Die Höhle am Hügel
Bret Harte
Erstes Kapitel
Es war sehr dunkel, der Wind im Zunehmen begriffen. Dem letzten Stoß war ein unheimliches Brausen auf der ganzen Gebirgsseite vorhergegangen, das sich noch fortsetzte, als die Bäume in dem kleinen Thal schon ruhig geworden waren. Die Luft war von einem matten, kühlen Duft erfüllt, der aus der Tiefe des Waldes zu kommen schien. In den stillen Zwischenräumen schien die Dunkelheit zuzunehmen und fast undurchdringlich zu werden. Doch aus dem unergründlichen Raum kam der Klang von Sporenrädern, das trockene Knarren von Sattelleder und der gedämpfte Hufschlag auf dem weichen Teppich von Moos und Blättern. Dann hörte man eine Stimme, deren Klang durch die Wirklichkeit etwas Geheimnisvolles erhielt:
»Ich kann absolut nichts sehen. Wo, zum Teufel, sind wir hingeraten? Es ist schwarze Nacht rings umher.«
»Zünde ein Licht an und hüte dich, dem Pferd zu nahe zu kommen, hörst du?« sagte eine zweite Stimme.
Man hörte einen gedämpften Klang, eine Stille folgte, ein Rauschen von Papier, das schnelle Entzünden eines Streichholzes und das Aufleuchten einer flackernden Flamme. Aber sie zeigte nur die Köpfe und Schultern von drei Reitern, während die Pferde und die Unterkörper der Personen in nebelhaften Schatten gehüllt blieben. Dann erlosch die Flamme, und die Reste des Streichholzes fielen zu Boden, als eine dritte Stimme, die zwar tief, aber in ihrem Tonfall recht angenehm klang, sagte:
»Sei vorsichtig mit dem, was du fortwirfst. Du bist überhaupt in letzter Zeit sehr sorglos. Bei diesem Wind und den Blättern gleich Zunder könntest du einen großen Waldbrand entfachen.«
»Dann könnten wir wenigstens sehen wo wir sind.«
Nichtsdestoweniger bewegte er sein Pferd, dessen Hufe den letzten glimmenden Funken verlöschten. Wieder herrschte vollständige Finsternis. Dann begann der erste Sprecher wieder:
»Ich meine, wir warten hier, bis der nächste Windstoß die dunklen Wolken etwas zerreißt. Hallo, was ist das?«
In der Dunkelheit vor ihnen erschien ein schwaches Licht, das jedoch keinen Gegenstand umher zu erleuchten schien und im nächsten Augenblick wieder verschwand.
»Das ist ein Haus, ‘s ist ein Licht in einem Fenster,« sagte die zweite Stimme.
»Haus!« erwiderte der erste Sprecher. »Ein Haus mit einem Fenster fünfzehn Meilen von einem Ort! Du bist verrückt!«
Trotzdem schienen sie sich nach der Richtung hin zu bewegen, in welcher das Licht erschienen war. Eine Pause trat ein.
»Das ist nichts, als eine felsige Anhöhe, auf der kein Haus stehen kann,« sagte der erste ungeduldig.
»Halt! Da ist es wieder!«
Das Licht erschien wieder, aber in anderer Richtung, doch war es deutlicher, und die Männer erkannten beim Scheine desselben ein menschliches Gesicht. Dann erlosch es plötzlich und auch das Gesicht war ebenso plötzlich verschwunden.
»Es ist ein Fenster, und hinter demselben war etwas!« sagte der zweite Sprecher mit Nachdruck.
»Es war ein Frauengesicht!« sagte die angenehme Stimme.
»Wer es auch sei, laßt uns rufen, damit wir wissen, wo wir sind!«
Die drei Stimmen vereinten sich und riefen gemeinsam »Hallo!«, aber kein Zeichen wurde aus der Dunkelheit erwidert. Nach einem Augenblick wurde der Versuch aufs neue gemacht, mit demselben Erfolg.
