FROHE BOTSCHAFT

Von Auguste Hauschner

Herbstnebel! Er überspinnt das ganze Dorf, umflort die Häuser, hängt graue Tücher vor die Berge und über das Gesicht des Sees. Die Sonne müht sich vergebens, ihn zu durchdringen, er verzehrt ihre Strahlen und frißt ihren Schein, daß sie fahl am Himmel steht wie eine Tote. Da tun sich die große Turmuhr und der Wind zusammen. Die Turmuhr schleudert zwei Schläge und dann noch elf gegen die geballte graue Masse, der Wind springt hinterher und bläst aus vollen Backen. Von obenher bohrt sich die Sonne durch. Und Schall und Wind und Wärme reißen den Brodem auseinander. Noch klammert er sich am Gebirge an und raucht aus den Schluchten. Aber als der Mittag ausgeläutet wird, findet er den Himmel reinlich ausgefegt. Die letzten grauen Fetzen, zwischen Felsen eingeklemmt, haben die Kraft nicht mehr, sich festzuhalten. Sie verflattern zu Fahnen, lösen sich in Flocken auf und vergehen in den Tannenwipfeln. Nichts bleibt mehr von dem Dunst zurück als ein zarter Silberhauch, der wie ein Schleier über den sanften Umrissen der Landschaft liegt.

Alle Geräusche, die in dem dicken Nebel eingepackt gewesen waren, schallen in der aufgehellten Luft. Das Gebell der Hunde, das Räderknarren, der Schlag des Schmiedehammers und das Kreischen eines Hobels. Von dem Gespräch, das zwei Frauen über die Straße weg miteinander führen, ist jede Silbe zu verstehen. Und schon von weitem hört man das Schwatzen und Gelächter der Kinder, die, nach ihrem Mittagessen, wieder zu den frommen Schwestern gehen, um dort bewahrt zu werden, bis die Mütter aus der Arbeit kommen. Von allen Seiten trippeln sie herbei, das Seeufer entlang, vom oberen Dorf her durch die Wiesen, einzeln oder paarweis, ein sechsjähriges oft schon der Schutz für jüngere Geschwister. In der entlaubten Kastanienallee, der Kleinkinderbewahranstalt gegenüber, finden sie sich zueinander. Sie vergnügen sich damit, die verfaulten feuchten Blätter mit den Füßen aufzuwühlen, und um jede halbvertrocknete Kastanie, die sie im Laub entdecken, gibt es ein Gerauf und ein Gepuff.

Die kleinen Mädchen, gesitteter, weil sie sich schwächer fühlen als die Buben, mahnen: »Seids stad, Buben, gehts zua, Schwester Brigitte tuat g’wiß schon auf eis warten.« Sie laufen über die Landstraße hinweg hinüber zu der Schule; langsam trotten die Jungen hinterdrein.

Die Kleinkinderbewahranstalt liegt in einem alten Haus (es ist fünf Fenster breit und trotz seiner beiden Stockwerke nur niedrig), dem man es nicht ansieht, daß es nicht nur die Herberge der Ortskranken und Armen ist, sondern auch das Haftlokal für Landstreicher und Trunkenbolde. Es ist ganz in Efeu eingesponnen; eine Statue der Muttergottes, die im Giebel thront, breitet ihre Arme wie segnend über die Blumentöpfe aus, die in grünen Gitterbrettchen vor jedem Fenster stehen. Und wirklich blühen unter ihrem Schutz noch ein paar leuchtend rote Nelken und Geranien.

Einen kleinen Vorgarten, in dem die Rosenstöcke in Stroh gebunden an der Erde liegen, haben die Kinder zu durchschreiten. Dann klinken sie die Haustür auf, treten im Erdgeschoß in eine zur rechten Hand gelegene große Stube und begrüßen ihre Lehrerin mit einem gemeinschaftlich geplärrten: »Gelobt sei Jesus Christus. Küß die Hand.«

Schwester Brigitte, ganz klein und schlank in ihrem schwarzen Kleid, der grauen Haube, der weißen Stirnbinde um das rosige Gesicht, ist im Begriff, dicke Decken auf den Fußboden zu breiten. Für die Allerkleinsten, die gleich ihr Mittagsschläfchen halten sollen. Sie schilt die Kinder um die Verspätung und um die Prügelei. Beim Schelten vertiefen sich die Grübchen in ihren runden Wangen.

