorgen der Regen aufhörte und den darauffolgenden Tag die Sonne bestimmt wieder schien. Ihre Arme und Beine waren da maßgebliche Propheten. Jedes Anliegen fand bei ihr einen Rat, eine Deutung. Für alle Wunden hatte sie ein geeignetes Pflaster oder eine Salbe. Und wenn gar nichts mehr half, brachte sie ein kleines grünes Gläschen und Flasche mit Kräuterschnaps. »Den mußt du mit Verstand trinken – das is was ganz Extraes. Der geht bis in die große Zehe – was!?«

Bauernfrauen, die vom Bahnhof kamen, fanden die Haustür schon zeitig offen. Sie stellten ihren Tragkorb in eine Ecke und sprachen mit der Großmutter vom Wetter, von der Ernte, vom Gemüse und von der neuen Glucke, die Staatseier lege. Die Großmutter bekam wohl auch die Eier in die Hand, wog sie prüfend und gab dann ihr Urteil ab. Sie bekam eine Messerspitze Butter zu kosten und mußte die verschiedenen Sorten Käse begutachten.

Dienstmänner, die den ganzen Tag kamen und gingen, führten sonderbare Gespräche mit ihr. Da sagte einer, er müsse gleich »de Fufzn« haben. »Zu was?« fragte die Großmutter. Ein Kleiderschrank wär’s, antwortete der Dienstmann. Da wäre »de Sechsnzwanzj« noch lange gut. »De Sechsnzwanzj«? Nee – den Krepel könne sonstwer nehmen. »De Fufzn is noch jung, un muß geschont wärn – hier is de Sechsnzwanzj, un nu mach dich ja schwach!« Damit übergab die Großmutter dem Dienstmann einen Schlüssel mit einer Blechmarke, auf der die Zahl 26 eingestanzt war. Der guckte sich die Zahl genau an – denn bei der Großmutter wußte man nie recht, ob sie scherzte oder ernsthaft war –, zog an seiner kurzen Pfeife und blieb hartnäckig stehen. Zögernd ging er dann, einige Worte zwischen den Zähnen zerkauend. Wie »Krepel«, »unterwegs zusammenbrechen« und »Angstarbeiterei« klang es. Mit dem Schlüssel suchte er im Hof unter den vielen Handwagen herum, zog einem davon eine eiserne Kette vom Rad und fuhr zum Tor hinaus. Nun wußte man’s. Die Wagen wurden vermietet, und die Großmutter war die getreue Schlüsselbewahrerin.

Wenn sie auch den Strickstrumpf hundertmal am Tage aus den Händen legen mußte, so strickte und stopfte sie immer wieder da weiter, wo sie zuletzt aufgehört hatte. Zwischendurch las sie in der Zeitung, konnte verwundert den Kopf schütteln und laut auflachen. Besonders auf bildliche Darstellungen war sie versessen. Sah sie irgendein Bild auf einem Stück Papier, das zum Einwickeln oder Verpacken benutzt worden war, so glättete sie’s und legte es auf einen bereits gesammelten Stoß. Bei Gelegenheit wird es eingehend studiert.

Nur Sonntags konnte sie an einem der zwei kleinen Puppenfenster der Vorderfront sitzen. Da guckte sie auf die Straße, und der kleinsten Begebenheit galt ihr Interesse. So lebhaft war das Interesse mitunter, daß sie, den Hals reckend, von einem Fenster zum andern ging und bedauerte, wenn der Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit ihren Blicken entschwunden war.

Sonntag für Sonntag – um eine bestimmte Zeit – kamen vorsichtige Schritte die knarrende Treppe herauf, und in die gute Stube der Großmutter trat Herr Pötsch aus Ötzsch. So lautete die scherzhafte Bezeichnung des alten Schuhmachers, der aus seiner Kleinstadt in die nahe Großstadt kam, um das frisch aufgearbeitete Schuhwerk an seine Kundschaft abzuliefern. Er hieß jedoch weder Pötsch, noch war er aus Ötzsch. Vielmehr hatte er, wohl von seinen eingewanderten wendischen Ahnen her, einen verflixten Namen, der auf »stwyski« oder »rszyk« endete. Da kam die Zunge leicht ins Stolpern. Er machte einen recht demütigen Eindruck, der Herr Pötsch aus Ötzsch. Kopfhängend ging er an den sonntäglich gekleideten Spaziergängern vorüber, wie einer, der weiß, daß es sein unabänderliches Los ist, jahraus, jahrein mit krummem Buckel zu gehen. Und wer so einen billigen, dauerhaften Stiefel lieferte und das Geld noch ratenweise erhielt, der mußte auch in der Großstadt viel Kundschaft haben.