»Laßt uns gehen,« sagte die erste Stimme ärgerlich, »Haus oder nicht, Mann oder Frau, wir brauchen sie nicht, und wir wollen hier nicht länger herumtanzen.«
»Still!« sagte die zweite Stimme, »Sch – hört!«
Die Blätter der nächsten Bäume fielen hörbar zu Boden. Dann kam ein erneuter Windstoß, der ihnen Zweige ins Gesicht schlug und die dünnen Zweige der Erlen auf ihre Pferde warf. Ihm folgte auf der Gebirgsseite ein Geräusch wie Wellengemurmel.
»Das ist schon etwas besser!« sagte der erste Sprecher fröhlich. »Noch ein solcher Stoß und wir sind all right. Seht! Da ist ein Licht auf dem Weg, den wir kamen.«
In der That war ein schwacher Schimmer, der heraufbrechenden Dämmerung gleich, zu bemerken, der deutlich die ungeheure Größe der Gebirgskette erkennen ließ, an dessen Fuß sie dahingeritten waren. Der sanfte Geruch wich plötzlich einem scharfen, beißenden.
»Das ist das Zündholz, das du vor zwei Stunden fortgeworfen hast,« sagte die angenehme Stimme bedächtig. »Das trockene Buschwerk auf unserm Pfad hat sich entzündet.«
»Einerlei, es hat uns gezeigt, wo wir sind, boys,« sagte der erste Sprecher mit befriedigtem Ausdruck. »Nun wissen wir Bescheid. Nun zerreißt auch der Wind die Wolken vor uns. Vorwärts nun, ‘raus aus dieser Höllenhöhle, so lange wir können.«
Es war so viel heller geworden, daß man die Reiter nun deutlich erkennen konnte. Aber das Dunkel auf der entgegengesetzten Seite lichtete sich nicht. Trotzdem schien sich das Gesicht des Reiters mit der angenehmen Stimme nach rückwärts zu wenden, denn plötzlich hielt er sein Pferd an.
»Da ist das Fenster wieder!« sagte er. »Seht – dort!«
»Laß es sein und sei ver–,« entgegnete der Führer, »vorwärts!«
Schweigend ritten sie weiter. Nach kurzer Zeit lichtete sich das dunkle Gebüsch, und der gleichmäßige dumpfe Hufschlag verkündete, daß sie sich auf geordnetem Wege befanden. Dann hörte man, wie die Hufe des ersten Pferdes plötzlich auf Steinpflaster trafen und der Führer sein Tier anhielt.
»Gott sei Dank, nun sind wir auf dem Bergrücken, der Rest ist leicht. Sagt, was ihr wollt, boys, nun sind wir all right. Man konnte ja in dem verd– Dunkel da unten keine Hand vor Augen sehen. Es war auch kein Fenster. Ihr glaubt, ihr sah’t ein Gesicht? Eh!«
»Ja, sogar ein ziemlich hübsches!« sagte die angenehme Stimme nachdenklich.
»’s war nur der Weg, der solch Ding zurechtbaute. Ihr war’t glücklich im Sehen. Unsinn! Es überläuft mich noch, wenn ich daran denke. Was seht ihr zurück wie Lots Weib? Schämt euch, damit ich nicht denke, daß ihr behext seid!«
»Ich dachte nur an das Feuer, das du angelegt hast,« erwiderte der andere ruhig. »Nun sehe ich es nicht.«
»Nun und wenn du es sähest?!«
»Ich wäre neugierig zu wissen, ob es jene Höhle erreicht.«
»Ich vermute, jene Höhle würde jedem Feuer Widerstand leisten. Ich glaube nicht, daß dort eine Höhle ist, es war vielmehr ein Stück vom teuflischen Wahngebilde, das dort uns überfiel.«
Mit dem Lachen, das diesen Worten folgte, setzten sie ihren Weg weiter fort, verfielen aber bald in jene Stille, die sich bei den Reisegefährten am Ende einer langen ermüdenden Reise zeigt. Das schwache Licht, welches sowohl aus der Tiefe unter ihnen als auch von dem wolkenbedeckten Himmel über ihnen zu kommen schien, ließ ihre Gestalten und Eigentümlichkeiten deutlicher erkennen. Der Mann, der zuerst gesprochen hatte und der der Führer zu sein schien, trug den unrasierten Bart und das fliegende Haar eines kalifornischen Pioniers und mochte der älteste sein. Der zweite Sprecher war kurz geschoren, dünn und energisch, während der dritte mit der angenehmen Stimme seiner ganzen Gestalt und seinem Aeußeren nach der jüngste zu sein schien.