In den Kindern ist auch keine Furcht. Die Buben streiten in den Ecken um die erbeuteten Kastanien, die Mädel hüpfen in den engen Holzbänken herum, und wer ein Püppchen in der Tasche hat, holt es heraus. Nur die mütterlichsten unter ihnen helfen der Schwester die Knirpse, die jetzt ruhen sollen, hinzulegen und zu betten. Es sind Schreihälse darunter, Neulinge, die Heimweh haben und sich in der Fremde nicht zufrieden geben wollen. Sie schlafen schon, als ihnen noch die Tränen über die beschmutzten Bäckchen laufen.

Schwester Brigitte wendet sich jetzt um (sie ist hingekniet, um ein Dreijähriges einzuhüllen) und fragt: »Mögt ihr lieber in den Garten gehen? Es ist heute noch so wunderschönes Wetter.«

»In den Garten!« Es ist ein Jubelruf. Und schon stürmen sie den weißgetünchten Flur entlang, durch die Hintertür hinaus.

Der Garten ist eigentlich nichts als ein Stück Sandland inmitten grüner Hecken. Neben einem Holzschuppen, in dem die Schwestern allerlei Gerät bewahren, steht eine Linde mit bereits vergilbtem und zerzaustem Laub. Eine Handvoll kümmerliches Gras sprießt in einer Ecke. Den Kindern ist der Platz just um seiner Kahlheit willen lieb. Da hat’s keine Angst, den Rasen zu zertreten oder Blumen weh zu tun. Da kann man nach Herzenslust herumtollen, Sandhaufen bauen und in der Erde graben.

Die Großen holen ihre Schaufeln aus dem Schuppen, ihre Eimerchen und Karren, die Kleinen gucken ihnen zu oder klettern auf die rechts und links von einem Holztisch in den Boden eingerammten Bänke und sonnen sich wie träge kleine Tierchen. Und alle plappern zu gleicher Zeit mit schrillen, hellen Stimmchen, die keine Modulierung haben, nur auf einen Ton gestimmt sind, wie das Gezirpe junger Vögel.

Oben im zweiten Stockwerk liegt ein siecher Mann auf seinem Lager. Die Sonnenstrahlen sind bis zu seinem Bett gesprungen. Sie tänzeln um ihn herum. Förmlich an der Hand fassen sie ihn an und rufen: »Steh’ auf, komm mit uns. Schau, wie wundervoll die Welt ist.«

»Wenn ich nur könnt’!«

Mühsam richtet er sich auf. O weh! O weh! Wie schmerzt die leiseste Bewegung. Aber die Sonnenstrahlen lassen ihn nicht los. »Komm,« rufen sie, »steh’ auf.« Langsam, mit unsicheren Händen, der Schweiß läuft ihm dabei aus allen Poren, legt er Stück für Stück von seiner Kleidung an. Schwer auf den Stock gestützt, schleppt er sich bis zum Fenster. Dort fällt er auf einen Stuhl. Ein paar Augenblicke lang ist alles schwarz vor seinen Augen. Dann aber schaut er auf. Himmel Herrgott, was für eine Pracht!

Es ist vielleicht, weil er wochenlang nichts über sich gesehen hat als das schwere Federbett, und nichts um sich als die vier weißen Wände seines engen Zimmers, daß ihm dünkt, so ein Herbsttag sei noch nie dagewesen. Und er trägt doch an fünfzig Herbste auf dem Buckel.

Und Farben! Der See so blau – so blau – wie die Enzianen auf der Tapetzaner Wiese. Und so still bewegt wie die Brust von einem schönen Weibsbild, wenn es liegt und schläft. Nur ganz hinten, der Klause zu, wo zwei Segel schwimmen, licht wie ausgespreizte Möwenflügel, ist das Wasser sanft gekräuselt. Und ringsherum die Wiesenhänge, grün und saftig wie im Sommer, und die Wälder rot geflammt, gerade als ob Feuer aus den dunkeln Tannen schlagen. Obenher die Berge bis hinunter weiß beschneit, für Gletscher könnte man sie halten. Und darüber eine Luft! Es blitzt nur so in der Luft von Freude und von Lustigkeit.

Eine Gier, krankhafter als die nach Tabak und nach Schnaps, die man ihm beide vorenthält, faßt den Kranken an, diese Luft zu schmecken.

