Von Fritz Barschdorff
Auf einem Neubau draußen in der Vorstadt herrschte tätiges Leben. Es klopfte und hämmerte in allerlei Tönen und Takten. Es scharrte und stampfte, krachte und knirschte.
»Ei–nen Jupp!!!« schrie ein Arbeiter, der mit mehreren andern einen großen eisernen Träger in die richtige Lage bringen wollte. Die Kraft aller Beteiligten schien bei dem Ausruf »Jupp« in einer mächtigen Welle zusammenzufluten, die den Träger erfaßte und ein gutes Stück von der Stelle rückte. Köpfe und Hände, Kelle und Meißel, Zollstab und Wasserwage, Schippe und Hacke arbeiteten mit an der Vollendung des Hauses.
Vor dem Bau stand ein mit Ziegelsteinen beladener Wagen. Von dem Wagen aus wurden die Steine bis auf die höchste Spitze des Baus getrieben. In langen Abständen, von Stockwerk zu Stockwerk, bildeten die Steinetreiber eine Kette und warfen sich die Steine zu. Der letzte der Kette schichtete die Steine neben sich auf. Fest standen sie mit den Beinen auf dem Boden, die Steinetreiber. Nur der Oberkörper und die schwingenden Arme waren in Tätigkeit. An den Händen steckten Leder, damit sich die Finger nicht an den rauhen, gebrannten Ziegelsteinen und deren scharfen Kanten rissen. Mit den Handledern fluschte es nur so. Als wäre der Schwung und die anzuwendende Kraft aufs feinste abgemessen, flog der Stein mit wunderbarer Genauigkeit, ohne sich auch nur ein wenig zu drehen oder zu neigen, in die Höhe. Jedem der Steinetreiber wurde so ein Stein vor die Hände gezaubert. Er griff einfach in die Luft – ein Schwung – der Stein flog den Weg der übrigen – und schon war der nächste wieder erschienen. Ganz selten passierte es, daß einer aus der Reihe tanzte, wirbelnd aneckte oder in der Luft zerbrach. Er bekam einen Klaps mit der Hand, daß er beiseite flog.
Wenn es Feierabend pfiff, marschierten die Steinetreiber in einer Kolonne ab. Barfuß waren sie und trugen die nun unbequemen Holzlatschen unter dem Arm. Weiße Maurerhosen, eine enganliegende blaue Strickjacke, Halstuch und Blaser (Ballonmütze) vervollständigten die Kleidung. Alle waren sie aufrechte, kernige, kraftvolle Gestalten. Und die Art, wie sie ihr Halstuch und ihre Blaser trugen, zeigte, daß sie Kerle waren, die wußten, »wo Boom wohnt«.
Wilhelm war der stärkste von ihnen. Er hatte einen mächtigen Nacken und eine mächtige Brust; konnte sich einen Ziegelstein auf die flache Hand legen und ihn durch eine Luke in die Decke facken, dem Obenstehenden zu. Oder er faßte den Stein mit zwei Fingern an seiner Schmalseite und schleuderte ihn in die Höhe, daß der Stein, sich fortwährend drehend, mit unfehlbarer Sicherheit durch die Luke in die Hände seines Kameraden gelangte.
Ehe sie in die erste Kneipe traten, sagte einer: »Bloß eens – –.« Das war so eine stehende Redensart. Und war zugleich wie ein guter Vorsatz, hinter dem aber ein leises Lachen steckte. Denn sie wußten genau, es wurde nicht »bloß eens«. Es ging von einer Kneipe in die andre, und jedesmal hieß es: »Bloß eens …«
Zwei nebeneinanderliegende Stuben bewohnten die Bier. Zwei Tischler, ein Schneider und Wilhelm. Gingen sie am Abend nicht aus, so spielten sie Karte, sangen, oder Wilhelm holte die Ziehharmonika hervor. Der Schneider war still und machte sich immer Beschäftigung. Die Kleidungsstücke der Drei wiesen keine Löcher oder fehlende Knöpfe auf. Er war ein Mensch, der um Gottes willen alles gütlich und friedlich um sich herum haben wollte. Er schlichtete, versöhnte, redete zum Guten und ermahnte den wilden, unbändigen Wilhelm. Der antwortete dann nur: »Daß nur uff, daß de deine Hosen richt’ch flickst«, und pfiff sich eins. Wilhelm hatte in einem Dorf in der Nähe ein Mädel sitzen mit einem Kind. Mitunter walkte er seine ganze Sehnsucht in die Ziehharmonika hinein. Die stöhnte dann sentimental, quietschte und schrie, und er nahm sich vor, kommenden Sonntag sein Mädel bestimmt zu besuchen …
»Bloß eens«, sagten die Kameraden am Sonnabend.