Der Weg war gut geworden und hob sich von der Dunkelheit an beiden Seiten sehr gut ab, trotzdem leuchtete über das Gesicht des Führers ein Schimmer der Befriedigung, als er nach ungefähr einer Stunde aus dem Steigbügel stieg.
»Da ist das Licht der Collinson Mill! Da ist nichts Prunkendes und Besonderes, wie boys? Aber es ist ein Ort, Sir, nach dem ein Mann ruhig seine Schritte lenken kann.« Er ging in die Dunkelheit neben dem schon herabsteigenden Pfad. Nur das Auge eines Pioniers konnte das nadelspitzengroße Licht in so bedeutender Entfernung entdecken, und es war ein Zeichen seiner Führerschaft, daß die andern ihm glaubten, ohne das Licht zu sehen. »Es ist gerade zehn Uhr,« fuhr er fort, indem er eine große silberne Uhr vor seine Augen hielt, »haben eine Stunde Zeit an jenem verwünschten Ort vergeudet.«
»Wir waren auf dem Weg nicht länger als zehn Minuten, Onkel Dick Kosename für Richard (d. Uebers.).,« warf die angenehme Stimme ein.
»Schon recht, mein Sohn. Geh hinunter, wenn du Lust hast, und hole deine Hexe von Endor, ich für mein Teil geh nach der andern Seite zu Collinsons Licht. Das ist für mich.«
Der Abfall des Pfades war recht bedeutend, aber nach kalifornischer Sitte nahmen sie ihn im Galopp, denn sie waren gute Reiter und benützten ihren Verstand ebensosehr als ihre Sporen, sie ritten nach Naturgesetzen, die von den Reitern der civilisierten Völker gewöhnlich übersehen werden. Hier war weder bei den Tieren noch Reitern Unentschlossenheit und Zaudern zu bemerken, in gleicher Weise ging es über die Hindernisse, und fast schien ein Fehltritt unmöglich. Nur zuweilen, instinktiv, ging es etwas sorgfältiger, aber sie blieben beisammen; sie waren an ein ausgetrocknetes Flußbett gekommen und befanden sich vor Collinsons Mühle. Die Mühle war schon lange, mit dem verschwindenden Flusse, ihrem eigentlichen Beruf entzogen, aber es diente als ein Nachtquartier für Wanderer. Obgleich kein Zeichen auf das Gebäude hinwies, wurde es doch viel benützt: die, welche es aufsuchen wollten, kannten seine Lage, andere brauchten nicht zu kommen.