Er denkt sich: »Gehst halt hinunter« und verlacht sich gleich: »Du Tepp, du Dalk! Grad’ bis auf den Gang tät’s vielleicht noch klenken. Dann, perdautz, da liegst.« Inbrünstig betet er zu seinem Schutzpatron. »Heiliger Josef, mach’, daß eine von den Schwestern zu mir heraufkommt.« Und weiß doch, daß sein Bittgesuch vergebens ist. Weiß, Schwester Brigitte gibt jetzt im Garten Obacht auf die Kinder, derweil muß Schwester Anna nach den Kleinen schauen, die im Zimmer schlafen. Schwester Maria wäscht das Geschirr vom Mittagessen ab, und die Oberschwester Ursula verirrt sich nur selten in die Krankenzimmer.

Es gelingt ihm, sich an der Fensterklinke hochzuziehen und die Flügel aufzumachen. Eine Welle durchsonnter und mit Tannenduft durchwürzter Luft strömt zu ihm ein. Das schmeckt – o wie das schmeckt! Wenn’s ihm nur beim tiefen Atemholen nicht so in die Lunge stechen möchte.

Er denkt: »Könnt’ ich doch im Garten in der Sonne sitzen!« Er schreit hinunter: »Schwester Brigitte, Schwester Brigitte!« Das heißt, er möchte schreien, aber es kommt ihm nur ganz heiser aus der Kehle. Vielleicht steht ihm aber doch der heilige Josef bei. Oder trägt die reine Luft so weit? Schwester Brigitte blickt herauf. Sie sieht das aschfahle, verwüstete Gesicht, sie sieht die angstvoll bittende Gebärde.

Sie denkt: »Jesus, Jesus, wie kommt der sterbenskranke Josef Kirschenhauer aus dem Bett ans Fenster? Geht’s vielleicht mit ihm zu Ende? Und die Kräfte flackern im letzten Augenblick noch einmal auf? Da müßt man ihn ja schnell versehen lassen.«

Mit ruhigem, gelassenem Schritt, wie die Ordensregel ihn ihr vorschreibt, steigt sie die Stiege aufwärts. Oben streckt der Josef die Arme nach ihr aus, wie der Gläubige nach dem Bildnis des Gekreuzigten.

»Schwester Brigitte, tut mir eine Liebe, helft mir hinunter in den Garten.«

Mit Festigkeit und Sanftmut redet ihm die Schwester diesen Einfall aus.

»Das ist unmöglich, Kirschenhauer. Das schafft Ihr nicht. Und es könnt’ Euch schaden. Und denkt nur, wenn Euch was passiert, ehe …«

Sie spricht den Satz nicht bis zu Ende. Aber der Josef errät, woran sie denkt, und der Atem geht ihm aus, wie wenn ihm wer aufs Herz geschlagen hätte. Steht es so mit ihm? Aber dann erst recht …

»Schwester Brigitte,« fleht er sie an, und seine Augenlider zucken wie im Krampf, »ich möcht’ halt so gern hinunter. Es ist eh’ vielleicht das letzte Mal. Ich werd’ auch im Himmel dafür für Euch beten, und Ihr verdient Euch Gottes Lohn.«

Er sagt das, weil er nichts Dringlicheres weiß, sie nimmt es völlig ernst. Um Gotteslohn tut sie ja alles, betreut die kleinen Kinder, sorgt für die Betrunkenen und die armseligen Pfründnersleute, wäscht und füttert die Kranken. Und eine Fürbitte im Himmel, durch die sie näher an Gottes Thron zu sitzen kommt, ist ihr das wertvollste Geschenk. Sie meint: der Josef sieht auch wirklich besser aus, er hält sich wohl noch ein paar Tage.

»Ich schau’ gerad’ hinunter in den ersten Stock, ob einer von den armen Männern daheim ist.«

Niemand ist in den Armeleutezimmern, der Sonnenschein hat alle weggelockt.

»Also versuchen wir’s in Jesu Christi Namen.«

Eine Plage ist’s, den schweren Mann zu schleppen, den Gang entlang, über die zwei Stiegen. So oft der Josef keuchend innehalten muß, beredet ihn die Schwester, wieder umzukehren. Dann bettelt er, beschwört sie bei ihrer jenseitigen Seligkeit, stellt ihr vor, wie die Himmelsfreuden durch die Last der Erdentrübsal wachsen.

Endlich ist er im Garten angelangt. Die Kinder werfen ihm gemeinsam ihr plärrendes: »Gelobt sei Jesus Christus. Küß die Hand« entgegen. Dann holen sie auf einen Wink der Schwester einen alten Sessel aus dem Schuppen und rücken ihn unter die entlaubte Linde, mitten in die pralle Sonne.