Und wenn Wilhelm Sonntagmorgens nach Hause kam, fidel und munter wie ein Fisch im Wasser, tanzte er in der Stube herum. Kitzelte die drei Schläfer. Zog ihnen die Bettdecke weg. Tatschte mit der Hand ins Waschbecken und den Schlafenden ins Gesicht. Die Muntergewordenen schimpften, sahen aber bald ein, daß es klüger war zu lachen. Denn in dem Wilhelm war in solchen Momenten alles Wilde und Rebellische erwacht und es konnte vorkommen, daß er kurzerhand das ganze Bett des Schimpfenden umkippte. Er wollte sich scheckig lachen, wenn der sich abmühte, das Bett wieder auf alle vier Füße zu stellen. Hatte er dann ausgeschlafen, und man hielt ihm vor, daß es doch keine Sache wäre, solchen Spektakel zu machen und andere im Schlafe zu stören, zog er ein saures Gesicht. Wenn er daran dachte, daß er ja hatte sein Mädel besuchen wollen, wurde sein Gesicht finster, und er sprach nicht.
»Bloß eens – – – – – – –.«
An einem Sonnabend, als er sich zum Gehen anschickte, kehrte er an der Stubentür wieder um. Ein paarmal ging er in der Stube hin und her, trat dann an den Tisch, besah sich lange sein Geld und tat es in eine kleine Schachtel. Der Schneider, der regen Anteil an ihm nahm, war aufmerksam geworden. »Ich will dir’s uffhebn«, sagte er entgegenkommend. »Na ja«, sagte Wilhelm zögernd und gab’s ihm.
In der Nacht schüttelte den Schneider jemand heftig. Der hatte friedlich geschlummert, und fuhr nun in die Höhe. Wilhelm stand vor ihm. »Gibb mei Geld her«, knurrte er. Der Schneider, der augenblicklich wach war, durchsuchte seinen Kopf nach einer Ausrede. »Ich hab’s uff de Sparkasse getragn«, antwortete er ängstlich wie ein Missetäter, der seine Sünden eingesteht. »Rück das Geld raus, sag ich dir.« Der Schneider sah wohl ein, daß er sich nicht weigern konnte, schlüpfte aus dem Bett, zog die Hosen an und tat, als suchte er das Geld.
Er hatte es nicht aufgegeben, auf Wilhelm in seinem Sinne einzuwirken, und gerade jetzt schien ihm die Gelegenheit dazu günstig, als daß er sie sich entgehen lassen sollte. Er fand die Stubentür offen und schlich hinaus. Wilhelm tappte in der dunklen Stube herum. »Wo haste dich hinverkrochen, Zwärnsfaden, elender?« brummte er, ein Streichholz anzündend. In der Stube war der Schneider nicht. Auf den Vorsaal hinausleuchtend, sah er den Schneider in der Türnische der Nebenwohnung kleben. Er packte ihn am Genick und zog ihn hervor. »Wenn du jetzt das Geld nich hergibbst – – du – –«. »Ich geb’s nich her«, trotzte der Schneider. »Was –! Was denkst denn du, was ich mit dir mache – –.« Der Schneider sank immer tiefer zusammen und zerrte mit beiden Händen an der Hand Wilhelms, die ihm wie eine Schraubzwinge im Genick saß. »Laß mich los«, schrie er. Wilhelm tat’s. Der Schneider ging zu seinem Reisekorb, schloß auf und legte geduckt das Geld auf den Tisch. Wilhelm machte eine drohende Miene, ließ das Geld in seine Hosentasche gleiten und ging. Die beiden Tischler, die längst aufgewacht waren, lagen noch lange wach, schimpften und philosophierten über so einen Menschen, der kein Maß und Ziel kenne …
Es war Sonntag vormittag und das Bett Wilhelms noch unberührt. Der Schneider flickte. Der eine Tischler putzte seine Sonntagsschuhe blitzblank und pfiff gefühlvoll. Der andere hatte einen zerbrochenen Handspiegel ans Fensterkreuz gelehnt und rasierte sich. Da kam Wilhelm. Keiner sprach ein Wort, und der Tischler hörte auf zu pfeifen. Wilhelm ging einigemal hin und her und sah, daß ihn die Drei nicht beachteten. Er wusch sich und setzte sich mit aufgekrempelten Hemdärmeln an den Tisch. Verschränkte seine kolossalen Arme, die zahlreiche Tätowierungen aufwiesen und stierte vor sich hin. Die anderen rüsteten sich zum Fortgehen. Als Wilhelm allein war, wurde ihm die Stille unerträglich. Er holte die Ziehharmonika und fing allerlei Lieder und Märsche an zu spielen, bis ganz krauses Zeug daraus wurde. Wie er einen Blick zum Fenster hinaus warf, bemerkte er gegenüber ein junges Mädchen. Sie war im Sonntagsstaat und sah zufrieden auf die Straße hinab. Er stand auf, daß der Stuhl umfiel. Mit voller Wucht warf er das Instrument auf den Schrank, wo es sonst zu liegen pflegte. Eine Staubwolke stieg auf, und eine Gipsfigur, die über die Verzierung des Schrankes herabschaute, bekam eins an den Kopf, daß sie zu Boden fiel und in tausend Stücke zersprang. Dann schmiß er sich aufs Bett und zog die Decke über den Kopf, daß man nichts mehr von ihm sah.