Collinson stand vor der Thür und rauchte beschaulich eine Pfeife. Als die drei heranritten, bewegte er sich vom Thürpfosten fort, kam langsam auf sie zu und sagte bedachtsam zu dem Führer: »Ich denke, daß eine Stimme für Thompson eine weggeworfene ist, ich bin also ganz Eurer Meinung;« dabei schickte er sich an, die Pferde zur Tränke zu führen. Erst vor zwölf Stunden hatte er mit ihnen gesprochen, aber noch immer beschäftigte ihn dies geführte Gespräch, denn seine Gedanken waren mit dem Inhalt vollauf beschäftigt. Sie wußten und er wußte, daß in der Zwischenzeit niemand zur Mühle gekommen war, daß nichts die eintönigen Gedanken unterbrochen hatte. Trotzdem lächelte er. »Ihr scheint es recht nötig gehabt zu haben, wieder nach hier zu kommen,« sagte er, denn er erkannte den scharfen Ritt thalwärts. Dann ging er mit den Pferden fort und betrat das Haus erst wieder, nachdem er die Tiere versorgt hatte. Seine Gäste hatten seine Anstalten nicht abgewartet. Sie hatten eine oder zwei Flaschen vom Bort hinter der Schenke genommen und befriedigten nun gerade den peinigenden Hunger durch Bisquits, die sie aus einem Fasse nahmen, und Schnitten von geräucherten Heringen, während sie die Gläser in der Hand hielten. Der einfache Wirt, der das Benehmen der drei als nicht ungewöhnlich ansah, trat in den Kreis, den sie um das Feuer gebildet hatten, entfachte die Flamme zu neuer Glut und sagte mit einem Blick in die Gesichter seiner Gäste: »Nun?«
»Nun?« erwiderte der Führer, indem er sich in seinen Stuhl zurücklegte, nachdem er vorher die Schnallen seines Gürtels gelöst hatte, während seine Augen keinen Blick vom Feuer abwandten, »nun, wir haben jeden Yard untersucht und haben nicht eine Spur von Silber entdeckt.«
»Nicht ein Atom!« fügte der kurzgeschorene Gast hinzu, ohne ein Auge zu erheben.
Alle blieben schweigsam und starrten ins Feuer, als ob dies das einzige Ding wäre, über das sie sich unterhielten. Auch Collinson schien seine Worte an das Feuer zu richten, als er sagte: »Es schien mir doch, als ob bei dem Vorsprung am langen Cañon etwas Glänzendes zu entdecken sei.«
Der Führer stieß ein kurzes Lachen aus: »Glänzend, he, glänzend! Ihr denkt, das ist ein Zeichen? Ebensogut könnt Ihr behaupten, daß Keys Kopf, weil er grau ist und silbern schimmert, Verstand und Erfahrung birgt.« Als er sprach, wandte er sich gegen den jungen Mann mit der angenehmen Stimme. Der Schein des Feuers zeigte deutlich, daß trotz der jugendlichen Gesichtszüge das Haar ganz ergraut war, während der Schnurrbart glänzend schwarze Farbe hatte. Aber der Gegenstand dieser Aufmerksamkeit war weit davon entfernt, beleidigt zu sein, vielmehr fügte er mit einem Lächeln hinzu:
»Oder daß er Silber in seiner Tasche hat.«
Wieder folgte eine Pause. Der Wind fuhr um das Haus und blies in den kurzen Schornstein.
»Nein, Gentlemen,« sagte der Führer, »so paßt mir die Sache nicht. Ich werfe nicht mehr Geld hinter die verlorne mexikanische Mine. Ich lasse mich nicht länger von dem heiligen, allwissenden Sharp hinters Licht führen, der für sich hohen Gewinn erhoffte. Ich will nichts von der feinerdachten Theorie Keys sagen, ich sage nur, was ich weiß, daß ich es nicht sah. Ich meine, es ist an der Zeit, boys, daß wir die Sache aufgeben und diese Stelle verlassen.«
Wieder folgte eine Stille am Feuer, während draußen der Sturm aufs neue heulte. Nichts schien gegen die Meinung des Führers zu sprechen, alle dachten dasselbe und ihre Gedanken waren von der vergeblichen Hoffnung erfüllt, aber sie überließen es ihrem Führer, diesen Gedanken Ausdruck zu verleihen.
»Wir haben unser Vergnügen gehabt, boys, seit wir vor einer Woche von Rawlin aufbrachen,« fuhr er fort, »wir sind auf und nieder gegangen, wir haben gehungert und gedürstet, waren eingeschneit und halb ertränkt, in Gefahr, erschossen zu werden von Straßenräubern und Pferdedieben, wurden von Maultieren getreten und mußten mit Grizzlibären spielen. Wir mußten auf unsere Kosten eine Menge Scherz ertragen, boys, aber ich meine, das Spiel ist vorüber. Morgen früh werden wir uns die Hände schütteln und jeder wird seinen Weg für sich gehen.«
»Und was gedenkst du zu thun, Onkel Dick?« sagte der glattgeschorene Gefährte.