Seinen Willen hat der Josef durchgesetzt. Aber merkwürdig, so wärmen, wie man es hätt’ glauben sollen, tut ihn die Sonne nicht. Ein Frösteln läuft ihm an den Gliedern hinunter. Wenn er nur besser hätte atmen können. Und das Herz schlägt ihm wie ein Hammer an die Rippen. Er beißt die Zähne aufeinander, über und über naß von der Anstrengung, der Schwester seinen Zustand zu verbergen.

Die Schwester achtet nicht auf ihn. Sie hat vollauf zu tun, die Kinder, die während des Alleinseins ganz verwildert sind, zur Räson zu bringen. Die Resi Leitgeb und der Karl Bastl haben sich im Spiel vergessen und heulen jetzt aus Angst vor Strafe (Schwester Brigitte hält sehr auf Reinlichkeit). Der Seppel Beer und der Franz Stadler sind beim Raufen hingeschlagen und beschuldigen sich gegenseitig. Die Mirzl Holzer weint, weil ihr bang’ ist und weil ihr die Nandl Stark, um sie zu trösten, den Mund mit einem Kipfel stopfen will. Und sie laufen alle durcheinander wie ein Volk aufgescheuchter Hühner und reden, singen, lachen, weinen alle auf einmal.

Mit Gelassenheit stiftet die Schwester Ruhe, trocknet die Feuchten, trennt die Kämpfer, beruhigt die Betrübten. Mit ihrer klaren Stimme sagt sie dann: »Wir werden jetzt unser Krippenspiel probieren, die ›Frohe Botschaft‹.«

Ihre wasserblauen Augen glänzen auf, als sie das sagt. Das Spiel zu Ehren der Geburt des Herrn. Das Krippenspiel, der Brennpunkt ihrer Wünsche und Gedanken, der Zusammenfluß aller ihrer irdischen Genüsse.

Andere Mädchen putzen sich, liebeln, tanzen, gehen in Theater und Konzerte, Schwester Brigitte trichtert einfältigen Bauernkindern durch Monate hindurch Verse ein, die ihnen unverständlich bleiben. Sie bückt sich bei Tages- und bei Lampenlicht über die heiligen Gewänder und überlegt: Ist das Kleid der Gottesmutter nicht schon ausgeblaßt? Sollte man’s nicht lieber wenden? Und verlangt der Josefsmantel nicht ein haltbareres Futter? Sie frischt die Königsunterkleider auf. Das scharlachrote des Kaspar kriegt blanke Borten, das weiße, das dem Melchior gehört, muß neue Flittern und Fransen haben. Der grüne Leibrock Balthasars ist gar auf der Brust zerrissen. Das Einsetzen der Flicken muß man sehr eigen machen, daß die Nähte nicht zu merken sind. Und die Flügel von den Engeln – so ordentlich hat sie sie im vergangenen Jahr doch eingepackt –, ganz grau sind sie geworden. Fleckwasser gehört darauf und Kreide. Und sie wäscht die Wämser von den Hirten aus, bürstet an den Mänteln der Trabanten. Und klopft und nagelt an den einfachen Kulissen, vergoldet den Stern, den Wegweiser nach Bethlehem, klebt frische Pappe auf den Stein, des Jesuskindleins hartes Lager.

Das schönste dann – die stillen Sonntagnachmittage!

Im gemeinschaftlichen Wohnzimmer, dicht an dem weißen Vorhang, der zwei enge klösterliche Betten deckt, steht das Harmonium. Die Oberschwester setzt sich vor die Tasten, Schwester Brigitte stellt ihr Notenpult daneben auf, nimmt ihre Violine. Sie üben miteinander das Vorspiel und die Begleitung zu der Verkündigung der Engel. Ein himmlisches Konzert ist es Brigitte. Während ihre arbeitsharte Hand den Bogen führt, spricht die Seele: »Das tu’ ich dir, Herr Jesus.« Ihr Herz – es weiß, es sündigt, ihm ziemt Demut und Entsagung – ihr Herz schwillt und pocht vor Ungeduld. Daß er schon da wäre, der große, große Augenblick. Und sie erlebt ihn im vornhinein, im Geiste …

