DIE SONNENBLUME
Von Auguste Hauschner
»Nun hab’ ich’s aber satt.« Hubert Bach schleuderte das Ei, das er in Händen hielt, so heftig auf den Frühstückstisch, daß seine Schale weithin splitterte, »vier Tage lang setzt man uns dieselben Eier vor.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe sie bezeichnet, siehst du hier das Kreuz? Und das sogenannte Rauchfleisch ist auch schon dürr wie Holz.«
Er warf ein paar von den papierdünnen Schnitten auf den Fußboden und zertrat sie.
»Staub werde, was aus Staub geboren ist.«
Mark Crystoll war erschreckt. Er bückte sich, um die Fleischatome einzusammeln. Als er sah, daß sich Scott, Huberts langhaariger Pintscher, bereits damit befaßte, steckte er das aufgeplatzte Ei ängstlich in die Tasche.
»Wir sind doch nicht des Essens halber hier.«
»Des Verhungerns halber auch nicht. Das Land ist anderswo auch schön, man muß nicht gerade im allerschmutzigsten Wirtshaus Hollands sitzen.«
Er stand auf und reckte sich.
»Komm, Scott, wir wollen uns in Leyden beim ›Löwen‹ den Magen wieder auskurieren. Ja, sieh mich nur verächtlich an, Mark, ich bin außer Maler auch noch Mensch und kann nicht bloß von schönen Motiven leben. Apropos Motiv, ich habe ein wundervolles Nachmittagsmotiv gefunden. Sieh’s dir heute mal mit mir an.«
Da die Antwort ausblieb, pfiff er seinem Hund und ging.
Mark Crystoll atmete erleichtert auf, als er sich allein sah.
Was für ein Rohling, dieser Hubert. Das Geheimnis der Arbeit preiszugeben, es zu pöbelhafter Gemeinsamkeit anzubieten. Als ob das, was eines anderen Augen gesehen haben, noch den geringsten Wert besitzen könnte. Er nahm sein Handwerkszeug und ging den Weg, der ihm zum Leidensweg geworden war.
Auf seinen Wanderwegen war ihm vor kurzer Zeit ein vereinzelt liegendes Häuschen aufgefallen, dessen Alter eine eigenartige Innenbauart vermuten ließ.
Der Eingang war verschlossen, und im Hintergarten, dessen Zaun an eine grünversumpfte Wasserstraße grenzte, fand er keinen Menschen. Leer war auch die Sommerlaube, das Taubenhaus und der Schweinekoben. Nichts lebte in der Einsamkeit als die mächtige, vollerblühte Sonnenblume. Hoch aufgereckt, daß ihr Stern das schwarze Schindeldach erreichte.
Das satte Gelb inmitten dieser dumpfen, fahlen Farben fesselte des Malers Auge. Nach einer Stunde kehrte er zurück und war beglückt, die Insassin des Häuschens daheim zu finden.
Doch die alte Frau, die mürrisch in der kleinen Küche herumhantierte, hatte auf alle seine Worte nur ein steinernes »Nee, das tu’ ich nicht«.
Er bat. Fünf Sitzungen – nur vier – nur drei, er verdoppelte die Zahlung.
Sie blieb bei ihrem »Nee, das tu’ ich nicht«.
Als er, vom Eifer fortgerissen, näher an sie drängte, wies sie ihm die Tür.
»Und daß Sie mir nicht wiederkommen, sonst hol’ ich die Polizei, Fie Verheest läßt nicht mit sich spaßen.«
Seitdem umkreiste er den kleinen Garten. Das Verbot hatte das Verlangen aufgereizt. Was nur ein Wunsch gewesen, wurde zur Begierde.
Auch heute war das Haus verschlossen. Doch die Alte war daheim, er hörte das Klappen ihrer Holzschuhe.
Der Gedanke kam ihm: ein Fußtritt in das morsche Holz. Und so ein altes Weib ist leicht überwältigt. Erschreckt von seiner Leidenschaft lief er davon.
Noch nie hatte ihn das Wesen Huberts so abgestoßen. Das Lärmen mit dem Hund, das Fluchen über das zähe Kuhfleisch, den petroleumdurchdufteten Rosinenreis.
Als er abends heimkam und mit behaglicher Zufriedenheit seine Arbeit zeigte, einen Allerweltskanal, mit Allerweltsgeschicklichkeit breit hinuntergestrichen, fühlte Mark etwas wie Haß gegen seinen Freund.
Er selbst hatte die Stunden müßig vor sich hingebrütet. Alle seine Skizzen hatte er hervorgeholt, sie in selbstquälerischer Stimmung mißlungen und geheimnislos gefunden und an sich verzweifelt.
Sehnsucht nach dem kleinen Garten bohrte sich in seine Seele. Die Sonnenblume, zu der ihn anfangs nur Form und Farbe lockte, war ihm ein Symbol geworden. Ein Symbol der hellen Lebensfreude im grauen Einton der Alltäglichkeit.
Er sah das Leuchten ihres glühenden Gesichts, das Wiegen ihres schlanken Stengels. Ihm war, als könnte er mit diesem ungestillten Wunsch im Herzen nie mehr etwas leisten.
Es ließ ihn nicht mehr los, verfolgte ihn, während er mit Hubert den gewohnten Abendgang nach der nächsten Schenke machte; quälte ihn, während er rauchend und schweigend zwischen den rauchenden, schweigenden Bauern saß. Und auf dem Heimweg durch die stillen Wiesenstraßen besiegte es den Willen und trat als Klage auf die Lippen. Daß Mefrouw Verheests Eigensinn ihm die Arbeit töte.