Schwitzend und schnarchend fanden ihn die Drei bei ihrer Rückkehr im Bett liegen. Er erwachte und frug, wie spät es sei. Nach und nach kamen sie ins Gespräch. Die Drei erzählten, wo sie gewesen, was sie gesehen und erlebt hatten, und einträchtig setzten sie sich an den Tisch, um zu essen. Brot – das in ein nasses Tuch gewickelt war, damit es nicht hart wurde – und was sonst noch an Wurst oder Käse in der Ofenröhre oder auf dem Fensterbrett aufzutreiben war – suchten sie hervor und ließen’s sich schmecken. Wilhelm schlug vor, einen Sauser zu machen. Sie könnten ja bei der Gelegenheit den Jahrmarkt mit umstoßen, der draußen auf der Wiese hinter der Sandgrube abgehalten wurde.
Zunächst ging’s in die Kneipe, wo sich die Steinetreiber zu treffen pflegten. Eine ganze Anzahl schloß sich ihnen an, und so marschierten sie auf den Jahrmarkt.
Eine Luftschaukel und eine Reitbahn mit den dazugehörigen Leierkasten waren dort. Ein kleiner Wanderzirkus und Buden mit nützlichem und unnützem Kram. Sie mischten sich sogleich unter den Trubel. Die Steinetreiber scherzten mit den vorbeikommenden Mädchen und umhalsten sie im Weitergehen. Die in der Luftschaukel fuhren, hatten ihren Kahn durch kräftiges Ziehen an dem Tau bald so weit, daß die Spitze des Kahns oben an das Zelttuch stieß …
Um einen Mann, der recht fremdländisch aussah, hatte sich viel Volk angesammelt. Tiefschwarzes Haar hatte er und Ohrringe. Wohl ein Italiener. Ein ganzes Bündel Luftballons hatte er an einem Faden um den Arm gebunden. Dünne Blättchen, die man zwischen Zunge und Gaumen klemmt, daß man wie eine Nachtigall zwitschern kann – verschrumpelte Häute mit einem Mundstück zum Aufblasen, so daß eine pralle, mit Luft gefüllte Wurst entsteht – und noch allerlei Schnurren verkaufte er. Vor sich hatte er einen Kasten, in dem ein bunter Papagei saß. Wenn der fremde Mann den Vogel mit ein paar Lauten seiner Muttersprache ermunterte, zog dieser mit seinem Hornschnabel aus einem Bündel Briefe einen davon heraus. Der kostete 10 Pfennige und enthielt Liebesbriefsteller, dazu ein Bild der oder des Zukünftigen. Deshalb stand auch besonders viel junges Volk um ihn herum.