Das hätte er vorigen Sonntag fein gedreht, erzählte er der Großmutter. Sie horchte aufmerksam zu. Wie selten kam sie aus ihrem Häuschen. Sie bot Herrn Pötsch aus Ötzsch erst einen aus dem grünen Gläschen an, der bis in die große Zehe ging. Was er also vorhin erzählen wollte, sagte der Schuhmacher, wie gesagt also – er wäre in eine Wohnung gekommen, da hätte er sich gleich an der Tür tief bücken müssen. Denn auf dem dunklen Korridor hätte Wäsche zum Trocknen gehangen, weil kein Trockenboden im Hause war. Die Frau läge stets wie halbtot auf dem Sofa, wenn er käme, weil sie den Sonntag zum Schlafen und Ausruhen brauche. Der Mann wickle Zigarren, hätte einen Stelzfuß zwischen den Speichen des Kinderwagens stecken und schiebe so den Wagen immer hin und her. Nun hätte er wochenlang kein Geld bekommen und habe zu dem Mann mit dem Stelzfuß gesagt, er solle ihm doch fünfzig Pfennig borgen, er hätte sein »Porteneechen« verloren und könne nun nicht nach Hause fahren. Die fünfzig Pfennig habe er auch bekommen. Nu – habe ich das nicht fein gedreht? – fragte Herr Pötsch aus Ötzsch die Großmutter und rieb sich die Handflächen ineinander; lächelnd über seine Schlauheit, durch solch kleine Notlügen nach und nach sein Geld zu erhalten.

Diejenigen Handwagen, deren Äußeres zerschabt und zerschunden war, frischte die Großmutter mit Ölfarbe wieder auf. Wenn sie die Lager der Räder ölte oder die Speichen mit Farbe streichen wollte, mußten ihr »die alten großen Fläze« die Wagen umkippen. Die »alten großen Fläze« waren die Jungen aus den Nachbarhäusern, die im Hofe der Großmutter heimisch waren, in dem es manchmal von Kindern beiderlei Geschlechts geradezu wimmelte. Großmutterkinder nannte man sie allesamt. Die, die sie als »Fläze« bezeichnete, empfanden diesen Namen keinesfalls als kränkend.

Wenn die Großmutter das sagte, mußte man ja eher lachen, ehe sie böse werden konnte! Ja – der wilde Max hatte einmal von ihr gesagt, daß man mit ihr ein ausgewachsenes Pferd mausen könne, sie würde sogar nebenherrennen. Und ob einer der Jungen die Haare schön gekämmt hatte, oder ob sie ihm wild auf dem Kopfe wuchsen – ob die Hose eines anderen soundsoviel große und kleine Löcher aufwies, oder einem Mädel der eine Strumpf bis auf den Schuh heruntergerutscht war – das waren Dinge, denen die Großmutter kein Gewicht beimaß.

Einmal kam ein ganz schwarzer Mann in einem ganz schwarzen Anzug in den Hof. Die bloßen Füße steckten in Lederpantoffeln, und auf dem Kopfe trug er das Zeichen der Gesellenwürde, den Zylinder. Über der Schulter hing das Kratzeisen und ein zusammengerollter schwarzer Strick, an dessen Ende eine eiserne Kugel und ein kleiner Besen hing. Das war der Kugelfang, den er in die Schornsteine hinableierte. In der Hand trug er einen kurzen, struppigen Kehrbesen. Das Weiß der Augen und das Rot der Lippen fiel besonders in dem schwarzen Gesicht auf. Die Kleinern flüchteten ängstlich, die größeren sicherten sich Rückenfreiheit und sangen:

Feuerrüpel Katzenschniepel! Kehre deine Esse aus!Kehrse nich so reene, sonst kriegst du krumme Beene.