»Ich werde mir einen Platz suchen, wo ich meine Füße ausstrecken und in meinen Stiefeln sterben kann. Civilisation ist gut genug für mich. Meinetwegen gehe ich auch dem Läuten einer Kirchenglocke nicht aus dem Wege, aber mit der Wildnis ist es vorbei.«
»Du wolltest aber doch erst in sechs Monaten zurück sein, Onkel Dick,« warf der andere ein.
Onkel Dick erwiderte nichts. Es war eine Eigentümlichkeit, daß die Gesellschaft während ihres Beisammenseins schon Gründe und Gegengründe erschöpft zu haben schien. Wieder folgte eine Pause, und alle starrten ins Feuer, als ob aus diesem Gedanken kommen sollten.
»Collinson,« fragte die angenehme Stimme plötzlich, »wer wohnt in der Höhle, ungefähr zwei Meilen von dem Pfad oberhalb des großen Cañons?«
»Keine Seele!«
»Seid Ihr sicher?«
»’Haftig, ‘s wohnt niemand zwischen mir bis Bald Top und Skinners, fünfundzwanzig Meilen.«
»Im Gegenteil, Ihr wißt nicht, wenn jemand kürzlich nach dort gekommen ist,« warf die angenehme Stimme ein.
»Doch; noch vor einer Woche durchstreifte ich die ganze Umgegend, auch die Stelle, die ihr gerade passiert habt.«
»Ist da nicht,« sagte der Führer bedächtig, »irgend ein verzaubertes Schloß, das auf der Landstraße umherläuft, seine Fenster bewegt und hübsche Prinzessinnen aus ihnen heraussehen läßt?«
Aber Collinson, der das Ganze nur als eine Falle für sich betrachtete, erhob sich vom Feuer und ging ohne ein Wort hinaus in die Küche, um das Abendessen zu bereiten. Bald erschien er wieder.
»Der Schweinetrog ist leer, ich kann euch nur geschlagenes Rindfleisch und Kartoffeln geben. Ihr seht, es ist seit einer Woche niemand aus Skinners Laden hier gewesen.«
» All right, nur schnell her damit,« sagte Onkel Dick heiter und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Ich werde bald mit Eurem gehackten Fleisch fertig sein, denn ich will morgen mit Sonnenaufgang fort.«
Wieder folgte tiefe Stille, so tief, daß die am Feuer Sitzenden bemerkten, wie Collinson mit den Vorbereitungen zum Mahle innehielt. Onkel Dick erhob sich leise und ging zur Küchenthür. Collinson saß vor dem kleinen Küchenofen, die Gabel in der Hand und starrte nachdenklich vor sich hin. Beim Geräusch der Fußtritte schrak er auf und fuhr in der Zubereitung fort. Onkel Dick kehrte zu seinem Stuhl am Feuer zurück, lehnte diesen gegen den glattrasierten Mann vorwärts und sagte mit gedämpfter Stimme: »Er war wieder dabei!«
»Was?«
»Er dachte an sein Weib!«
»An sein Weib?« fragte Key, ebenfalls mit gedämpfter Stimme.
Die Köpfe der drei Männer fuhren zusammen.
»Als Collinson diese Mühle errichtete, wollte er seine Frau aus den Staaten holen lassen,« sagte Onkel Dick in halbem Flüsterton; »ein Jahr wartete er auf sie und jeden Wagen mit Ansiedlern, der durch den Engpaß kam, hielt er an. Aber sie kam nicht – nur die Neuigkeit, daß sie tot sei.« Er hielt inne und zog seinen Stuhl noch näher heran, die Köpfe stießen fast zusammen. »Sie sagen – drüben in der Schenke,« seine Stimme war zum leisesten Flüstern herabgesunken, »daß es eine Lüge war. Daß sie mit dem Mann fortlief, der sie holen sollte, dreitausend Meilen weit und drei Wochen später mit einem andern Mann. Aber er weiß nichts davon, deshalb denkt er so oft und viel an sie.« Er schwieg, die Köpfe fuhren auseinander, denn Collinson erschien in der Thür, seine Melancholie scheinbar unverändert.