Im Saal vom Löwengasthof sind alle Flammen des Lusters angesteckt. Öllampen hängen zwischen Tannenkränzen und Büscheln roter Beeren an den Wänden. In einer Ecke trägt ein Riesentannenbaum das Licht von vielen bunten Kerzen auf den ausgestreckten Zweigen. Und es riecht nach Wachs, nach Kiefernadeln und ein wenig nach dem Weihrauch aus dem Kessel König Balthasars. Und die Gäste sitzen auf den aufgereihten Stühlen. Ganz vorn Schwester Angelika, die Abgesandte aus dem Mutterhaus des Ordens. Daneben Seine Ehrwürden der Herr Pfarrer und der Kurat. Hinter ihnen die Ortshonoratioren und die Zugereisten. Aus allen Ortschaften rings um den See, von den landeinwärts gelegenen Gehöften, aus der Stadt sogar. Zuletzt die Bauern mit Angehörigen und Freunden. Die Mütter heben ihre Kleinsten hoch, damit sie größer sind und besser gucken können. Und die Dirndl und die Burschen drängen sich im Hintergrund. Es geht ein Summen und ein Raunen durch die Menge. Ab und zu kreischt ein von Ehrfurcht schnell ersticktes Lachen auf.

Und nun öffnet sich der Vorhang, das fromme Spiel beginnt. In diesem Augenblick sind es für Schwester Brigitte nicht mehr einfältige Bauernkinder, die in unverstandenen Versen, die sie ihnen durch Monate hindurch mühselig eingetrichtert hat, die heilige Familie spielen. Es sind ihr die Personen selbst. Die unbefleckte Jungfrau, Josef, ihr Gemahl, die Könige aus dem Morgenland, die Hirten, die Trabanten. Alle wandeln leibhaftig vor ihr auf der Erde, und was geschieht, ist Wirklichkeit.

Das Harmonium setzt mit dunkeln Akkorden ein, leise spielt die Violine. Der Gesang erhebt sich. Engel sind aus den himmlischen Gefilden abgestiegen. Sie künden das erhabene Geheimnis: Christus ist der Welt geboren. Das Gotteslamm, der süße, unschuldige Jesusknabe, das Gefäß aller Schmerzen, der Born aller Seligkeit. Der Heiland, dem sich in Liebe zu ergeben unsagbare Wonne ist. Während Schwester Brigittes arbeitsharte Hand den Bogen führt, vergeht sie innerlich in anbetender Sehnsucht. Fromme Schauer laufen über ihren Leib, aus ihren Augen stürzen Tränen. Könnte sie ihn doch umfangen, den Himmelsbräutigam, den Mund auf seine Wundenmale drücken und in ihm vergehen.

Ein Abglanz dieser vorgefühlten Wonne verklärt auch jetzt Schwester Brigittens Mienen, während sie die Vorbereitungen zum Probespiel der »Frohen Botschaft« trifft.

Sie verteilt die Kinder. »Die, wo mittun, treten auf die rechte Seite. Ihr anderen geht an den Tisch und spielt. Und ich bitt’ mir aus, daß eine Ruh’ ist.«

Sie setzt an Stelle des Steins, auf den die todmüde Maria niedersinken soll, eine Fußbank und winkt dem Nannerl Stark, das die Maria spielt.

Das Nannerl, siebenjährig, flachsblond und untersetzt, bohrt verlegen in der Nase. »Na, Nannerl,« ermahnt die Schwester, »fang’ doch an.« Und sie sagt ihr leise ein: »Wie bin ich so erschöpft und matt …«

Das Nannerl muß erst noch ein paarmal schlucken, dann fängt es an. Das Hochdeutsch klingt in seinem Mund wie eine fremde Sprache, es dehnt die Silben und gibt jeder gleichen Wert. Seine Mimik besteht darin, bald den rechten, bald den linken Arm automatisch auf die Brust zu legen und seitlich wieder auszustrecken.

»Wie bin ich so er–schöpft und matt

Vohn uhn–srem Gan–ge in die Stadt.

 (Armbewegung nach der rechten Seite.)

Wie sehnt sich Leib und See–le nuhn,

Einmal ein biß–chen aus–zu–ruhn.

 (Armbewegung nach der linken Seite.)