Der schwarze Mann war das gewöhnt. Er nickte freundlich und lächelte, daß man seine weißen Zähne sah. Als er fort war, wollten die Kinder etwas vom Feuerrüpel erzählt haben. Ja früher – sagte die Großmutter – da waren die Feuerrüpel viel mehr bekannt und beliebt. Einen Tag vor dem Schornsteinkehren hatten sie in den Höfen mit singender Stimme gerufen: »Mooooorjn wird gekehrt!« Das taten sie deshalb, weil sie beim Kehren solchen Ruß4 in die Küche machten. Zu Neujahr hatten sie an jeder Wohnung geklingelt, einen Spruch hergesagt und zum neuen Jahre gratuliert. Dafür bekamen sie ein Trinkgeld in die offene Hand gedrückt.

4Scherzhafte Zurückweisung eines Querulanten: Mach keen Ruß in die Küche.

Mäuschenstill war es unter den Kindern, daß man hätte eine Katze schleichen hören. Da brach einer das Schweigen und sagte, die Großmutter solle doch noch einmal singen: »Mooooorjn wird gekehrt!« Das tat sie denn auch und mußte es noch mehrmals tun. Bis sie abbrach. Immer ein und dasselbe zu singen, mache keinen Spaß. Sie habe nämlich den Wagen hier zu streichen, sagte sie, und daher gar keine Zeit.

Nein, war das lustig, der Großmutter zuzusehen, wenn sie einen Wagen strich! Da rührte sie mit dem Pinsel lange in dem Blechtopf herum, strich den Pinsel fortwährend drehend am Rande ab, tauchte ihn wieder ein, strich ihn wieder ab, um dann langsam und gewissenhaft die Farbe aufzutragen. Dabei machte ihre Zunge, von einem Mundwinkel zum andern, jede Bewegung des Pinsels mit. »Nich lachen!« sagte sie, wenn ein unterdrücktes Kichern hörbar wurde. Ihre Worte bezweckten aber, daß alle umstehenden Jungen und Mädels erst recht laut lachten. Da drehte sich die Großmutter auf ihrem dreibeinigen Schemel herum und drohte mit dem Pinsel: »Ich wär eich gleich ä Schnurbart maln – da könnt ihr abber rumpeln, der geht nich gleich wieder weg. Nachert müßt ihr morjn so in die Schule gehn – da wärd eier Lehrer schön guckn.«

Die Großmutter malte weiter. Während sie, die Zunge im Mundwinkel, den Kopf zur Seite beugte, um zu sehen, ob sie auch keine trockenen Stellen gelassen hatte, sagte sie: »Ja – wenn ich dadran denke – damals wie ich in Kamerun war bei den Zulugaffern.« Ein jubelnder Widerspruch erhob sich. »Ha – gar nicht wahr – gar nicht wahr –.« »Doch – das war damals, als der siemjährige Krieg losfing«, sagte sie ruhig und erstaunt. Da wurde sie aber von einem der großen »Fläze«, der das letzte Jahr zur Schule ging, entlarvt. »Da lebte die Großmutter noch gar nich!« rief er. »Doch, ich war überall dabei – ich war vom Anfang an da – –.« »Wer wußte denn, daß der Krieg siem Jahre dauert, wie er anfing?« triumphierte er. Da verlor die Großmutter doch ihre Ernsthaftigkeit, und sie lachte, bis sie zu husten anfing und ihre Brille in den Farbentopf fiel. Lachende Tränen in den Augen, fischte sie die Brille mit dem Pinsel wieder aus dem Topf heraus.

Die Großmutterkinder hatten auf geschickte Weise ihren Geburtstag herausbekommen. Die kleine Trude von Bergers hatte ihre Mutter gefragt, diese Herrn Pötsch aus Ötzsch und der die Großmutter. Dann war die Erkundigung wieder ihren Weg zurückgegangen bis zu der kleinen Trude. Denn hinter einer direkten Frage hätte die Großmutter große Vorbereitungen und Feierlichkeiten gewittert. Schon um das zu verhindern, hätte sie ein ganz unmögliches, fernliegendes Datum angegeben.