» Grub’s on, Gentlemen, erhebt euch, kommt und eßt!«
Das einfache Mahl wurde in größter Ruhe verzehrt. Nur einige eingeworfene Bemerkungen über die Ungewißheit der Annahmen unterbrachen die Pausen. Nach zehn Minuten saßen sie wieder am Feuer und rauchten ihre kleinen Pfeifen. Da nur drei Stühle vorhanden waren, stellte Collinson sich vor den Schornstein.
»Collinson,« sagte Onkel Dick nach der gewöhnlichen Pause, während er seine Pfeife aus seinen Lippen nahm, »nun, da wir Euch mit Tagesanbruch verlassen wollen, müssen wir Euch sagen, daß wir vollständig abgebrannt sind. Die letzten Wochen haben wir von Peeble Keys Kleingeld gelebt, nun ist das auch alle. Ihr müßt diese kleine Unannehmlichkeit mit in den Kauf nehmen.«
Collinsons Augenbrauen hoben sich ein wenig, sonst aber veränderte sich kein Zug seines resignierten Gesichts.
»Bin traurig euretwegen, boys,« sagte er langsam, »aber noch trauriger meinetwegen. Ihr wißt, daß ich morgen zu Skinner gehen wollte, um meinen Schweinekoben zu füllen, aber Skinner giebt mir nichts ohne Bezahlung.«
»Ihr nehmt doch nicht etwa an, daß wir Euch dies ohne weiteres glauben,« sagte Onkel Dick aufgebracht.
»Aber es ist nicht sein Fehler,« sagte Collinson ruhig, »denn auch ihm sendet man aus Sakraments keine Waren, wenn er sie nicht bezahlt, und er kann nicht bezahlen, wenn ich’s nicht thue.«
»Ah, das ist etwas anderes,« sagte Onkel Dick etwas besänftigt.
Plötzlich erhellten sich Onkel Dicks Züge. »Paßt auf! Ich kenne Skinner, ich werde dort anhalten! Nein – keinen Einwand, es liegt auf meinem Wege. Gut, Key wird zu ihm gehen und ihm sagen, daß ich das Geld diesen Hunden in Sakramento senden werde. Das wird genügen!«
Auch Collinsons Gesicht erhellte sich. Alle schienen von der Lösung der Schwierigkeit befriedigt; der Glattrasierte lachte.
»Ich will noch besondere Sicherheit geben,« sagte er, »und Collinson einen Sicht-Wechsel auf mich in San Francisco überweisen.«
»Weshalb?« fragte Collinson mit einer plötzlichen Röte auf seinen Wangen.
»Für den Fall eines Unglücks.«
»Was für ein Unglück?« warf Collinson mit einem argwöhnischen Blick auf seinem sonst so ruhigen Gesicht ein.
»Für den Fall, daß wir es vergessen sollten,« sagte der Glattrasierte mit einem Lachen.
»Und vermutet ihr, daß ich, im Fall ihr es vergessen würdet, etwas mit eurem verd – Papier zu thun haben will,« sagte Collinson, in dessen Augen eine zornige Wolke aufstieg.
»Das ist doch nur Geschäft, Colly,« warf Onkel Dick schnell ein, »so ist Jim Parker einmal, er ist Geschäftsmann durch und durch. Nehmt doch an, wir werden getötet, dann habt Ihr den Wechsel vorzuzeigen.«
»Wem?« knurrte Collinson.
»Geht zu unsern Freunden, unsern Verwandten, unsern Erben, um Euer Geld zu erhalten,« lenkte Onkel Dick ein.
»Und nehmt ihr an,« sagte Collinson mit heftig arbeitendem Atem, »daß, wenn ihr getötet werdet, meine Forderung anerkannt wird? Geht los! Ihr ermüdet mich.« Er ging zur Thür, zündete seine Pfeife an und ging in dem ausgetrockneten Flußbett auf und nieder. Onkel Dick folgte ihm. Von Zeit zu Zeit hörten die beiden andern die Töne von energischem Protest und Erklärungen, wenn die Streitenden am Fenster vorbeigingen. Peeble Key lachte, Parker zuckte die Achseln.