»Fie Verheest, die verrückte Fie?«
»Du kennst sie?«
»Die kennt jeder hier im Dorf. Sie ist durch Unglück menschenscheu geworden und furchtbar fromm. Über die hat nur der Pfaff Gewalt. Soll ich mit ihm sprechen? Er hat mir neulich lange beim Malen zugesehen. Bei der Gelegenheit hab’ ich ihm seinen Jungen photographiert. Nun sind wir gute Freunde. Na, zerdrück’ mir nur die Finger nicht.«
Noch ein Vormittag unruhiger Erwartung, dann kam die Botschaft.
»Die Kirche hat gesiegt. Fie öffnet dir ihr Gitter.«
»Und Hubert, höre – du besuchst mich nicht, nicht wahr?«
»Fällt mir nicht ein.«
So war das Ziel erreicht. Doch trübte Crystolls Glück noch manche Wolke.
Fie nörgelte an der Erlaubnis. Länger als zwei Stunden dürfe er nicht bleiben, dann müsse sie aufs Feld und dulde keinen Fremden in ihrem Besitztum.
Und Hubert, als wollte er seinen Freundschaftsdienst wieder ungeschehen machen, war doppelt unausstehlich. Bei Tisch vergaß er sich so weit, das Fleischstück einem Jungen durch das Fenster zuzuwerfen.
»Daß ihm’s nur kein Loch in den Magen reißt.«
Crystoll entsetzte sich. Wenn die Wirtin von dieser neuen Schmach für ihre Küche erfuhr, war keine Stunde Bleibens mehr für beide Künstler.
So, bedrängt von allen Seiten, arbeitete er so hastig, als es ihm seine aufmerksame Art erlaubte. Die Zeichnung war bereits in Kohle aufgerissen, nun legte er die Farbe an.
Wieder fühlte er in allen Nerven den Reiz des Vorwurfs. Den äußerlichen; was für Töne saßen in dem alten Holzwerk, in den Mauerrissen, in dem Sumpfkraut. Und den innerlichen, unaussprechbaren. Den lachenden Triumph des Lebens in dem schwarzen Flecken Erde, durch die strahlend helle Sonne der erblühten Blume.
Die Minuten flogen. Fie mochte ihr Verbot vergessen haben über der Beschäftigung, ihr Haus zu säubern für den Sonntag. Crystoll hörte sie umhergehen, bürsten, plätschern und reiben.
Plötzlich unterbrach sie sich mit einem Aufschrei, dem ein Hundebellen folgte und der Ton von Huberts Stimme.
Übles ahnend, eilte Mark hinzu. Und sah Scott aus allen Zottelhaaren triefend, auf der reingeseiften hellen Matte stehen, Fie mit einem Besen hinter ihm. Während Hubert lachend sich bemühte, ihr zu wehren.
»Na, gebt Euch, Mutter Fie. Es tut mir selber leid. Hier habt Ihr einen Gulden, kauft Euch Seife zu einer neuen Wäsche.«
Zu Crystoll sagte er:
»Das Tier hat gerade ein Bad genommen im Kanal und hat dich im Vorbeigehen aufgespürt.«
Mark war keines Wortes mächtig. Schnell ging er in den Garten, zitternd vor der Strafe, die ihn für Scotts Verbrechen treffen würde.
Fie aber war ganz still. Von neuem fing sie an, zu waschen und zu bürsten und sah nicht auf, als Mark beim Weggehen noch zwei Gulden Schmerzensgeld auf ihre Lade legte.
Eine schwüle Stimmung lastete auf den zwei Freunden an dem arbeitslosen Sonntag. Zum erstenmal in all den Wochen ging Crystoll nicht des Abends mit zum Bier. Und als er sich am nächsten Morgen Fies Häuschen nahte, schlug ihm das Herz, als wartete verbotene Liebe hinter jenem Gitter.
Gottlob, das Haus war offen und Fies Gruß sogar vergnügter als gewöhnlich.
Der Maler lief nach hinten. Stutzte, rieb sich die Augen. Er war wohl falsch gegangen. Das war doch nicht sein Garten, dieser wüste, leere Winkel.
Auf einmal wußte er’s.
Er stürzte in die Stube.
»Wo ist die Sonnenblume?«
»Ich hab’ sie abgeschnitten. Jetzt werden mir die fremden Hunde nicht mehr das Haus versauen.«
* * * * *
Als Hubert von der Arbeit heimkam, fand er den Tisch für sich allein gedeckt.
»Mijnheer Mark Crystoll ist abgereist. Dort hat er einen Zettel hingelegt.«
Hubert las.
»Ich hatte nur die Wahl, den Hund zu töten oder unsere Freundschaft. Ich ließ den Hund am Leben.«
»Oh du!«
Ein Seltsamer stieß diese beiden Silben aus. Er hatte, auch als das Zimmer wärmer wurde, nicht seinen abgeschabten Lodenmantel abgelegt. Ich hatte denken müssen: vielleicht um die Armut zu verdecken, die er darunter birgt. »Oh du!« Er sprang Mark Crystoll an, bohrte in ihn seine Blicke. »Du Mittelmaß, du Kleinheit. Du bist noch lange nicht in den Kern der Verdammnis eingedrungen. Auf der Oberfläche krabbelst du herum. Du wirst noch lange vegetieren und Bilderbogen pinseln.« Er zog eine Rolle aus der Tasche. »Willst du den letzten Willen hören von einem, den sie zur Strecke gebracht haben, der entschlossen ist zum Tod. Hier liegt er. Wohl bekomm’s.« Er schleuderte die Blätter auf den Boden. Hinter ihm krachte die Tür ins Schloß. Ich hob die Rolle auf. »Soll ich lesen?« Sie umdrängten mich.