Am Nachmittag dieses ausspionierten Geburtstags, der sechzigste war es, kam Richters Hermann – Männe hieß er kurz – mit einer Waschleine und begann sie kreuz und quer über den Hof zu spannen. Von der einen Bretterplanke zur andern – dann hinüber zur Teppichklopfstange und wieder zurück bis zu dem eisernen Haken über den Hackeklotz. Die Großmutter, die Buch darüber führte, daß die »14« eine Stunde und die »19« zwei Stunden vermietet worden war, sah verwundert auf. Was denn mit der Leine werden solle, fragte sie. »Ich weeß nich«, antwortete Männe. So – sagte die Großmutter – aus langer Weile spanne man doch die Leine nicht auf, da hätte sie doch auch ein Wörtchen mitzureden. Sie werde überhaupt gleich das große Küchenmesser holen und damit ein bißchen in dem Netz herumfitscheln. Ja – zuckte Männe mit den Achseln – ihm hätte einer gesagt, er solle die Leine über den Hof spannen, weiter wisse er auch nichts. Die Großmutter lachte. Da könne jeder kommen. Sie begann ihre ungelenken Buchstaben mit Hilfe der Zunge weiterzuzeichnen und dachte: entweder nimmt er die Leine wieder ab, oder es steckt etwas dahinter.

Als die Dämmerung hereinbrach, kamen die Kinder in Scharen und drängten die Großmutter ins Haus. Sie dürfe jetzt nicht herauskommen.

Alle hatten sie vom Sommerfest und besonders vom Tauchschen her ihre Papierlaternen aufbewahrt. Zwei handfeste Jungen rollten den Hackeklotz umher, Männe stieg hinauf, befestigte die Laternen an der Leine und brannte die darin steckenden Lichtstummel an. In der Mitte hingen sie ein mit Papier und Bindfaden lose umwickeltes Stück Kuchen auf.

Nun konnte die liebe gute Großmutter kommen. Helle Stimmen riefen ihren Namen. Sie trat auf die oberste Steinstufe und machte zuerst ein verdutztes Gesicht. Die bunten, eckigen, kugel- und länglichrund geformten Laternen verbreiteten ein mildes, gedämpftes Licht und warfen einen verklärenden Schein auf die Kindergesichter. Die Mädels stellten sich im Halbkreise auf und sangen:

Großemutter tralala,Ging spaziern und dachte,Sechzig Jahr sind kurz und langk,Großemutter wärd nich krank,Großemutter lachte.Tralala. Tralala.Großemutter, sachte.

Sie hatten dabei die Hände auf der Brust gefaltet, drehten die Daumen umeinander und nickten kurz mit dem Kopfe. Ließen sich im Takt ruckweise immer tiefer in die Knie sinken, bis sie bei der letzten Zeile in kauernder Stellung angelangt waren und so unbeholfene Schritte machten – ein mühsames Gehen darstellend.

Die Augen der Großmutter glänzten. »Nee nee –« sagte sie, »solche dumme Sachn – solche Dummheetn –.«

Man ließ sie aber nicht lange träumen. An den Händen wurde sie die Stufen herabgezogen, daß sie kaum folgen konnte. In der Mitte wurde haltgemacht. »Du ißt doch Kuchen gern, Großmutter, hier hängt welcher«, sagte Männe. »Wie sollchn den runterkriegn?« lachte sie. Männe zog mit seinem Laternenstock, an dessen Ende ein Drahthaken befestigt war, die Leine so tief herab, daß das Stück Kuchen dicht vor dem Munde der Großmutter baumelte. »Ihr denkt wohl, ich – mit mein zwee Zähn kann da neinbeißen –?« Sie suchte den Kuchen mit dem Mund zu haschen und sprang, so gut sie’s vermochte, in die Höhe. Da ließ aber Männe die Leine zurückschnellen, so daß das Stück Kuchen hin und her geschleudert wurde und für die kleine Großmutter nicht mehr zu erreichen war. Alle kreischten vor Vergnügen. Sie faßten sich an den Händen, umtanzten sie und sangen den Vers:

»Un die Großemutter, die is meine, kann ich huppen lassen, wenn ich will.«

Männe wiederholte das Spiel mit dem Kuchen noch mehreremal, bis der Kuchen durch das Schleudern in der Mitte auseinanderbrach und zur Erde fiel. Sofort stürzte alles, was Hände hatte, über den Kuchen her, und binnen wenigen Augenblicken war bis auf einige Krumen nichts mehr übrig. Die Großmutter war atemlos und lachend bis zu ihrem Schemel gewackelt. Dort ließ sie sich niederfallen und rief, die Hände zusammenschlagend: »Un das nennt de Welt Geburtstag!« Die Nächststehenden streichelten ihr die Wangen und umhalsten sie. »Ihr wollt wohl Schindluder spieln mit eirer Großmutter. Ich hab doch nich mehr solche jungen Beene wie ihr.« Sie lachte immer noch. »Ihr seid mir ja das reene Chor der Rache. Ja – wenn ihr nich so tolles Volk wärd – hättch eich ooch nich so gerne. Nee, ich hatte schon Angst – ihr wolltet mir was schenkn. Ich hätts fertjgebracht, un hätts nich genommen. Da muß man sovielmal dankeschön sagen.«

Neugierige drängten sich an der Haustür, schauten den nun spielenden und singenden Kindern zu und schienen zu erwarten, daß noch etwas Besonderes geschähe. Man wollte doch wissen, was eigentlich in der Schloßbude »los« sei. Dienstmänner, die mit ihren Wagen durch die Hausflur polterten, trieben mit ihrem dringlichen »Hööööö« die Neugierigen auseinander.

Aus den Nebenhäusern riefen besorgte Mütter die Namen ihrer Mädels und Jungen; diese verabschiedeten sich von der Großmutter und wünschten ihr eine recht gute Nacht nach diesem herrlichen Abend. Eine Papierlaterne nach der andern verlosch. Die Großmutter holte eine Lampe aus dem Hause, zündete sie an und stellte sie auf den Hackeklotz. Das ungewisse Licht machte den dunklen Hof noch schattenhafter und geheimnisvoller. Hier glühte eine Zigarre auf, dort stieg der Rauch einer Pfeife schwebend empor und verlor sich. Die Fenster der Nachbarhäuser waren hell erleuchtet, ein blauer Sternhimmel guckte in den Hof herab, und von der Straße her tönte wie von ferne her ein immerwährendes Rumoren. Wie ein allmählich ruhiger und tiefer werdendes Atemholen war es. Die Großmutter strickte. Dann kratzte sie sich mit der Stricknadel gedankenvoll auf dem Kopfe, und mit einem kleinen Seufzer sagte sie: »So isses.«

Nun entstand ein Räuspern – ein Wagen knarrte – es klang wie das Aufrichten eines Körpers, der sich in eine andre Lage bringt. Und eine männliche Stimme sprach wie zu sich selbst, ins Ungewisse hinein: »Das is noch’s scheenste, wemmer so ä bißchen vor sich hindösn kann – in der Dunkelheet.« Und aus einer andern Richtung kam es langsam und schwer: »Hm – wemmer das alles so mal vor sich sähe, was mer schon uff sein Buckel geschleppt hat – – – da könnte mer wohl ä kleen Eisenbahnzug vollfroppen darmit.« »Nich bloß ä kleen.« »Wennde da so dastehst, läßt den Zug an dir vorbeifahrn un willst de Wagen alle zähln – – das wärd ne tüchtge Nubbe.«

Die Großmutter hob den Kopf. »Sis ooch wahr – früh gehts los un ahmds hörts uff. Mer muß egal uffn Damme sin – een Dag wien andern, un renn un renn, daß man nur mitkommt. Sonntags, wennch an Fenstr sitze, un sehe den ganzn Spuk uff dr Straße vorbeiziehn – da mach ‘ch de Oogen zu – un da gibts ä Ruck, un ich falle ganz tief nunter, wies een manchmal geht, wemmer im Bette liegt. Da summts un rauschts in Ohrn un in Koppe in een fort, un da komm de ganzn Leite, die mer so jeden Tag sieht un hört, und ich sehe mich selber mit so drinnerumquärln – – – ‘s is komisch – ‘s is komisch.«

Der Großmutter sank der Kopf herab. Sie war eingeschlafen.

»Großmutter!«

Ein Dienstmann rüttelte sie. »’s is schon spät – morjn früh is de Nacht alle!«

»Ja«, sagte sie schlaftrunken, steckte die Nadeln in den Garnknäuel, klemmte diesen unter die Achsel, nahm die Lampe in die eine und den Schemel in die andre Hand. Ganz langsam stieg sie so die Steinstufen hinauf und ging ins Haus.