Gleich darauf traten die beiden wieder ins Zimmer und Onkel Dick sagte zu Parker: »Du kannst die Anweisung auf dem Schanktisch zurücklassen, wenn wir morgen gehen.« Damit war der Zwischenfall erledigt. Aber Collinson würdigte Parker während des ganzen Abends keines Wortes mehr, er stand mit seinem Rücken gegen den Schornstein gelehnt, und mehr als einmal verfiel er in tiefes Nachdenken, das seinem abwesenden Weibe galt.
Aus dieser Stille, die fast ansteckend wirkte, wurden die Gäste plötzlich durch ein fürchterliches Getöse aufgeschreckt, das vom Berge herunter zu steigen schien, gerade den Weg, den sie geritten waren. Es kam näher, nahm an Stärke zu und schien sich sogar mit dem feinen Kies im Flußbett an der Seite des Hauses zu mischen. Dann ging es vorbei in einem Windstoß, der an das Dach rüttelte und im Schornstein tobte. Wie auf Kommando sprangen die drei auf und gingen zur Thür. Als sie öffneten, starrten sie ins Dunkel, das einer Mauer gleich vor ihnen zu stehen schien. Weiter sahen sie nichts.
»Das muß irgend jemand gewesen sein!« sagte Onkel Dick, indem er sich an Collinson wandte. »Hörtet Ihr nichts?«
»Nicht das Geringste!« sagte Collinson, ohne sich vom Schornstein zu bewegen.
»Was, in Gottes Namen, war es denn?«
»Nur etwas von dem Geröll, das ihr vorhin loslöstet. Es blieb liegen und hat sich nun erst in Bewegung gesetzt. Als ich zuerst in diese Gegend kam, hörte ich dasselbe Geräusch, auch ich wollte aufspringen und nach Leuten suchen, gerade so als ihr es wolltet. Aber ich wurde ruhig und ließ es rauschen. Eines Nachts glaubte ich wieder, es würde gegen die Thür geschlagen. Aber ich gab mich nicht lange meinen Gedanken hin, es war niemand, der essen oder trinken wollte, sonst wäre er hereingekommen. Am Morgen fand ich einen Felsen, so groß als jener Kasten, vor der Thür liegen. Da wußte ich, daß ich recht gethan hatte.«
Peeble Key blieb vor der Thür stehen und sah umher.
»Da liegt ein Feuerschein am Himmel über dem großen Cañon,« sagte er, während sein Blick Onkel Dick streifte.
»Sah ihn schon vor einer Stunde!« sagte Collinson. »Es wird der Wald sein, der an der Biegung des Cañons in Flammen steht. Jemand, der zu Skinner wollte, wird die Veranlassung gewesen sein.«
Key wandte sich an Collinson, als ob er ihm etwas sagen wollte, besann sich aber und wandte sich an seine Gefährten, die sich schon in ihre wollenen Decken wickelten und an den Wänden eines harzigen, nach Sägespänen duftenden Gemaches, das früher als Meßraum für das Getreide gedient hatte, zum Schlafen niederlegten. Collinson verschwand, niemand wußte oder schien zu beobachten, wohin – und in weniger als 10 Minuten nach der Zeit, da sie von der Thür zurückgekehrt waren, schien sich Ruhe und Schlaf auf das ganze Haus herniedergesenkt zu haben. Kein Licht brannte im Hause, nur das Feuer im Vorderzimmer malte die gigantischen Schatten der drei Stühle vor demselben an die gegenüberliegende Wand. Nach einer Stunde schien es, als ob die Stühle besetzt würden, und das groteske Profil von Collinsons schlummerndem oder nachdenkendem Gesicht und seiner Figur malte sich auf den Sparren ab. Aber dies schien zu kommen und zu gehen, und die umherlagernde Dunkelheit hüllte alles ein, bis sie auch zuletzt an die glühende Asche auf dem Herde kam. Eine Stunde später – die Wildnis hatte von allem Besitz ergriffen.