* * * * *

Der Josef Kirschenhauer fährt in die Höhe. Ihn friert. Im Halbschlaf tastet er um sich. Die Tuchent ist ihm sicher weggerutscht. Er murmelt: »Zenzel, hörst, ich glaub’, ich muß davon – es wird schon Tag.« Als er die Augen aufschlägt, ist er ganz verwirrt. Gerad’ war er noch im Kammerl bei seinem Schatz. Und jetzt … er kennt sich nicht gleich aus. Erst nach und nach …

Ach so! Er sitzt ja im Armenhaus, im Garten, ein schwacher, kranker Mann. Das heißt: schwach ist er wohl, kaum, daß er sich noch auf dem Sessel halten kann. Aber krank? Nein, krank ist er nimmer. Weg sind die Schmerzen und die Stiche. Nur so komisch leicht ist ihm im Kopf, wie wenn man ihm das Hirn herausgenommen hätt’. Er muß sich ordentlich besinnen: »Wie bin ich denn dahergekommen?«

Richtig, richtig. Er lacht. Ein hilfloses, verschlucktes Lachen. Das muß man sagen. Sakrisch ist er in die Höh’ gekommen, in dem Haus. Zuerst war er zu ebener Erde einlogiert, auf einer Holzpritsche, Brot und Wasser neben sich. Damals in der Nacht. Der Mordsrausch! Und hat er nicht im Gemeindeamt die Fenster eingeschlagen? Und da hat man ihn halt eingeführt. Er will wieder lachen, aber es zuckt ihm dabei um die Augen wie ein Krampf. Der Josef Kirschenhauer. Der lustigste und frischlebigste Bursch im ganzen Dorf. Mit seinem mud’lsaubern Schatz, der Zenzi. Freilich arm wie die Kirchenmäuse alle zwei. Er ein Holzknecht und sie die Sennerin auf der Gruberalm. Wie erst das Kind gekommen ist, haben sie sich beide arg hart getan.

Der Josef greift sich an die Stirn. Ganz schwindlig ist ihm von dem vielen Denken. Und die Zunge trocknet ihm im Gaumen.

»Gelt, Baberl,« sagt er zu einem kleinen Mädel, das dasteht, glotzt und an ihrem Daumen lutscht, »gelt, Baberl, du gehst mir um a Wasser?«

Die Kleine nimmt den Finger aus dem Mund.

»I heiß nicht Babi, i heiß Resi.«

Nicht Babi? Dem Josef ist doch gerad’ gewesen, wie wenn sein Töchterl vor ihm steht, die Babi. Akkurat so blonde Lockerl hat’s gehabt, und akkurat so hat’s geglotzt damals beim Abschied, wie er nach Bayern gegangen ist, um zu verdienen. »Heul’ nicht aso,« hat er der Zenz gesagt, »ich komm bald wieder.« Und war dann zwanzig Jahre weggeblieben.

Das waren Zeiten. Bis nach der Türkei hinunter hat’s ihn getrieben. War ein Geld da, hat er mal etwas der Zenz geschickt, hat’s ein andermal vertrunken und verjuxt. War kein Geld da, hat er gehungert und gefroren. Und hat vom Wanderleben doch nicht lassen können.

Der Durst – der Durst. Und die Resi kommt nicht mit dem Wasser. Der Josef beugt sich vor, er ruft: »Schwester Brigitte, Schwester Brigitte.«

Die Schwester überhört den Ruf, sie ist ganz vertieft in ihre Probe. Nein, über diese Buben. Wissen doch, jetzt kommt die Szene, wo sie als Hirten um ein Feuer sitzen sollen und sich was erzählen. Aus den Ecken muß sie sie zusammenklauben. Und wie sie ausschauen.

»Putz dir die Nase, Franzl.«

»Mathias, hast dir schon wieder nicht die Hosen richtig zugeknöpft!«

Endlich hat sie sie beisammen. Sie hocken an der Erde, jeder seinen Hirtenstab zur Seite, wärmen ihre Hände an der Fußbank, die ihnen jetzt als Reisigfeuer dient, und stieren schweigend vor sich hin.

Himmlischer Vater, wird das am Heiligabend auch so werden?

Die Schwester stößt den Franzl an. »Ah! heunt is’s aba …«

Wie aus einem Uhrwerk, das man aufzieht, schnarrt es aus dem Franz heraus:

»Ah! heunt is’s aba orndli frisch,

I bin schon kalt, als wiar a Fisch.

Is das a Kälten! – es is a Graus,

Ma halt’s schon warli nima aus«

und schnappt dann ab.

Es gibt eine Pause.

»Mathias, jetzt bist du dran,« drängt die Schwester. »So sitz di halt …«

»So sitz di halt a zum Feuer her,« schreit plötzlich der Mathias. »Schau, mi’ friert jetzt gar nimmermehr.«

Wieder gibt es eine Pause. Der Hansel muß sehr ermuntert werden, ehe er stockend flüstert:

»Dafür ist der Himmel so hell und klar

I woas koan Nacht, daß amal so war.«

Der Nazel dagegen leiert seinen Vers so hastig, daß die Silben durcheinander purzeln.