Nun hatte der Italiener keinen festen Stand. Daher war er unter den Ausstellern und Ausschreiern nicht besonders beliebt, weil er die Aufmerksamkeit der Kauflustigen auf sich zu lenken verstand und glänzende Geschäfte machte. Der Menschenknäuel mitsamt dem Italiener wogte hin und her, und so war man in die Nähe einer alten Mutter gekommen, die neben einem schräggestellten Korb saß. Ihr Jüngster schrie unausgesetzt mit seiner Kinderstimme: »Drei Stück Fefferkuchen zehn Fennje!« Unmutig war er über den Mann mit seinem bunten Kram, dessen Zuschauer beinahe den Korb umzureißen drohten. Aufgestachelt durch die murrende Mutter, die noch keinen Pfennig eingenommen hatte, sah er das Fruchtlose seiner Anstrengungen ein und drängte sich resolut durch die Leute. Er tippte den Italiener auf den Arm und sagte, er möge doch ein Stück weitergehen. Der Italiener schien ihn nicht verstehen zu wollen, und der Knabe zeigte deshalb mit der Hand nach der Mitte des Platzes, wo noch Raum genug war. Sei es nun, daß in der Handbewegung des Knaben etwas Befehlendes lag – oder daß er sich genarrt glaubte – kurz, der Italiener nahm keine Notiz weiter von ihm. Der Junge war aber keineswegs gewillt, seine Sache so schnell verloren zu geben. Er stellte sich direkt vor dem Manne auf, hielt die Hände an den Mund und schrie mit der ganzen Kraft seiner Stimme: »Drei Stück Fefferkuchen zehn Fennje – drei Stück Fefferkuchen zehn Fennje –.«
Der Italiener ließ ihn einigemal gewähren. Dann nahm er rasch den langen Stock, der als Stütze des Kastens diente und schlug nach dem Knaben. Der bückte sich behende. Ein zweiter Schlag traf ihn aber. Er heulte laut auf und wollte, sich den Kopf haltend, flüchten. Das gelang ihm in dem Gedränge nicht gleich, und der erregte Italiener hieb weiter auf ihn ein. Er drängte sich mit Gewalt ins Freie, und die zurückweichende Menge warf den Korb mit den Pfefferkuchen um. Die Alte sprang von ihrem Feldstuhl auf, hob diesen in die Höhe und wollte mit wütenden Worten auf den Italiener los.
Da schob einer die gaffende Menge beiseite und pflanzte sich breit, die Mutter hinter sich, vor dem Italiener auf. »Du Schlawake mach dich mal nich so maus’g hier – sonst kannst du vielleicht mal ne richt’ge Abreibung erwischen!« rief er.
Wilhelm war’s.
Der aufgeregte Italiener hob blindwütig den Stock, um auch ihn zu schlagen. Der fing den Schlag mit dem vorgestreckten Unterarm auf. Ein Griff mit der andern Hand – ein Ruck – und der Stock war in seinem Besitz. Ihn übers Knie legen und zerbrechen – mit der abgebrochenen Hälfte in die Luftballons schlagen, daß die eingepreßte Luft mit einem Knall entwich; während andre Ballons die Gelegenheit benutzte, um frei und ungefesselt in der Luft zu segeln – das ging alles so rasch, bevor es die Umstehenden richtig gewahr wurden. Sie lachten schadenfroh und gafften den entfliehenden Ballons nach. Der Italiener streifte hastig den Tragriemen seines Kastens ab. Der Papagei hüpfte ängstlich drucksend am Boden. Der Italiener achtete nicht darauf. Ihm war der Haß in den Kopf gezuckt und hatte alle Vernunft verscheucht. Wilhelm hob den Korb der Alten auf, half dem Jungen die verstreuten Pfefferkuchen einsammeln und entfernte sich, die in dem Tumult verlorenen Freunde suchend.
Da erscholl ein vielstimmiger warnender Schrei. Wilhelm sah an seinem Kopf etwas Dunkles auftauchen. Ein Satz zur Seite. Das Messer des Italieners traf an den Kopf. Abgleitend schnitt es ein Stück des rechten Ohrs ab. Einen Atemzug lang standen sie sich gegenüber und prallten dann wie zwei fauchende Lokomotiven aufeinander. Schnell hatte sich ein Kreis um die beiden Kämpfenden geschlossen. Die wälzten sich auf dem Boden. Haßerfülltes Schnauben der zwei ebenbürtigen Gegner. Stampfen – Zähneknirschen und harte Schläge. Wo Wilhelm hinschlug, wuchs so leicht kein Gras mehr. Zuletzt lag der Italiener auf den Knien, hielt sich sein blutendes, zerschlagenes Gesicht und heulte in tierischen Lauten vor ohnmächtiger Wut, daß er seinem Gegner unterlegen, daß er der Besiegte war.
Die Kameraden verbanden Wilhelm den Kopf mit Taschentüchern, und alle zusammen verließen sie den Jahrmarkt. Er mußte alles noch einmal genau und ausführlich erzählen, und es gab ein lebhaftes Durcheinander von Fragen und Antworten, Lachen und Witzen. Es begann zu dunkeln. Von weitem sah man schon die zahllosen Lichter der Stadt. Mit ihren festen Schritten überholten sie umschlungene Pärchen, die gleich ihnen vom Jahrmarkt der Stadt zustrebten, und aus voller Kehle sangen sie das Lied:
»Immer wacker – immer wacker,mir sein Facker – mir sein Facker.Ju, ju, ju, huhuhuuu.Und brennt uns die Sonne in den Nacken,Mir lassen uns nicht verknacken,Mir sein Fa–a–cker.«
Aber nun hat Wilhelm ein verstümmeltes Ohr.