Key, der leichteste Schläfer, erwachte früh, so früh, daß die Dämmerung sich nur in zwei schwachen Streifen bemerkbar machte, die aus der Dunkelheit des Zimmers aus der Ecke zu wachsen schienen, wo zwei Fenster den Ausblick auf das Thal gestatteten. Dies erinnerte ihn an seine Vision im Walde am vergangenen Abend, und er lag und wachte, bis es heller wurde und er die Figuren seiner schlafenden Gefährten entdecken konnte. Aber da war Geräusch überall – das sanfte Kratzen eines Eichhörnchens auf dem schindelbesetzten Dach, das geheimnisvolle Flattern von unsichtbaren Flügeln in den Sparren, das »Piepen« und »Quieken« von kindlichem Leben unter dem Fußboden. Dann fiel er in tieferen Schlaf und erwachte erst, als es schon heller Tag war.
Seine Gefährten waren schon fort. Sie hatten sich getrennt, wie sie zusammen gekommen waren, mit einem leichten Herzen, ohne Besinnen, kaum ohne Rückerinnerung, voller Hoffnung für die Zukunft, ohne Groll auf die Vergangenheit und das enttäuschende Ende ihres Unternehmens. Wenn sie sich wieder treffen würden, würden sie lachen und sich ihrer Gesellschaft erinnern; wenn nicht, würden sie einander ohne Schmerz, ohne Sehnsucht vergessen. Er kleidete sich eilig an und ging hinaus, um sich Gesicht und Hände in dem Zuber zu waschen, der neben der Thüre stand, aber die reine Luft und der lachende Sonnenschein berauschten ihn halb.
Die verlassene Mühle neben ihm zeigte ihm ihren ganzen Verfall. Die Sprossen der Wasserräder waren mit Gestrüpp überzogen und mit langem Gras bewachsen, eine sammetne Moosdecke hatte sich auf ihnen gebildet. In kleinen Wassertümpeln sah er die Ueberreste des ausgetrockneten Flusses, gefärbt von den Abfällen des Rotholzes. An der anderen Seite des felsigen Pfades lag das Thal in seiner ganzen Länge, gebadet in Sonnenschein und in einen weißen Nebel gehüllt. Das obere Ende des langen Cañons und der Gebirgskamm über ihm waren in Wolken gehüllt, die von Zeit zu Zeit Wasserfällen gleich auf die Gebirgsseite niederzufallen schienen. Die ganze Scenerie zog Key mächtig an, er konnte keinen Blick davon verwenden; er bemerkte deshalb kaum, daß Collinson die Anstalten zu einem Mahl traf. Bei seinem Anblick überkam Key etwas wie Scham über seinen eignen und seiner Kameraden Egoismus und erhöhte seine Teilnahme für den geduldigen Wirt. Er selbst wollte zu Skinner gehen, um für Collinson einzutreten, er wußte, daß Parker den Wechsel auf dem Schanktisch hatte liegen lassen, denn er hatte ihn gesehen, aber ein Anflug von Zartgefühl verbot ihm, davon zu sprechen. Er schüttelte warm seine Hand und galoppierte den felsigen Pfad hinauf. Als er die Hochebene erreicht hatte und der feine Nebel sich gerade teilte, sah er seine Kameraden auf verschiedenen Pfaden, er wußte, daß jeder seiner Wege ritt, um vielleicht nie wieder mit dem andern zusammen zu treffen. Seine Gedanken und Augen flogen zurück nach der Mühle unter ihm und ihrem einsamen Bewohner.
Er konnte ihn deutlich sehen, in der klaren Luft, wie er vor seiner Thür stand. Dann machte er eine Bewegung mit der Hand und etwas wie Schnee flog in die Luft. Es waren die zerrissenen Ueberreste von Parkers Wechsel, die dieser vortreffliche Gentleman der Sierras in die vier Wände flattern ließ.