»Ja – dö Stern göb’n heunt an bsundan Schein,

Und schaun ganz eigen lusti drein.«

Mühsam, mit vielen Aufenthalten, schleppt sich das Gespräch der Hirten weiter. Über die Bedrückungen der Römer, und wie alles sehnsüchtig auf den Messias hoffe. Bis Michel, holterdipolter (wie einen mit Steinen beladenen Karren schiebt er seine lange Rede vor sich hin) von dem frommen Mann erzählt und von der zarten, wunderlieben Frau, die, Herberge suchend, auf die Straße hinausgestoßen wurden.

»Und so Leut’, dö dö Fremden und dö Arman,

Fortjag’n und sich gar nöt dabarman –

Dö stat an Herzen hab’n nur a Bröt –

Dö mag a unser Herrgott nöt.

Und d’rum, toats mas nöt übelnehma,

Drum mag da Messias a nöt kema!«

»… Ja, ja,« murmelte der Josef für sich hin. In seinem Kopf vermischt sich Spiel und Wirklichkeit. »Ja, ja.«

So hat er auch dahergesessen mit seinen Kameraden, oft ganze Nächte durch, und hat sich mit ihnen was erzählt. Manch einer war darunter, der an Gott und Teufel nicht geglaubt und an den Pfaffen kein gutes Haar gelassen hat. Und wenn die Rede auf die Weibsleute gekommen ist, da hat der Josef auch sein Stück bestanden. Stark und gesund ist er damals gewesen. Bis dann in Kroatien, wie sie den großen Wald geschlagen haben, das Unglück über ihn gekommen ist. Gerad’ neben ihm und halb auf ihn die Eiche. Ein Wunder, daß sie ihn nicht gleich totgeschlagen hat. Und dann drei Monate im Spital, und aus dem Spital heraus per Schub nach Haus. Ojemine! Das Heimkommen! Die Zenzi, ein vergrämtes Weib, das Weib von einem anderen, das Baberl in der Stadt in Dienst, die alten Freunde tot oder kalt und fremd geworden. No ja, wer kennt auch gern so einen, wie der Josef jetzt ist, ein Fallot, reif fürs Armenhaus, eine Last für die Gemeinde. Und hätt’ sich noch bedanken sollen für die Wohltat. Mit noch drei Krüppeln in einem engen Kammerl sitzen, mit dreißig Kreuzer täglich ausgehalten. Und jetzt, seit es gar so schlecht mit ihm geworden ist, sogar wie eine Herrschaft ganz allein im zweiten Stock, in einem Krankenbett. Allein – Tag und Nacht allein mit seinen Schmerzen. Oje! Oje!

In das verworrene Gedenken, aus dem sein ganzes Leben schattenhaft an ihm vorüberhuscht, zuckt wie ein greller Blitz die Erinnerung an das Wort der Schwester: »Wenn Euch was passiert – ehe …«

Die Schultern hochgezogen, die Arme an die Brust gepreßt, krümmt sich der Josef. Unwillkürlich rückt er aus dem Schatten, der schon einen Teil des Gartens deckt, in die Sonne, die bereits langsam ihre Kraft verliert, als könne er damit aus dem Todesschatten in das Sonnenlicht des Lebens flüchten.

Zu Ende? Aus? Für immer aus? Und nachher …?

Er ächzt, er biegt sich in großen Qualen hin und her. Er ruft: »Schwester Brigitte, Schwester Brigitte!«

Schwester Brigitte ist ins Haus gegangen. Sie holt die Violine und stimmt sie erst, bevor sie wiederkommt.

Der Josef hat früher oft über das Nachher nachgedacht. In den Nächten, wenn er unter einem Baum gelegen ist, auf einem Kopfpolster von Moos.

Ganz still ist es dann nach und nach um ihn geworden. Und doch lebendig. Gerad’ wie wenn die Natur atmen tät und aus dem Traum heraus ganz leise reden. Wenn dann der Mond aufgegangen ist, hat sich der Baum mit seiner Krone und mit seinen Ästen über ihm gewölbt, wie das Dach von einer Kirche, die aus Silberfiligran gesponnen ist. Und die Sterne haben wie goldene Augen durchgeschaut. Und wenn auch kein Mondschein war, ganz finster ist es nie geworden. Immer ist so ein unbestimmtes Licht von irgendwo gekommen. Bis ein leichter Wind aufgestanden ist und hat den Wald geweckt. Ganz verschlafen hat es dann gezirpt, gehuscht, getuschelt. Und immer lichter ist es in der Luft geworden, bis auf einmal der Himmel ganz in Flammen war. Wie ein rotglühender Ballon ist die Sonne aufgestiegen, und es ist ein Jubilieren angegangen um sie herum. So, hat der Josef sich gedacht, mag’s an dem Tag gewesen sein, wo Gott die Welt vollendet hat. Ihm war dann gewesen, wie wenn er das Zwitschern, Fliegen, Wehen um sich her verstehen könnt’, wie wenn er auch nichts anderes wär’ wie ein Eichkatzel, ein Specht, ein Buchenblatt. Ganz fromm ist ihm zumut gewesen. Er wär’ am liebsten hingekniet und hätt’ gebetet: »Herr Gott, ich danke dir. Ich bin aus dir herausgekommen; wenn meine Zeit da ist, werd’ ich getrost wiederum in dich hinübergehen.«

Ja, dazumal, als ein Gesunder, der noch lang’ zu leben hat. Jetzt aber … in der Bangigkeit der letzten Stunde verläßt ihn seine Zuversicht. Ein Schrecken würgt ihn – wie wird es ihm ergehen? Gibt es vielleicht doch Fegfeuer und Hölle – wird er seine Sünden büßen müssen? Das Fieber beutelt ihn, jedes Haar sträubt sich auf seinem Schädel, seine Zähne schlagen aufeinander. Krampfhaft preßt er die Finger ineinander:

»Vater unser, der du bist im Himmel, vergib uns unsere Schuld.« Und immerfort dasselbe: »Vergib uns unsere Schuld.« Immer schneller. Wie ein Feuerrad dreht sich ihm der Satz im Hirn herum. Er bäumt sich auf, er fuchtelt mit den Armen in der Luft …

*

Schwester Brigitte führt den Bogen sacht. Um die Kathi Leitgeb nicht zu übertönen, die schüchtern, in jedem Ton das Pochen ihrer Kinderangst, die Verkündigung des Engels singt:

»Hirten! Wachet auf!

Hirten! Wachet auf!

Eilt hinunter in das Tal,

Und dann schauet in den Stall;

Denn geboren ward

Dort ein Kindlein zart,

Das von Adams Sündenfall

Euch erlöset all.«

Aus rauhen Kehlen, aber mit dem Zauber, der in dem Klang von unschuldigen Stimmen liegt, antwortet der Chor der Cherubim:

»Ehre sei Gott in der Höhe!

Lieblicher Friede

Sei aller Welt!«

… Des Josefs Hände lösen sich. Sein Mund beruhigt sich in einem weichen Lächeln.

Der Baum … er liegt darunter … die Krone wölbt sich wie das Dach von einer Kirche … die Sterne schaun mit goldenen Augen durch. Ganz deutlich kann er nicht verstehen, was die Vögel in den Zweigen singen, er fühlt nur, wie etwas unsagbar Lindes, Tröstliches in die Bedrängnis seines Wesens fällt …

*

Schwester Brigitte steht versonnen. Der letzte Violinenton verzittert auf den Saiten.

Da zupft sie etwas.

»… Ja? …«

»Schwester Brigitte,« sagt die kleine Resi, »komm, dem fremden Mann ist schlecht.«

Jesus, der Kirschenhauer! Den hat die Schwester ganz vergessen. Längst müßte er oben sein. Es ist schon viel zu kalt für einen Kranken. Sie geht hinüber.

Der Josef Kirschenhauer lehnt auf seinem Sessel. Ganz klein ist er geworden. Der Kopf ist ihm auf die Brust gesunken. Verklärung liegt auf seinen Zügen.

Mit der frohen Botschaft in den Ohren ist er eingeschlafen.

Die Nacht fing an sich zu entfinstern. Eine graue Dämmerung überkroch den Horizont. Im Hause kreischte eine Angel. Die Magd mochte in den Stall gegangen sein. Uns fröstelte.

Ohne Verabredung, als wir die Schwelle unserer Nachtherberge überschritten hatten, wechselten wir, wie zu unausgesprochenem Gelöbnis, einen Händedruck. Dann traten wir den Rückweg an. Ein jeder in seine unbekannte Zukunft.